Perspektivwechsel

Eine Geschichte über Zufälle und Entscheidungen

Der Kopierer führt die drei Helden in Zehnders Roman zusammen
Der Kopierer führt die drei Helden in Zehnders Roman zusammen © dpa picture alliance / Patrick Seeger
Von Roland Krüger |
Zwei Männer, eine Frau, das ist die Konstellation einer fast schon klassisch zu nennenden Dreiecksgeschichte des Schweizer Autoren Christian Zehnder. Doch diese recht klare Konstellation birgt viele Rätsel, Überraschungen und Perspektiven.
Die Welt im Kino ist meistens übersichtlich. Filme erzählen Geschichten, die man beurteilen und auch weitererzählen kann. Christian Zehnders zweiter Roman, "Die Welt nach dem Kino", bietet diese Übersichtlichkeit nicht, und das ist ein Kompliment.
Der Autor erzählt vom ehemaligen Kinoplatzanweiser Lorenz, der nun in einem Kopierladen arbeitet. Er soll das Tagebuch von Jonas binden, einem Diplomaten, der eine Weile in Moskau gelebt hat, und er soll fünf Exemplare davon anfertigen. Eines davon jedoch behält Lorenz für sich, liest es aber nicht, sondern schenkt es der Studentin Iris, in die er sich verliebt hat.
Nach längerer Abwesenheit taucht Jonas wieder auf, lernt Iris kennen und entdeckt durch Zufall diese Kopie bei ihr. Das ist der Ausgangspunkt für eine Dreiecksgeschichte, die alle beteiligten Personen äußerst verwirrt - und den Leser ebenfalls.
Verbindungen und Abfolgen, die man sich erschließen muss
Wer das Buch nicht mag, wird sagen, dass es ähnliche Geschichten längst gibt und dem jungen Schweizer Autor keinesfalls etwas Neues eingefallen sei. Doch eine solche Beurteilung ist zu oberflächlich, denn der Roman erschließt sich dem Leser durch die raffinierte Gestaltung, die Christian Zehnder vollzogen hat.
Der Autor wechselt nicht nur die Perspektive, sondern verlässt geschickt die logische Zeitabfolge und regt den Leser dazu an, sich diese selbst herzuleiten. Wir können nur ahnen, wann der Diplomat in Moskau war und sein Tagebuch verfasst hat. Wir wissen nicht, wie alt die Protagonisten sind, noch, wo die Geschichte eigentlich spielt.
Die Episoden muten zunächst unzusammenhängend an - das Diplomaten-Tagebuch nimmt unkommentiert ein eigenes Kapitel ein, das ohne weitere Verbindungen zum Rest des Romans zu stehen scheint. Doch es gibt Verbindungen, die allerdings erst auf den zweiten Blick sichtbar werden. Jonas, der Diplomat und Tagebuchautor, fungiert als Bindeglied zwischen den übrigen Kapiteln, denn er ist ja ein Teil der Dreiecks-Konstellation.
Trotzdem ist es letztlich das Tagebuch, das alle Kapitel zusammenhält - logischerweise steht es präzise in der Mitte des Romans.
Inhaltlich steht dem Leser das Tagebuch zunächst näher als die Hauptfiguren im Buch, die es genauso lesen, wie es der Leser von Zehnders Roman tut. Diese Sichtweise verschiebt sich allerdings, je weiter man mit der Lektüre kommt. Es dauert eine Weile, aber man denkt sich mehr und mehr in die Hauptfiguren hinein und spiegelt deren Verhalten an dem der Tagebuch-Figuren. Auch da nämlich geht es um komplizierte Lebenskonstellationen, um die ständige Frage, ob Entscheidungen, die man im Leben fällt, auch die richtigen sind.
Seltsamerweise stört es nicht, dass der Roman keine Auflösung anbietet: Ob, wie und wie lange die Dreiecksgeschichte funktioniert - das sagt Zehnder nicht. Iris geht ins Kloster - wohl, um sich nicht entscheiden zu müssen, aber sie verlässt das Kloster auch wieder - vielleicht, weil sie sich entscheiden will? Oder bereits entschieden hat? Die Welt nach dem Kino ist eben alles andere als vorhersehbar. Man muss sich nur darauf einlassen.

Christian Zehnder: Die Welt nach dem Kino
Roman, 180 Seiten, Dtv premium, München 2014, 14,90 Euro

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