Peter Stein: Tschechow ist Erfinder des "Gruppentheaters"

29.01.2010
Der Theaterregisseur Peter Stein hat den Dramatiker Anton Tschechow zu dessen 150. Geburtstag als Erfinder des "Gruppentheaters" gewürdigt. Bei Tschechow stehe nicht ein Held im Mittelpunkt, sondern das Beziehungsgeflecht einer Gruppe von Menschen, erklärte Stein.
Jürgen König: Peter Stein inszeniert seit über 40 Jahren an Theatern und Festspielhäusern in ganz Europa. Von ihm stammt der Satz: Jeder Regisseur muss alle fünf Jahre ein Tschechow-Stück inszenieren. Der russische Arzt, Erzähler, Dramatiker Anton Tschechow wurde heute vor 150 Jahren geboren. Peter Stein hat ihn immer wieder inszeniert, insbesondere den "Kirschgarten" und die "Drei Schwestern". Noch heute gerät so gut wie jeder ins Schwärmen, der sich an die Aufführung dieser Stücke in der Berliner Schaubühne in den 80er-Jahren erinnert. Peter Stein ist zurzeit in Moskau. Herr Stein, ich grüße Sie!

Peter Stein: Ich grüße Sie auch!

König: Sie waren eingeladen, beim Theaterfestival Tschechow in Moskau zu sprechen. Wie wird Anton Tschechow heute in Russland geehrt, gefeiert, in welche Maße wird er verehrt?

Stein: Tschechow ist seit vielen, vielen Jahrzehnten eigentlich der wichtigste Autor und am meisten gefeierte Autor, und das hat eine sehr zweischneidige Wirkung gehabt, denn unter Stalin wurde Tschechow als der Vertreter, der einzig richtige Vertreter des sozialistischen Realismus gepredigt und verlangt, dass er so aufgeführt wird, wie die Parteiführung es wollte. Und das hat natürlich den russischen Theaterleuten nicht sonderlich geholfen, sondern es wurde für sie eine zum Teil auch lästig empfundene Pflicht. Dennoch, auch nach dem Verfall der Sowjetunion, ist Tschechow nach wie vor ein Identifizierungspunkt, nicht nur der Theaterleute, sondern der ganzen Kunst liebenden russischen Gesellschaft. Und zwar hat das seinen Grund darin, dass Tschechow, der europäischste Vertreter der klassischen russischen Literatur, den Russen einen ganz rücksichtslosen Spiegel vorgehalten hat, gleichzeitig aber spüren die Russen ganz deutlich, dass es selbstverständlich ein Russe ist und Russland liebt und die russischen Menschen liebte. Und dementsprechend ist ganz klar, dass dieser Autor für die Russen der Inbegriff eigentlich der Autorschaft war. Sie müssen auch verstehen, dass die Russen ein Verhältnis zum Theater hatten wie früher in Deutschland. Das Theater wird als entscheidend wichtig angesehen, wird auch unterstützt von allen Seiten, vor allen Dingen auch von den neuen Russen, also von den Oligarchen, wie das auch schon zu Tschechows Zeiten der Fall war, und dementsprechend ist auch die Tendenz der Russen zur Verehrung sehr groß. Und diese Feiern anlässlich des Geburtstages, 150. Geburtstages von Tschechow, werden noch fortgeführt. Aber wie gesagt, diese Veranstaltungen haben auch einen zweischneidigen Charakter, weil eigentlich Tschechow jemand ist, der solche Öffentlichkeitsgeschichten, solchen Bombast von Worten und …

König: Gar nicht leiden konnte.

Stein: Nein, das mochte er gar nicht. Er ist eher ein sehr bescheidener Mensch gewesen, und ich habe auch der Versammlung gleich mitgeteilt – ich war der erste Sprecher –, dass Anton Tschechow sich als erster lustig gemacht hätte über die Veranstaltung, an der wir gerade alle teilnehmen.

König: Und wie hat das Publikum reagiert?

Stein: Ja, schmunzelnd.

König: Der "Focus" hat Sie mal zitiert, bei Tschechow lerne der Schauspieler das Herz des Theaters kennen, es sei die höchste Prüfung für jeden Schauspieler. Das Herz des Theaters, was ist das bei Tschechow?

Stein: Das Herz des Theaters ist, dass der Zuschauer dem Schauspieler nicht als ein Einzelwesen folgt, sondern dem Schauspieler als ein Gruppenwesen, das heißt, das Entscheidende der Tschechowschen Dramaturgie, die er neu erfunden hat, ist ja die des Gruppentheaters, so nenne ich das immer.

König: Er hat die Helden abgeschafft.

Stein: Nicht nur ein einziger Held, durch den sich alles bezieht mehr oder weniger, sondern eben das Beziehungsgeflecht zwischen einer Gruppe von Menschen. Das ist etwas, was natürlich dem 20. Jahrhundert viel mehr entsprochen hat als alle anderen Dramaturgien, zum Beispiel die von Ibsen, die nach wie vor eine konventionelle 19.-Jahrhundert-Dramaturgie war mit einer Geschichte um einen einzigen, wenn auch bürgerlichen Helden herum. Und das Entscheidende, was ein Schauspieler dann machen kann im Zusammenhang mit Tschechow, dass er auch seine Persönlichkeit, seine Eigenheit stärker einbringen kann als in anderen Stücken. Und dementsprechend, was er anstreben muss, ist das, dass er zusammen mit seinen anderen Kollegen auf der Bühne eine Situation schafft, dass die Menschen unten im Zuschauerraum annehmen, die Schauspieler dort oben, wie sie spielen, seien die Autoren des Stücks, dass sie dermaßen glaubwürdig sind, dass man das Gefühl hat, dass man mit dem Autor in Form der Schauspieler oben auf der Bühne kommunizieren kann. Das ist das große Ideal und die große Möglichkeit von Theater, die allerdings in neuerer Zeit vor allen Dingen von Regisseuren nicht unbedingt mehr gesucht wird, offensichtlich weil sie keine Schauspieler mehr lieben.

König: Dennoch sagen Sie, jeder Regisseur sollte alle fünf Jahre ein Tschechow-Stück inszenieren. Warum, was ist da zu lernen?

Stein: Es ist dort zu lernen erstens Mal, das, was ich jetzt gerade gesagt habe, der Regisseur ist ja nichts anderes als ein Begleiter der Schauspieler zumindest sehe ich das so. Und dementsprechend habe ich dieselbe Aufgabe wie die Schauspieler und dasselbe Profit von dem Autor wie die Schauspieler. Das heißt, dass ich versuchen muss, wahrhaftig zu werden, ganz und gar wahrhaftig zu werden, um eins zu werden mit dem, was ich darstellen möchte, was als Impuls natürlich von dem Autor kommt. Dazukommt, dass die Beschäftigung mit dem Tschechow zumindest bei mir immer etwas ausgelöst hat, was eigentlich mit Kunst gar nichts zu tun hat direkt, sondern es ist so: Wenn man sich mit Tschechow-Texten beschäftigt, die die Problematik des Lebens behandelt wie alle Theaterautoren das versuchen, wenn man das zusammen mit Tschechow tut, dann kommt plötzlich der Moment, wo man sich fragt: Moment, was machst du denn eigentlich selbst im Zusammenhang mit dieser Problematik, wie stehst du zu den Fragen der Gerechtigkeit, wie stehst du zu Fragen zu Lüge und Wahrheit, wie stehst du zu der Frage des Achtens auf den Nächsten? Und dieser ganz starke, ans Portepee gefasst sich fühlen im moralisch und auch politischen Sinne, geht von Tschechow aus, in einer Art und Weise, wie mir das mit keinem anderen Autor jemals passiert ist.

König: In Zeitungsartikeln fällt immer wieder dieser Begriff Tschechows Aktualität, und ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, ich mochte diesen Begriff nie im Zusammenhang mit Tschechow, Aktualität. Ich fand immer, das klingt abgeschmackt im Zusammenhang mit diesem feinen Geist, der feinen Psychologie der ja doch zeitlosen Geschichten Tschechows. Können Sie diese Abneigung verstehen?

Stein: Ja, das kann ich insofern verstehen, als mit der sogenannten Aktualität sich ja immer das Problem der Aktualisierung beschäftigt. Natürlich, schauen Sie, wenn Sie "Drei Schwestern" sich anschauen und dort die drei Schwestern – das ist ja ein sehr symbolisches Stück und gar nicht so sehr realistisch, wie man es immer gedacht hat –, das Vor sich Hertragen, das als Symbol, den Namen Moskau, als Inkarnation des Sehnsuchtsbegriffes, da wo man hin will, wo man aber nicht ist, wo man aber auch letzten Endes gar nicht hinkommen kann, weil diese Sehnsucht auch einen selbst in Moskau nicht verlassen würde. Wenn man das heute aktualisieren würde, würde man dort einfach im Internet eine Fahrkarte bestellen und dort hinfahren. Deswegen ist das sehr ungünstig, das zu tun, sondern das ist besser, es in der Zeit zu lassen, gerade um die Aktualität herauszuarbeiten, die Aktualität der unerfüllten Sehnsucht, nur die wächst von Tag zu Tag in unseren Gesellschaften, das wissen Sie ja nur zu gut. Aber um das auf der Bühne darstellen zu können und auch glaubhaft darstellen zu können, braucht man die Konvention der damaligen Zeit, wo eine Bewegung nach Moskau in der Tat eine große Unternehmung war, wenn man so weit entfernt in diesem riesigen russischen Reich in einer Provinzstadt lebte. Und diese Bedrohung durch die sogenannte Aktualisierung oder Modernisierung oder so etwas, durch Menschen, die keine Fantasie haben und sich nicht auf einen Autor wirklich einlassen können, das ist in der Tat eine Gefahr, die mit sich bringt, dass man den eigentlichen Wert und auch den Spaß an dem Autor und die eigentliche tiefe Aktualität dieser Theatertexte von dem Tschechow verliert.

König: In einem Brief Tschechows habe ich gelesen: Große Literatur, schreibt er, berge immer auch eine Idee vom Leben, wie es sein soll. Lässt sich heute von Tschechow lernen, wie das Leben sein soll, 150 Jahre nach seiner Geburt?

Stein: Ich würde es etwas genauer sagen: Wie das Leben sein sollte, aber niemals sein kann. Das ist ja der entscheidende Punkt. Tschechow beschreibt aufgrund der Erfindung dieses sogenannten Gruppentheaters die grundsätzliche, von vielen, vielen Punkten determinierte Realität unseres täglichen banalen Lebens als die eigentliche tragische Katastrophe. Es gelingt ihm mit seinen Darstellungsmitteln, die Erzählung, die Impulse der griechischen Tragödie auf die Moderne zu übertragen, indem er deutlich macht, dass das tägliche Leben, das wir leben, in welchen Bedingungen auch immer, genau das ist, was uns zerstört, was uns kaputt macht, natürlich auch ganz eindeutig, wie sage ich immer, das Atmen führt zum Tode. Und das Gefangensein in diesem Alltagsleben, in der Banalität des Alltagslebens, konfrontiert mit der Sehnsucht, darüber hinaus zu kommen, der Unfähigkeit, das auch tatsächlich zu erreichen, beschreibt die menschliche Existenz auf einer für das 20. Jahrhundert durchaus fassbaren und auch fürs 21. Jahrhundert durchaus fassbaren und sehr aktuellen Weise. Aber wie gesagt, das wird nur dadurch durchlässig, dass man Tschechow, dem Autor, das gibt, was er braucht. Das müssen nicht unbedingt riesige Dekorationen sein oder so etwas, aber es muss …

König: Die ja Karl-Ernst Herrmann für Sie auch gebaut hat.

Stein: Ja, selbstverständlich. Ich habe dann aber auch Versuche gemacht, eine einfachere Fassung zu machen, obwohl ich immer die Tendenz habe, dem Autor das zu geben, was er will. Aber das Entscheidende ist, dass man den eigentlichen Geist von Tschechow herausbekommen muss, und der ist ganz subtil und nicht grobianisch. Es ist ein leiser Autor, ein präzis analysierender und leiser und anatomisierender, aber leiser Autor, und wenn man den mit Gewalttätigkeit und mit patschigen Händen betastet, dann muss man sich nicht wundern, wenn man ihn nicht zu fassen kriegt.

König: Zu dem, was Sie eben gesagt haben, Herr Stein, passt sehr schön, was der Theaterkritiker Benjamin Henrichs mal in der "Zeit" schrieb: Es sei doch seltsam, während die Tschechow-Menschen immerzu weg wollen, möchten wir, die Tschechow-Zuschauer, immerzu bleiben, könnten gar nicht genug bekommen von diesen langweiligen Leuten auf der Bühne und ihren langweiligen Geschichten. Warum ist das so, warum wirken diese Tschechow-Menschen uns so vertraut und lieb, als ob sie zu einer, wie soll ich sagen, imaginären Großfamilie gehören?

Stein: Ja, seltsamerweise in guten Tschechow-Aufführungen werden diese Figuren zu Personen, in deren Gegenwart man gerne sein möchte, mit denen man gerne zusammen sein möchte. Nicht, dass man sie selber sein möchte, aber man möchte mit ihnen zusammen sein. Warum? Aus dem einfachen Grunde: Weil sie man Ende des Liedes, das heißt am Ende des Theaterstücks, bewiesen haben, dass sie mit dem Leben, so wie wir es auch kennen, in einer gewissen Weise fertig werden. Das heißt, fertig werden bedeutet, einzusehen, wie katastrophal und wie desaströs die menschliche Existenz verfasst ist und sie trotzdem zu lieben, trotzdem zu leben und auch zu lieben. Das ist derselbe Effekt, den man als Katharsis bezeichnet in der antiken Tragödie. Das ist das, was die Figuren attraktiv macht und Tschechow. Aber wie gesagt, ich wiederhole: Das funktioniert nur, wenn man die Tschechow-Figuren nicht als Kasperfiguren benutzt.

König: Sie sprechen, Herr Stein, wie ein Analytiker über Tschechow, aber auch wie ein Freund, wie über jemand, der Ihnen so vertraut geworden ist, als ob er auch zu Ihrer Familie zählte. Haben Sie das Gefühl, wenn ich das so fragen darf, ein Zeitgenosse Tschechows auch zu sein? Ein Wahlverwandter – das Wort fällt mir auch noch ein dazu?

Stein: Das hat schon der Thomas Mann festgestellt. Es ist seltsam, dass, wenn man an Tschechow denkt, man nicht das Gefühl hat, er wäre tot. Man hat das Gefühl, dass er noch lebt, komischerweise, obwohl er ja sehr, sehr jung gestorben ist. Auch ist seltsam, dass er den größten Teil seines Lebens im 19. Jahrhundert verbracht hat, von 1860 bis 1900, und trotzdem ein Autor des 20. Jahrhunderts ist – speziell was natürlich das Theater betrifft. Und das ist das Wunderbare – und natürlich, wenn man mit jemandem so viel und intensiv umgeht, wie ich die Chance hatte, das zu tun, stellt sich so etwas her, dass man denkt, es wäre ein Verwandter oder vielleicht ein Freund. Allerdings ein Freund, der einen auf das Heftigste kritisiert.

König: Heute vor 150 Jahren wurde Anton Tschechow geboren. Ein Gespräch, ja, mit einem Zeitgenossen, mit dem Regisseur Peter Stein. Herr Stein, ich danke Ihnen!

Stein: Ich danke Ihnen, auf Wiederschauen!