Peter Eötvös und die Musikfabrik beim Musikfest Berlin 2019

Kuss im Konjunktiv

Der Komponist und Dirigent Peter Eötvös
Musikalischer Kosmopolit: Der ungarische Komponist und Dirigent Peter Eötvös, Jahrgang 1944 © Musikfest Berlin / Klaus Rudolph
Moderation: Olaf Wilhelmer · 26.09.2019
Ein Marsch ohne Ziel, ein Rausch ohne Rückkehr, ein Kuss ohne Lippen: Nichts ist, wie es scheint in diesem ungarisch-japanischen Programm des Ensembles Musikfabrik. Der Komponist und Dirigent Peter Eötvös bricht mit den Kölner Musikern in ein fernöstliches Inselreich der Träume auf.
Hier gibt es den Marsch nicht als Zugabe, sondern als Ouvertüre. Es ist ein regelrechter Abmarsch, den Helmut Lachenmann vor kurzem in seinem Klavierstück "Marche fatale" komponiert hat – nur wohin dieser in Es-Dur stehende Marsch führt, das weiß niemand so genau. Vielleicht nach Japan? Dahin führt uns Lachenmanns anderes spätes Klavierstück, die "Berliner Kirschblüten". Ulrich Löffler hat diese ungewöhnlichen Äußerungen des Komponisten zum Auftakt eines Konzertes des Ensembles Musikfabrik interpretiert.

Musik mit Masken

Ein Programm des Musikfestes Berlin voller Aufbrüche ins Fremde, ein europäisch-japanischer Abend voller Irrungen und Wirrungen. Es geht um Illusion und Desillusionierung, um die Suche nach dem Eigenen im Anderen, um das Spiel mit Masken. Und es geht um die Faszination, die die japanische Musikkultur in Europa auslöst – ein Phänomen, das auch in dem großen Interesse mitschwingt, das hierzulande der Musik des japanischen Komponisten Toshio Hosokawa entgegengebracht wird. In seinen "Birds Fragments" hat Hosokawa die Mundorgel Sho aus der traditionellen Musik seiner Heimat mit europäischen Instrumenten zusammengebracht.

Tee mit Theater

Den umgekehrten Weg geht der Komponist Peter Eötvös in seinem Werk "Secret Kiss", das zu Beginn dieses Jahres uraufgeführt wurde. Es handelt sich hierbei um ein Melodram, um eine kurze Szene für fünf europäische Instrumente und eine Erzählerin, die in japanischer Sprache – im Stil des klassischen No-Theaters – von der unerfüllten Liebe eines nach Japan reisenden Franzosen berichtet. In der literarischen Vorlage, dem Roman "Seide" von Alessandro Barrico, gipfelt das diskrete Liebesabenteuer in einer Zeremonie: Der Mann reicht der bewunderten Frau seine Schale Tee. Die geheimnisvolle Schönheit setzt das Gefäß an genau der Stelle an, aus welcher der Mann zuvor getrunken hatte – ein interkultureller Kuss im Konjunktiv.

Sonate mit Sampler

Abschließend begibt sich die Musikfabrik über den Atlantik – "Bartók überquert den Ozean" heißt jedenfalls ein Satz der "Sonata per sei" von Peter Eötvös. Es ist ein einziger virtuoser Rausch, der in diesem Werk für zwei Klaviere, Sampler-Keyboard und drei Schlagzeuger entfesselt wird. In diesem Fall schweift der Blick nach Westen, denn das amerikanische Exil und das dort entstandene Spätwerk von Béla Bartók stellen eine Inspiration für diese ganz besondere Sonate dar.
Aufzeichnung aus dem Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie vom 8. September 2019
Helmut Lachenmann
"Marche fatale" für Klavier
"Berliner Kirschblüten" für Klavier
Toshio Hosokawa
"Birds Fragments II" für Shō und Percussion
Peter Eötvös
"Secret Kiss" für Nō-Darstellerin und Ensemble
Toshio Hosokawa
"Birds Fragments III" für Shō und Flöte
Peter Eötvös
"Sonata per sei" für zwei Klaviere, Sampler-Keyboard und drei Schlagzeuger

Ryoko Aoki, Nō-Darstellerin
Mayumi Miyata, Shō
Ulrich Löffler, Klavier
Helen Bledsoe, Flöte
Dirk Rothbrust, Schlagzeug
Musikfabrik
Leitung: Peter Eötvös

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