Perspektiven des digitalen Kapitalismus

Algorithmen für das Allgemeinwohl

39:06 Minuten
Illustration: Menschen gießen mehrere Bäume, in denen das Muster von Computerplatinen zu erkennen ist.
Klimafreundlich und digital: Wie finden diese beiden Zukunftsszenarien am besten zusammen? © imago / Ikon Images
Moderation: Stephanie Rohde · 03.10.2021
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Wie gelingt der Wandel zu einer nachhaltigen Lebensweise? Und welche Rolle spielen globale Internetkonzerne dabei? Die Philosophin Eva von Redecker und der Soziologe Philipp Staab diskutieren, wie Algorithmen dem Gemeinwohl dienen könnten.
Weltweite Herausforderungen wie der Klimawandel stellen die Politik vor gewaltige Aufgaben. Sie grenzüberschreitend zu lösen wird nicht gerade einfacher durch den Umstand, dass es gilt, dabei in einem Umfeld globalisierter Märkte zu agieren. Besonders auf dem Feld der digitalen Ökonomie beobachtet der Soziologe Philipp Staab eine folgenreiche Machtverschiebung.

Digitale Märkte in privater Hand

Globale Internetkonzerne wie Amazon, Apple oder Google seien weniger als klassische Markt-Akteure zu verstehen, vielmehr hätten diese Unternehmen selbst Märkte kreiert, deren Bedingungen sie kontrollieren, so Staab, der an der Berliner Humboldt-Universität zur Zukunft der Arbeit forscht.
Das Erfolgsrezept großer Internet-Player bestehe darin, Handelsmonopole zu errichten, sagt Staab. Das sei dieselbe Strategie, mit der absolutistische Staaten im Frühkapitalismus ihren Reichtum erzielten, etwa durch die Errichtung kolonialer Handelskompanien. Nur dass der Besitz der Monopole heute in privater Hand sei. Schaab spricht deshalb von einem "privatisierten Merkantilismus".
Diese Kontrolle digitaler Märkte durch wenige globale Konzerne, verbunden mit ihrem Zugriff auf große Mengen persönlicher Daten, führe nicht nur zu einer bedenklichen Konzentration ökonomischer Macht, sagt die Philosophin Eva von Redecker. Im gleichen Zuge wachse den betreffenden Unternehmen auch eine große politische und gesellschaftliche Macht zu, die sich demokratischer Kontrolle weitgehend entziehe.

Mangelnde Kontrolle globaler Akteure

Zwar sei die Politik durchaus bestrebt, die Macht der Internet-Unternehmen einzuhegen. Ob Versuche einer Regulierung jedoch Aussicht auf Erfolg hätten, erscheine ihr äußerst fraglich, so von Redecker, die an der Universität Verona zu Eigentum und sozialem Wandel forscht.
"Ich sehe nicht, dass wir die Steuerungsinstanzen und die politischen Institutionen haben, die das auf dem internationalen oder planetaren Maßstab tun könnten, den wir brauchen, weil die Firmen internationale Konglomerate sind und Staaten zum Teil in ihrer Verwaltung von den Datendienstleistungen weniger privater Unternehmen abhängig sind."
Philipp Staab, im weißen offenen Hemd und hellblauer Jacke, blickt freundlich in die Kamera. Im Hintergrund: die Frontscheibe eines Straßencafés, vor der Tische und Stühle in der Sonne stehen.
Digitale Marktlogiken auf gemeinnützige Ziele ausrichten: Darin erkennt der Soziologe Philipp Staab eine Chance.© Robert Poorten
Philipp Staab hält dem entgegen, dass der digitale Kapitalismus durchaus auch Chancen biete, die Analyse großer Datenmengen im Sinne des Gemeinwohls einzusetzen – etwa, um "zirkuläre Reformen des Wirtschaftens zu etablieren." Es sei zwar ein Irrglaube, dass Digitalisierung als solche geeignet wäre, die Klimakrise zu lösen. Dagegen spreche schon, dass der ökologische Fußabdruck dieser Technologien "gigantisch" sei, "so leicht eine Google-Suche auch wirken mag."

Ökologisches Marktdesign

Prinzipiell könnten die datenbasierten Steuerungsmöglichkeiten privatisierter Märkte jedoch auch für die Ziele einer nachhaltigen Ökonomie genutzt werden, "etwa im Kontext eines ökologischen Marktdesigns", so Staab. Eine Voraussetzung dafür wäre, dass statt personenbezogener Informationen zum Beispiel Umweltdaten oder Materialdaten gesammelt und ausgewertet würden.
"Wir können Smartphones heute zum Teil schon deswegen nicht reparieren, weil wir nicht wissen, welches Teil wo sitzt. Wir können Material aus Gebäuden nicht recyceln, weil wir nicht wissen, wo es verbaut ist. Die Dokumentation solcher Dinge würde es ermöglichen, genau so etwas zu machen."
Eva von Redecker, im schwarzen Pullover, hat den Kopf in die linke Hand gestützt und schaut freundlich in die Kamera.
Mehr Transformation wagen: Dafür plädiert die Philosophin Eva von Redecker.© Sophie Brand
Solche Ideen, den digitalen Kapitalismus zu zähmen und für einen ökologischen Wandel in Dienst zu nehmen, seien durchaus vielversprechend, meint Eva von Redecker. Sie würden aber eine "Entkopplung von der Profit-Orientierung" voraussetzen, und damit befänden wir uns im Grunde schon "in so etwas wie einem digitalen Sozialismus."

"Revolution für das Leben"

Wäre das eine realistische Utopie? Womöglich als Ziel einer "Revolution für das Leben", wie Eva von Redecker sie in ihrem gleichnamigen Buch skizziert? Zweifellos würde eine Sammlung großer Datenmengen in öffentlicher Hand ihrerseits Fragen der Legitimität durch demokratische Kontrolle aufwerfen, so die Philosophin, damit das Szenario nicht in eine "orwellsche Dystopie" kippe.
Andererseits verlange die gesellschaftliche Neuausrichtung auf eine nachhaltige Lebensweise, die wir jetzt zu leisten hätten, "einen sehr weitreichenden Wandel". Deshalb erscheine es ihr nicht übertrieben, von "Revolution" zu sprechen, das sei nun einmal der "der Maximalbegriff für Transformation", den wir in unserem kulturellen Erbe haben, sagt von Redecker.
"Und diesen Begriff möchte ich nicht bestimmten Staatsstreich- und Bürgerkriegsfantasien überlassen, sondern ihn eher neu und anders durchdenken – zum Beispiel als Paradigmenwechsel hin zu einer mehr regenerierenden Wirtschaft."
(fka)

Eva von Redecker: "Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen"
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2020
216 Seiten, 23 Euro
Philipp Staab: "Digitaler Kapitalismus. Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknappheit"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
345 Seiten, 18 Euro

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