Pflegedienst in Mecklenburg-Vorpommern

Ein paar Minuten mehr fürs Reden und Zuhören

14:27 Minuten
Eine Pflegerin hilft einer alten Dame aus dem Bett auf. Im Gegenlicht sind nur die Konturen der beiden zu erkennen.
Ambulante Pflegedienste unterstützen in Mecklenburg-Vorpommern pflegende Angehörige. © dpa / picture alliance / Jens Kalaene
Von Silke Hasselmann · 11.03.2019
Audio herunterladen
Drei Viertel der Pflegebedürftigen in Mecklenburg-Vorpommern werden zu Hause betreut, auch mit Hilfe ambulanter Dienste. Viele der betreuten Menschen wünschen sich, die Pflegekräfte hätten auch mal Zeit für ein Gespräch. Aber das wird nicht vergütet.
Um 6.40 Uhr steuert Karin Kretschmar die erste Station ihrer Tour an. Wenig später parkt sie den kleinen schwarzblauen Dienst-Opel mit dem Schriftzug ihres ambulanten Pflegedienstes vor einem Einzelgehöft an der B 321 zwischen Schwerin und Parchim. Dort lebt Frau Lenzky.
"Frau Lenzky ist über 90 schon, knapp über 90, und ist mittlerweile seit 12 Jahren schon bei uns."
Schwester Karin weiß, wo sie den Haustürschlüssel finden kann und lässt sich ein. Frau Lenzky kann nach Schlaganfall und halbseitiger Lähmung längst nicht mehr allein aufstehen.
"Normalerweise ist ja der Sohn dabei. Aber der muss jetzt früh anfangen zu arbeiten. Der kümmert sich sonst immer rührig um sie. Den ganzen Tag."
Bevor sie zu der alten Dame in das kleine Zimmer mit dem Pflegebett geht, zieht sich Karin Kretschmar in der Küche einen weißen Kittel und Einweghandschuhe über. Ihr Blick fällt auf den Tisch, wo das Frühstück für Frau Lenzky bereit steht: in Häppchen geschnittene Käse- und Marmeladenstullen, Kiwis, Weintrauben, ein Pott Kaffee.

Karin Kretschmar und Brit Hofmann an einem Computer.
Karin Kretschmar und Brit Hofmann bieten ambulante Pflege in Pinnow an.© Deutschlandradio / Silke Hasselmann
"So, ich hol' mir jetzt das Wasser. Jetzt wasche ich Sie, ziehe Sie an und dann gibt es Frühstück. Haben Sie gut geschlafen, Frau Lenzky?"
Die 52-jährige gelernte Krankenschwester fährt das Pflegebett auf eine ihr genehme Höhe hoch, um Frau Lenzky von den Augen bis zu den Zehen zu waschen und einzucremen.
"Hallo, nicht erschrecken, Frau Lenzky. Jetzt geht's los. Einmal schön das Bein ausstrecken! Einmal anwinkeln, und wieder strecken! Anwinkeln, und wieder strecken!"

"Vier Mal am Tag kommen wir vorbei"

Dabei streut sie immer wieder kleine Übungen für die verkrampften Beine und Hände ein.
"Vier Mal am Tag kommen wir vorbei. Dreimal am Tag bekommt sie Mahlzeiten."
"Wie viel Zeit bleibt für Frau Lenzky?"
"Das könnte ich anhand der Leistungen ganz genau nachvollziehen. Aber letztendlich bleibt für jeden Patienten so viel Zeit, wie wir brauchen. Es soll sich ja ausgleichen. Für den einen Patienten brauche ich ein bisschen mehr Zeit, für den anderen weniger, obwohl er die gleichen Leistungen hat. Es kommt einfach auch auf die Eigenaktivität an: Was kann der Patient noch alleine? Bei Frau Lenzky würde ich mir manchmal wünschen, dass ich ein bisschen mehr Zeit habe. Weil: Sie muss bewegt werden."
"Einmal schön das Bein locker lassen, Frau Lenzky! Anwinkeln - das tut ihr natürlich weh - und wieder strecken! - Das ist auch körperlich für uns sehr anstrengend. Wenn man sie eine Woche gepflegt hat, merkst du das auch im Rücken."
Eine Viertelstunde später sitzt Frau Lenzky im Rollstuhl am Küchentisch. Karin Kretschmar hilft ihr, mit einer Gabel die Stullen- und Obsthappen aufzuspießen, beziehungsweise den Pott Kaffee in die Hände zu nehmen. Den Rest schafft die alte Dame heute allein.
Nebenher macht sich die Pinnower Pflegedienstchefin an die Dokumentation und zieht dafür einen dicken Ordner heran, der stets auf dem Küchentisch liegt. Darin: Das Aufnahmeblatt mit einer recht detaillierten Biografie und der umfangreichen Krankheitsgeschichte der Patientin.
Die wird ständig aktualisiert: Was kann der Patient? Was nicht mehr? Wie kann er sich verständlich machen? Was braucht er? Blutdruck, Blutzuckerspiegel - all diese Informationen schreibt sie bei der Aufnahme neuer Patienten in den Pflegeplan, der fortan bei jedem Besuch genau einzuhalten und gegebenenfalls zu ergänzen ist. Zeitraubend, aber:
"Das ist in völlig Ordnung, damit wir nicht alle anders arbeiten, damit die Schwester, die morgens kommt und krank wird am nächsten und die Schwester, die am nächsten Tag kommt, es genauso macht und nicht völlig anders So, Frau Lenzky, noch einen Schluck Kaffee. Der Blutzucker, der war 7,4."

Eigentlich ist weniger Zeit für die Patienten vorgesehen

Es gilt Blätter für die Medikamentengabe, Blätter für die Hilfe bei der Nahrungsaufnahme und jede Menge Protokolle auszufüllen, denn die Arbeit will bezahlt werden. Abgerechnet wird bei den zuständigen Krankenkassen, die den jeweiligen Leistungen einen bestimmten Zeitaufwand und Punktwert zumessen. Sie fordern nachvollziehbare Pflegeprotokolle, übrigens auch über vorbeugende und beratende Maßnahmen, die sie gar nicht vergüten.
"Das wird nicht bezahlt, und bei Frau Lenzky sind es viele Prophylaxen."
Etwa gegen Wundliegen, gegen Austrocknen, gegen die Verkürzung von Sehnen und Muskeln. Dazu kommen das Sturz-Protokoll, das Lage-Protokoll und Notizen über die Beratung des Sohnes in Sachen Bewegungsübungen, die ihrerseits exakt im Bericht ausformuliert werden müssen.
Als Schwester Karin alles erledigt hat und ihre Sachen zusammenpackt, ist eine knappe Stunde vergangen. Mehr Zeit, als es laut den Krankenkassenvorgaben wirtschaftlich für ihren Pflegedienst wäre. Die besagen:
"So eine große Morgentoilette komplett - also maximal 25 Minuten plus 5 Minuten Darm- und Blasenentleerung und Hilfe beim Verlassen des Bettes. Da komme ich gut auf 35 Minuten, und geben wir ihr natürlich noch über die Betreuungsleistungen das Frühstück. Dann haben wir noch mal eine Viertelstunde. Wir liegen ein bisschen drüber. Dafür holen wir das auf beim nächsten Patienten. Hoffe ich. Aber es kann immer was dazwischen kommen."
Unterwegs kommt nur der Anruf eines älteren Herrn dazwischen, der seinen pflegebedürftigen Vater gleich zum Spritzen in eine Arztpraxis bringen will und unsicher wegen der Überweisung ist. Karin Kretschmar weiß Bescheid und kann den Mann beruhigen.
Wenig später ist der Blutzuckerwert ihres nächsten Patienten rasch notiert. Mehr an Unterstützung braucht und will dieser 80-Jährige derzeit nicht vom Pflegedienst. Anders bei der nächsten Station.
Karin Kretschmar: "Guten Morgen, Frau Borchert!"
Hanna Borchert: "Ja, herzlich willkommen. Bitte setzen Sie sich. Ich hab' extra Frühstück noch nicht aufgedeckt, damit wir noch ein bisschen reden können ..."
Während ihr Ehemann im Bademantel und am Arm von Schwester Karin zur Morgentoilette schlurft, beginnt Hanna Borchert zu erzählen. Seit einem Jahr hätten sie allmorgendlich den Pflegedienst im Haus - laut Pflegeplan für 25 Minuten große Morgentoilette.
Peter Borchert ist an Morbus Parkinson erkrankt und wird deshalb immer steifer. Der großgewachsene Mann kann sich längst nicht mehr duschen und anziehen, und auch ihr fehle mittlerweile die Kraft zur Hilfe, zumal sie nachts nicht mehr durchschlafen könne, sagt die 72-Jährige. Sie müsse neuerdings ihrem Mann, der extrem unter unruhigen Beinen leide und ständig herumlaufen wolle, beim nächtlichen Aufstehen helfen.
"Dann gehe ich wieder hin. Dann nehme ich ihn aus dem Bett, damit er laufen kann. Dann laufe ich mit ihm. Dann braucht er frische Luft. Und jetzt kommt auch noch Neuropathie, so heißt das wohl, diese Krämpfe oben auf den Schenkeln! Er sagt immer: 'Wie Nadeln stechen sie mir das da rein.' Und dann schreit er. Jetzt hat er sich auch noch das Bein gebrochen. Das ist natürlich alles ein bisschen schwierig, aber wir stehen das durch. Ich gebe ihn nicht ab!"
Ein Pflegeheim komme jedenfalls nicht in Frage, meint Hanna Borchert, zumal Pflegeheime gerade in den dünnbesiedelten ländlichen Regionen von Mecklenburg-Vorpommern relativ rar gesät sind und oft recht weit vom Heimatdorf entfernt liegen.
Derzeit werden jedenfalls drei Viertel der über 91.000 registrierten pflegebedürftigen Senioren zu Hause von einem Angehörigen betreut. Nur in jedem zweiten dieser Fälle schaut auch ein Pflegedienst nach dem Rechten. Die Borcherts sind froh, letztlich doch Hilfe von Fremden zugelassen zu haben.
"Erst mal ist es ja ein Einschnitt ins Privatleben, sehr. Das hab' ich mir auch gut überlegt: 'Machst du es? Machst du es nicht?' Ich hab' gedacht: 'Ach, das schafft man alleine.' Aber es ist nicht, denn eine kleine Demenz kommt ja dann auch noch dazu. Und wenn ich das mache, sagt er manchmal 'Muss das sein?' oder ist sogar manchmal ein bisschen unhöflich dann. Und das macht er bei den Pflegeleuten nicht."
Heute ist Herr Borchert gut drauf, wie leicht zu erkennen ist, als ihn Schwester Karin geduscht aus dem Bad führt.
Peter Borchert: "Das funktioniert immer, und dass es den Pflegedienst gibt, das ist eine große Erleichterung."
Hanna Borchert: "Aber man spürt schon, wenn die 25 Minuten um sind, dass das dann zum Nächsten gehen muss. Aber schöner wäre es schon, wenn man sich vielleicht noch mal gemeinsam hinsetzt und sagt: 'Ist noch was, Herr Borchert? Könnte ich noch etwas für Sie tun? Wie war denn die Nacht?' Oder man vielleicht noch fünf bis zehn Minuten mehr hätte."
Peter Borchert: "Ja, bloß es ist ja nicht anders machbar. Das Ideal ist nicht bezahlbar."

"Man merkt nicht, dass sie auf die Uhr gucken"

Hanna Borchert: "Aber: Es wird mit uns nicht gehetzt! Wir haben trotzdem das Empfinden, wir werden vernünftig betreut, 'ne, Peter?"
Peter Borchert: "Man merkt nicht, dass sie auf die Uhr gucken."
20 Minuten und ein paar Fahrkilometer übers Land später steht Karin Kretschmar vor ihren letzten beiden Waschpatienten an diesem Morgen: dem Ehepaar Leitzke in Crivitz.
Kretschmar: "So, Frau Leitzke, wir beide legen los …"
Die 85-Jährige hat einen Schlaganfall durchgemacht, ihr Mann Magenkrebs überstanden. Seine Hände "wollen nicht mehr so", sagt der frühere Handwerker. Sie gehörten nicht zu jenen "alten Leuten, die ständig meckern", sondern seien "sehr froh, dass es diese Leute gibt", ergänzt Achim Leitzke noch und meint die sieben Mitarbeiterinnen des Ambulanten Pflegedienstes Kretschmar & Hoffmann aus Pinnow. Natürlich sei eine Rundumpflege nicht möglich, aber:
"Ich würde mir wünschen, wenn die Schwestern etwas mehr Zeit hätten, dass man auch mal ein Gespräch führen kann oder so, und das bleibt ja nun immer ein bisschen auf der Strecke. Klar, das ganze Minutensystem - das müsste nicht sein. Vor allem müssten sie besser bezahlt werden, damit sie mehr Leute einstellen können. Wir möchten das ja gerne bezahlen."
Karin Kretschmar: "So, fliegender Wechsel. Frau Leitzke, setzen Sie sich da hin?"
Frau Leitzke: "Ja."
Edith Leitzke hat sich einen roten Pullover mit feinen silbernen Fäden anziehen lassen. Um 10 Uhr holen die Kinder sie zum Geburtstag ab. Dass die weißhaarige Frau übers ganze Gesicht strahlt, hat aber noch einen anderen Grund.
"Schwester Karin - die könnte ich so drücken, ne. Die ist der Sonnenschein für mich. Nur - wie gesagt, einfach zu wenig Zeit. Nur eine Stunde! Was ist eine Stunde? Ist ja auch nix. Die können sich nicht sehr viel unterhalten, und ich bin so ein Mensch: Ich lache gerne, ich spreche gerne jetzt wieder."
Heute haben die Leitzkes Erfolg mit ihrem Angebot, sich doch noch auf einen Kaffee dazuzusetzen. Es dauert nicht lange, und es wird klar, warum so viele alte Menschen auf ein bisschen mehr Zeit zum Reden und auf ein offenes Ohr hoffen, wenn der Pflegedienst vorbeischaut. Sie jedenfalls werde seit etwa einem halben Jahr von Kindheitserinnerungen eingeholt, sagt Frau Leitzke,
"Ich habe gestaunt, dass das jetzt bei mir alles wieder kommt."
Lange hat Edith Leitzke verdrängt, was an ihrem elften Geburtstag geschehen war. Ihre Familie wurde damals aus der schlesischen Heimat vertrieben und landete 1946 unter schrecklichen Umständen in der Nähe von Schwerin.
Frau Leitzke: "Und da kamen die ganzen Häftlinge auf der Straße lang, aus dem KZ. Rechts und links die Russen. Und dann nachher unsere Soldaten, die sind in den Wald geflüchtet. Wie sie da gehangen haben. Haben sie aufgehängt. Erschlagen. Köpfe abgehauen. So nach und nach kommt wieder alles. Ich schrecke oft zusammen. Dann sitze ich im Bett oder mein Mann beruhigt mich dann."
Herr Leitzke: "Wir haben ja nun den Vorteil, dass wir noch zu zweit sind und uns austauschen können. Aber für Leute, die nur ganz alleine sind, ist das, glaube ich, ein bisschen sehr schwierig."

"Gespräch anbieten" als Kassenleistung

Kurz vor 11 Uhr: Karin Kretschmar kehrt ins Büro zurück. Auch ihre Geschäftspartnerin Brit Hoffmann hat den ersten Teil ihrer Tour erledigt. Drei andere Kolleginnen sind noch unterwegs.
Das Gespräch mit den Leitzkes wirkt noch nach, und Karin Kretschmar sagt, auch ihr tue es leid, wenn sie oder ihre Mitarbeiterinnen so oft gegen die Uhr pflegen müssen. Dabei fließt seit Januar mehr Geld ins System, weil der Pflegebeitrag um 0,5 Prozent erhöht wurde und auch der eine oder andere Punktwert in der ambulanten Pflege.
Die Steigerung könne aber nicht eins zu eins in eine bessere Bezahlung der Mitarbeiter fließen, weil sie die ebenfalls steigenden Kosten für Dienstautos, Sprit, Papier etc. mitauffangen müsse. Was könnte helfen, im Pflegebereich mehr Zeit für Menschlichkeit zu organisieren?
"Einfach eine Pauschale erfinden von einem oder zwei Euro pro Einsatz, die du nur nutzen kannst, um sitzen bleiben zu können beim Patienten und noch mal fragen zu können: `Wie geht´s Ihnen heute?'. Das macht man ja automatisch nebenbei. Bei der Pflege unterhält man sich ja auch. Aber einfach dem Patienten das Gefühl geben, ich hab´ jetzt noch mal zwei, drei Minuten Zeit für Sie."
Die Kassen könnten das so ähnlich machen wie unlängst mit dem Trinken, ergänzt die Pinnower Pflegedienstchefin: Schwerpflegebedürftigen beim Trinken zu helfen, sei seit kurzem ein zu vergütender Punkt.
"Also dem Patienten die Tasse in die Hand geben, dass er einmal trinken kann, während ich da bin. Dafür gibt es 1,11 Euro. Und da könnte es ja auch vielleicht einen Punkt geben für 'Betreuung/ Erzählen' oder weiß ich, wie man den nennt. 'Gesprächsführung' oder 'Gespräch anbieten'. Ja -`Gespräch anbieten`!"
Mehr zum Thema