Bevölkern oder abschieben
Die gegenwärtig dominante Festung-Europa-Mentalität prägt den politischen Umgang mit Migration © imago / Christian Ohde
Deutschland, Land der Bevölkerungsfanatiker
04:31 Minuten

Vom bevölkerungshungrigen Preußen bis zur Abschottungsdebatte der Gegenwart: Deutschlands Obsession mit „zu viel“ oder „zu wenig“ Menschen zieht sich durch die Jahrhunderte. Was einst die Kameralisten antrieb, zeigt sich heute in umgekehrter Form.
„Bevölkerungsfanatiker“ seien die frühneuzeitlichen „Kameralisten“ mit ihren Thesen zur „Peuplierung“ gewesen, stellte der Staatswissenschaftler Ludwig Elster schon 1924 fest. Ein gutes Jahrhundert später muss man sagen: Bevölkerungsfanatisch ist Deutschland geblieben. Gerne wird darüber gesprochen, wer rein darf und wer raus muss. Außer den Vorzeichen hat sich wenig geändert: Die Bevölkerungsfanatiker der Staatskunst im 17. und 18. Jahrhundert wollten mehr, mehr, mehr. Die heutigen Bevölkerungsfanatiker tendenziell rauswerfen, so viel es geht.
Deutschland hat nicht nur eine lange Tradition im Exkludieren von Fremden. Sondern auch im fröhlich-quantitativem Jonglieren von Menschenmaterial. Auch nicht besser? Sicher. Aber angesichts von Bevölkerungsschwund, Überalterung und Fachkräftemangel - da könnte man sich die Ideen zur Besiedelung der öden deutschen Ländereien vielleicht doch noch einmal genauer anschauen.
Arbeitskräfte anziehen
Nach dem Dreißigjährigen Krieg ist halb Deutschland unbevölkertes Brachland. Die Bevölkerung weiter Landstriche ist im Wortsinn ausgestorben: Von 16,5 Millionen auf 10,5 Millionen fiel die Zahl der Einwohner im zentralen Europa, schätzt man heute, um 40 Prozent ging sie auf dem Land zurück. Ein Trauma, das nach dem Westfälischen Frieden 1648 eine intensive Auseinandersetzung mit Bevölkerungsentwicklung auslöste.
Weil die ausgemergelte einheimische Bevölkerung kaum selbst in der Lage war, die wuchernden Wälder zu roden und Land wieder urbar zu machen, mussten die deutschen Territorien sich umschauen, wie sie frische Arbeitskräfte anzogen. Überbevölkerung, Versorgungsengpässe, Infrastruktur? Ganz egal: Ein Land mit Bevölkerungsmangel sei leichte Beute für die gierigen, wachsenden Nachbarn. Oder, wie ein Zeitgenosse formuliert: Derjenige Fürst sei der reichste, „der die mehresten Unterthanten unumschränkt beherrschet“.
Und die neuen Untertanen, sie kamen. Aber nicht einfach so. Sie musste angeworben werden. Im Zweifel also: anderen Ländern und Territorien abgeworben.
Und die neuen Untertanen, sie kamen. Aber nicht einfach so. Sie musste angeworben werden. Im Zweifel also: anderen Ländern und Territorien abgeworben.
Kaum Konflikte mit der neuen Bevölkerung
Auf die Hugenotten, französische Protestanten, die Ende des 17. Jahrhunderts im benachbarten Königreich massiv unter Druck gerieten, hagelte es Privilegien aus deutschen Landen: jahrelange Steuerfreiheit, Befreiung vom Militärdienst für mehrere Generationen, kostenloses Bauland und Baumaterial, freie Religionsausübung, eigene Gerichtsbarkeit. Konflikte mit der alteingesessenen Bevölkerung auf dem Land scheinen, auch durch die Separierung der Neubürger, kaum auszubrechen.
Keyn Mensch sey illegal? Ganz so weit geht es natürlich nicht. Aber von Preußenkönig Friedrich II. ist zumindest die Aussage überliefert, „wenn Türken und Heiden kämen und wollten das Land pöplieren, so wollen wir sie Moscheen und Kirchen bauen‟. Das wäre dem Staat zwei Jahrhunderte später im Umgang mit türkischen Gastarbeitern kaum eingefallen.
Wettbewerb um die Ressource Mensch
Der Wettbewerb um Einwanderer hat die Ideenwelt auf den deutschen Territorien liberalisiert, Bürgerrechte als Pull-Faktor nützlich gemacht. Am Ende war es aber gerade auch die Aufklärung, die der Peuplierung ein Ende setzte: Die Idee, dass Fürsten wie in Planspielen Menschenmassen über die Landkarte verschieben, war nach der Französischen Revolution ziemlich aus der Mode gekommen.
Die Toleranz, die Friedrich II. und andere im spätabsolutistischen Zeitalter vor sich hertrugen, war vor allem Propaganda, Staats-PR. Hinter der vermeintlichen Menschenfreundlichkeit stand ein harter Wettbewerb um die Ressource Mensch. Dass aber gegen die gegenwärtig dominante Festung-Europa-Mentalität noch jeder absolut regierende Landesfürst mit Puderperücke fast schon wie ein woker Linksextremist erscheinen muss, sollte heutigen Bevölkerungsfanatikern vielleicht doch zu denken geben.













