Peter Sloterdijk über Brüderlichkeit

„Der Sozialstaat ist die Honigpumpe der modernen Gesellschaft“

54:00 Minuten
Sloterdijk im Gespräch mit Avanessian in der Volksbühne.
Solidarität ist schön, macht aber viel Arbeit: Im dritten Gespräch unserer Wertedebatte betont Peter Sloterdijk, dass man für gesellschaftliche Ideale mit Ausdauer kämpfen muss. © Anke Beims
Moderation: Armen Avanessian und Simone Miller · 25.11.2018
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Schulden wir allen Menschen in gleichem Maße Solidarität? Wie hält es Peter Sloterdijk, der Philosoph des Trainings und der Selbstoptimierung, mit der Sorge um die Nächsten? Teil drei unserer Reihe über "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit".
"Souverän ist nicht, wer über den Ausnahmezustand verfügt", sagt Peter Sloterdijk, souverän ist, wer dafür sorgt, dass regelmäßig Geldströme in den Fiskus fließen." Zur Steuerhoheit hat der Philosoph seit langem ein angespanntes Verhältnis. In einem viel beachteten Essay bezeichnete er Besteuerung als "Staats-Kleptokratie". Mit seinem Vorschlag, Steuern in "Geschenke an die Allgemeinheit" umzuwandeln, löste er eine heftige Debatte aus. Ist der Sozialstaat in seinen Augen also nichts anderes als ein Ausbeuter der Besserverdienenden?
Im Gespräch mit Simone Miller und Armen Avanessian schlägt Sloterdijk andere Töne an. Mit einem Seitenblick auf den Künstler Joseph Beuys und seine Installation "Honigpumpe am Arbeitsplatz" aus dem Jahr 1977 deutet er die Geldströme des Sozialsystems in Wärmeströme um.

Solidarität durch Fernwärme

Sloterdijk: "Moderne Großgesellschaften müssen ja rechtlich, moralisch, menschlich so etwas wie Fernwärmesysteme einrichten, dass Menschen auch über große Entfernungen hinweg in Solidargemeinschaften existieren können. Und Beuys hat die Metapher der Wärme ersetzt durch die Vorstellung eines Süßigkeitskreislaufes. Das heißt, der Mensch braucht einen Platz in der Wabe beziehungsweise im Honigfluss. Der Sozialstaat, das ist die Honigpumpe der modernen Gesellschaft."
An drei Abenden im Roten Salon der Berliner Volksbühne reflektiert Peter Sloterdijk die Begriffe "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" – seit der Französischen Revolution drei prägende Leitideen der westlichen Zivilisation. Was bedeuten uns diese Werte heute? Lohnt es sich nach wie vor, für sie zu kämpfen? Stehen sie im Widerspruch zueinander, oder können sie, wenn überhaupt, nur alle zusammen verwirklicht werden?

Misstöne im Dreiklang der Werte

Die Revolutionäre von 1789 hörten den Dreiklang ihrer Ideale "als perfekten Akkord", meint Peter Sloterdijk, "während die etwas hellhörigeren Rezipienten immer gespürt haben, dass diese drei Begriffe unter sich dissonant klingen: Sie stehen in einem manifesten Widerspruchsverhältnis." Damit folgt Sloterdijk der weit verbreiteten Ansicht, dass Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sich gegenseitig begrenzen und sogar ausschließen können.
Gleichheit kann auf Kosten von Freiheit gehen, wenn sie, etwa im Namen des Kommunismus, zu Gleichmacherei wird. Freiheit kann auf Kosten der Schwächeren verwirklicht werden, wie es in einem Neoliberalismus ohne Schranken geschieht. Brüderlichkeit kann aus Sloterdijks Sicht in eine "exzessive Fiskalität gegenüber den produktiven Schichten der Gesellschaft" umschlagen.

Freiheit von Angst und bitterer Armut

Wie wäre "Brüderlichkeit" unter heutigen Verhältnissen überhaupt noch zu verstehen? Wie lässt sich Solidarität in einer modernen Gesellschaft begründen und verankern? Um Zusammenhalt zu gewährleisten, muss eine Gesellschaft wesentliche Freiheiten garantieren, betont Sloterdijk. Im Sinne der "Brüderlichkeit" komme es dabei vor allem auf zwei große "Schutz-Freiheiten" an: die Freiheit von materieller Not und, vielleicht wichtiger noch, die Freiheit von Furcht vor dem Mitmenschen.
Sloterdijk: "Nur die Freiheit von Furcht macht Demokratie möglich. So wie auch nur die Freiheit, Besseres zu erwarten als das Jetzige, die Zeitstruktur der Demokratie begründet: Wenn immer dasselbe Elend rhythmisch wiederkehrt, ist so etwas wie Demokratieerwartung illusorisch."
Peter Sloterdijk versteht Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gleichermaßen als "unendliche Aufgaben", mit denen man an kein Ende komme: Freiheit und Gleichheit können "nicht in einem Status Quo verfestigt werden", und Brüderlichkeit sei "nur in einem kategorischen Imperativ zu denken, als die unendliche Aufgabe der Rücksichtnahme."
Gleichzeitig stiften die drei Werte nach Sloterdijks Auffassung buchstäblich qua Geburt Zusammenhalt. Denn so skeptisch der Philosoph unsere Empathiefähigkeit als "Kleingruppengeschöpfe" in Bezug auf große gesellschaftliche Zusammenhänge einschätzt, in der Tatsache, dass wir alle in eine ungewisse Biographie hinein geboren werden, sieht er eine existenzielle soziale Bindekraft.

Allianz der "Lebensanfänger"

Sloterdijk: "Das Geborenwerden ist in der modernen Gesellschaft der tiefste Solidaritätsgrund, weil wir uns gemeinsam sozusagen als Lebensanfänger verstehen und aus diesem Anfängertum heraus nach Freiheit streben – nicht weil wir sie haben, sondern weil wir sie suchen – und nach Gleichheit streben, weil wir in die Gesellschaft nur eintreten können, indem wir die anderen als Gleiche betrachten."
Peter Sloterdijk stellt der Trias "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" einen weiteren Wert an die Seite: Die entscheidende Qualität, ohne welche die drei Leitbegriffe nach seinem Verständnis kraftlos bleiben würden, ist die "Belastbarkeit".
Sloterdijk: "All diese Werte gelten nicht, wenn niemand da ist, der fit genug ist, um sie seiner Lebensführung zugrunde zu legen. Ich glaube, diese drei großen Werte implizieren immer schon einen Anspruch, es mit belastbaren Menschen zu tun zu haben. Denn ohne Stärke, ohne Fitness, Kompetenz, Training, ohne Selbstsorge um die eigene Kraft und auch die gemeinsame Kraft bleibt es bei schönen Worten. Wir haben nicht nur die Pflicht, glücklich zu sein, wir haben auch die Pflicht, kräftig zu bleiben, ansonsten verstößt man gegen das Belastbarkeitsgebot und kann die anderen drei Aufforderungen nicht befolgen."
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