Petrovic vollendet die serbische Historie

Die Lücken in der jüngeren serbischen Geschichte füllt der Autor Goran Petrovic mit Erinnerungen an eine bürgerliche Zeit. Schauplatz seiner anekdotenhaften Erzählungen ist ein Kino in der Stadt Kraljevo, wo er wechselnde Protagonisten auftreten lässt.
Der Erzähler Goran Petrovic, Jahrgang 1961, stammt aus dem serbischen Städtchen Kraljevo, er lebt in Belgrad. Petrovic liebt seine Städte, er widmete ihnen Prosastücke voller Wehmut. Ein Belgrad-Roman aus dem Jahr 2000 wurde zum Bestseller. "Die Villa am Rande der Zeit" – ein Buch wie ein Gründerzeithaus, mit eisernem Lift, Säulen und Stuck und Nischen der Melancholie. "Und so schritt die Leere voran", hieß es in jenem Roman, "die Lücken häuften sich". Der Leser spürte: Dieser Erzähler will ankämpfen gegen die Lücken im heutigen Serbien, die Lücken im Geschichtsbild, im Gedächtnis.

Er füllt die Leere mit Erinnerungen an eine gutbürgerliche Zeit. Im neuen Roman kehrt der Erzähler zurück in die Stadt seiner Kindheit. Ein Kino in Kraljevo ist das Zentrum: Uranija. Es gehört zu einem Hotel: Jugoslavija - welch sprechender Name. Das Kino ist ein Saal mit prächtiger Stuckdecke, mit einem Weltall aus Gips: Sonne, Mond, Planeten, Sterne. Bei Petrovic wird dieses Kino – feste Größe in den Stürmen der Zeit – zu einer Zuflucht für die Träumer der Stadt. Unter diesem Sternenhimmel können sie ihre Illusionen hegen, ein Samtvorhang schützt vor dem Alltag.

Das Kino ist Kulisse für wechselnde Protagonisten. In einem langen Zug ziehen sie vorüber – Rudi Prohaska, ein Böhme, der das Kino gegründet hat, der Platzanweiser Simonoviæ und der Schneider Krasic, der Parteibonze Zwinkerer, Kriegsveteranen und Liebende, Zigeuner und Bettler und einmal sogar eine Reisegruppe aus der Sowjetunion. Anekdotenhaft berichtet Petroviæ aus den Biographien seiner Protagonisten, er macht eine Reise durch hundert Jahre.

Die Reise beginnt 1889 mit Prohaskas Geburt. Oder mit einer Fahrt jenes Rudi Prohaska nach Istanbul anno 1904: Rudis Vater führt dem Sultan Filme vor. 1939 öffnet das Kino in Kraljevo. Schreckliche Zeit, aber diese Schrecken streift der Autor eher beiläufig - Weltkrieg, Besetzung, Geiselnahmen, Racheakte beider Seite, KZ und Gulag. Krasiæ wird 1941 von den Deutschen erschossen, der Zwinkerer stirbt 1948, bevor er im Lager landet. Die Reise endet 1999, mit den NATO-Angriffen auf Serbien.

Der Wendepunkt für Kino und Kinogänger liegt da schon 19 Jahre zurück. Ein Maitag 1980, die Vorstellung fällt aus, denn Tito ist gestorben. Seit jenem Tag – so darf man Petroviæ verstehen – geht es bergab. Bergab mit jenem Jugoslavija, bergab auch mit dem Uranija. Der Vorhang schützt nicht mehr, die Farbe blättert, der Stuckhimmel bröckelt, platzt. Er platzt wie die Träume, die er einst provoziert hat. 1991 gehen die Lichter aus, das Kino wird Lagerraum, wird Einkaufspassage, billig, schäbig, was für ein Ende.

Goran Petrovic ist ein guter Erzähler, ein Autor der starken Metaphern, er entführt uns in fremde Zeiten und Welten. In Petrovics neuem Buch scheint das Erzählen aber Selbstzweck zu sein. Aus all den Geschichten erwächst keine Geschichte, die Figuren bleiben blaß. Seine Mission indes hat der Autor erfüllt: Er hat Lücken geschlossen, Lücken im Serbien-Bild.

Besprochen von Uwe Stolzmann

Goran Petrovic: Ein Sternenzelt aus Stuck. Träume und Hoffnungen
Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2013
200 Seiten, 14,90 Euro