Perspektiven auf Rio de Janeiro

Ganz oben, ganz unten

Der neue Hafen Praca Maua Cidade Olimpica
Der neue Hafen Praca Maua Cidade Olimpica in Rio de Janeiro © Deutschlandradio/Victoria Eglau
Von Victoria Eglau |
Während der sanierte Porto Maravilha ein Aushängeschild von Rio de Janeiro sein soll, stappeln sich nebenan die Abfallberge. Auf dem Morro da Providência befindet sich die erste Favela der Stadt. Viele Bewohner fühlen sich vom Fortschritt abgehängt. Einige fürchten sogar, dass ihr Viertel verschwinden soll.
Ein sonniger Nachmittag in Rio de Janeiro. Familien und Paare schlendern entspannt über einen weitläufigen, modernen Platz. Sie lächeln für Selfie-Fotos, die Kinder überqueren die Praça Mauá mit Fahrrädern, Skateboards und Rollschuhen. Clowns und Musiker unterhalten die Besucher, und vor den zwei imposanten Museumsbauten stehen lange Schlangen. Das KunstmuseumMuseu de Arte do Rio und das im vergangenen Dezember eröffnete Museu do Amanhã – Museum von Morgen – sind Publikumsmagneten.
Idyllisch der Blick auf die Guanabara-Bucht, anscheinend glückselig die Menschen, die im neuen Hafen-Viertel einen friedlichen Sonntagnachmittag verbringen – in Rio de Janeiro alles andere als eine Selbstverständlichkeit.
"An diesem Ort verschwinden unsere sozialen und wirtschaftlichen Probleme. Die Menschen leben hier den Augenblick und vergessen ihre Sorgen, sie sind glücklich. Die immense wirtschaftliche und politische Krise, die wir in Brasilien durchleben, ist hier nicht zu spüren."
Edson Ferreira da Silvaist Carioca, so werden die Einwohner von Rio de Janeiro genannt.Der große, schlanke Mann Anfang fünfzig mag diesen neuen Platz, mal kommt er allein, mal bringt er Touristen mit. Denn Ferreira da Silva ist Reiseführer. Er zeigt auf das futuristische Gebäude des Wissenschaftsmuseums Museu do Amanhã, entworfen vom spanischen Star-Architekten Santiago Calatrava. Wie ein riesiger, weißer Fisch ragt es in das Blau der Guanabara-Bucht hinein. Dann bleibt Edson Ferreira da Silvas Blick an einem vorbeifahrenden Kreuzfahrtschiff hängen.
Blick von unten auf die Favela Morro da Providencia
Drogen, Abfall, Gewalt - das gehört zum Alltag in der Favela Morro da Providencia© Deutschlandradio/Victoria Eglau
"Von diesem offenen Platz aus können wir auch die Kreuzfahrt-Dampfer beobachten, die dort drüben anlegen. Und wer mit dem Schiff nach Rio kommt, genießt bei der Einfahrt in die Bucht einen schönen Blick auf die Stadt. Dieser neugestaltete Platz wurde wirklich sehr gut angenommen von uns Cariocas."
Die Praça Mauá ist erst seit kurzem ein offener, dem Meer zugewandter Ort. Jahrzehntelang verunzierte eine stark befahrene Hochstraße, die Perimetral, den Platz und versperrte den Blick aus der Stadt in die Bucht. Doch 2013 ließ die Regierung von Rio de Janeiro die Hochstraße sprengen und verlegte den Verkehr in einen Tunnel. Der Abriss war Teil des Mega-Projekts der Hafen-Erneuerung, das den Namen Porto Maravilha bekam: "Wunder-Hafen”. Das echte Wunder ist für Ferreira da Silva aber die Tatsache, dass sich hier alle Cariocas – weiße, schwarze, arme, reiche, alte und junge – treffen.
"Dies ist ein inklusiver Ort, ein Ort für alle Stadtbewohner. Hier wird keiner diskriminiert, hier herrscht keine Segregation. In Brasilien geht es heute zu wie in Südafrika während der Apartheid. Aber dieser Platz ist eine Ausnahme, dieser Ort ist höchst demokratisch."
Der Wunderhafen von Rio de Janeiro liegt auf dem Asfalto, dem Asphalt – das ist ein Synonym für die Stadt. Außer demAsfalto gibt es in Rio noch die Favelas, die Armenviertel. Die befinden sich überwiegend auf den Hügeln der Metropole und sind quasi außerstädtische Gebiete. Auch in der Hafenregion gibt es einen Hügel mit einer Favela. Es ist die älteste von Rio und sie ist über Jahrzehnte in alle Richtungen verzweigt hinaufgewachsen. Aber auch unten, auf dem Asfalto der Hafen-Region, lebten immer schon vor allem arme Cariocas. Stadtentwickler Alberto Silva hat die Aufgabe, den alten und den modernisierten Hafen, die bisherigen und die neuen Bewohner irgendwie zusammenzubringen.
"Drei Viertel der Gebäude sind denkmalgeschützt. Unsere Aufgabe wird sein, alte Häuser zu restaurieren und neue Wohnkomplexe zu errichten. Die allermeisten Bewohner der Hafenregion sind Geringverdiener. Sie sollen hier wohnen bleiben und von den neuen Arbeitsmöglichkeiten im Viertel profitieren. Jobs und Gewerbe-Möglichkeiten werden zuerst der lokalen Bevölkerung angeboten. Das ist unsere Strategie, um Gentrifizierung zu vermeiden."
Wenige hundert Meter entfernt von der quirligen Praça Mauá, liegt das neue Bürogebäude der Gesellschaft für urbane Entwicklung der Hafenregion – es ist so neu, dass der Aufzug noch nicht funktioniert. Präsident Alberto Silva residiert im zweiten Stock. Er ist verantwortlich für die großangelegte Sanierung des alten Hafenviertels, die vor fünf Jahren begonnen und das Antlitz Rios verändert hat.
Der Stadtentwickler Alberto Silva in Rio de Janeiro
Der Stadtentwickler Alberto Silva in seinem Büro in Rio de Janeiro.© Deutschlandradio/Victoria Eglau
"Die Olympischen Spiele sind für uns eine Gelegenheit, dieses neue, bisher wenig bekannte Rio zu zeigen. Hier in der Hafenregion befindet sich ein großer Teil der Geschichte unserer Stadt. Wir haben einen Korridor geschaffen, der eine Vielzahl von Kulturstätten verbindet. Besucher, die bei Rio de Janeiro vor allem an den Zuckerhut, die Erlöser-Statue Cristo Redentorund den Copacabana-Strand denken, werden erleben, dass unsere Stadt noch viel mehr zu bieten hat."
Die Olympischen Spiele, die am 5. August beginnen, waren nicht der Anlass für den Bau des "Wunder-Hafens" – die Erneuerungs-Pläne reichen bis in die achtziger Jahre zurück. Aber die Austragung der Spiele habe geholfen, Finanzmittel für das Urbanisierungsprojekt zu bekommen, erklärt Alberto Silva. Er zeigt auf eine Karte des Sanierungs-Areals, die hinter seinem Schreibtisch an der Wand hängt – fünf Millionen Quadratmeter ist es groß.
"Dieser Teil des Hafens wurde nicht mehr benutzt. Unser Ziel ist, aus dem einstigen Industriegebiet eine Wohngegend zu machen. Die Idee ist, dass mehr Menschen hier im Zentrum von Rio leben. Die Innenstadt nicht nur als Ort zum Arbeiten, sondern auch als Ort zum Leben – als Ort mit Lebensqualität."
Und die Verbesserung der Lebensqualität soll alle erreichen. Das ist zumindest der Plan. Bevor der Startschuss für die Sanierung fiel, war der alte Hafen von Rio de Janeiro eine dunkle, heruntergekommene Gegend mit zwielichtigen Kneipen und blühender Prostitution – nicht anders als Hafenviertel in anderen Städten der Welt. Doch war dieser Stadtteil von Rio niemals verlassen – rund dreißigtausend Menschen lebten und leben immer noch hier –und wollen bleiben.
In der Mitte des Platzes Praça Mauá trommelt und tanzt selbstvergessen eine Gruppe junger Leute. Spaziergänger fotografieren die Bucht von Guanabara, in der sich links die Kräne des heutigen Industriehafens gegen den blauen Himmel abheben. Auf einer Bank sitzt Maurício Hora, neben ihm steht sein Fahrrad. Normalerweise hat auch Maurício die Kamera dabei, er ist Fotograf. Doch heute hat er frei und ist zur Entspannung auf die Praça Mauá gekommen – mit seinem kleinen Sohn, der nicht müde wird, kreuz und quer über den Platz zu radeln.
"Mir gefällt dieser Ort, ich bin nicht gegen die Hafen-Erneuerung. Ich kritisierte nur, dass man die Menschen, die hier leben, nicht in die Lage versetzt hat, von den Veränderungen zu profitieren. Das Problem ist, dass sich diese Gegend so schnellwandelt."
Maurício Hora meint: zu schnell für die arme Bevölkerung der Hafen-Region, der es an der nötigen Ausbildung fehlt, um qualifizierte Jobs zu bekommen.
"Natürlich sind die Erwartungen hoch, was die Schaffung neuer Jobs angeht. Aber die Leute aus der Gegend können nur in untergeordneten Positionen arbeiten, denn sie haben keine Gelegenheit gehabt, sich zu qualifizieren. Hier in der Hafen-Region gab es lange kein Gymnasium. Wir haben dafür gekämpft und vor drei Jahren wurde eine weiterführende Schule eröffnet, aber sie ist zu klein für alle Jugendlichen, die hier leben. Ohne Bildung bekommst du nur schlechte Jobs."
Cosme Felippson in Rio de Janeiro
Cosme Felippson - hinter ihm der Ausblick auf Rio de Janeiro.© Deutschlandradio/Victoria Eglau
Der Fotograf blickt durch seine eckige, schwarze Brille auf das Museu de Arte do Rio, das neue Kunstmuseum von Rio de Janeiro an der Praça Mauá. In dem restaurierten Stadtpalais mit modernem Anbau arbeitet ein Bekannter von ihm als Bürogehilfe.
"Aber keiner aus dieser Gegend hat einen Führungsposten im Museum, keiner hat einen technischen Job."
Der Ärger darüber ist Maurício Hora anzumerken. Er selbst ist in der Hafen-Region zuhause. Und er befürchtet genau das, was die Schöpfer des "Wunder-Hafens" Porto Maravilha unbedingt verhindern wollen: Gentrifizierung - eine Verdrängung der Einheimischen.
"Diese Gegend macht Fortschritte. Aber die heutige Bevölkerung wird der Entwicklung wahrscheinlich nicht standhalten. Wenn im Hafenviertel die Mieten steigen, werden viele der alteingesessenen Bewohner wegziehen müssen."
Maurício Hora wurde in der Favela Morro da Providência geboren, es ist die Favela, die zum Hafengebiet gehört. Der "Hügel der Vorsehung" – so der Name – ist mehr als hundert Jahre alt. Maurício ist vor einigen Jahren mit seiner Familie nach unten gezogen, auf den Asphalt – und damit sozial aufgestiegen. Anders als Cosme Felippsen, ein großer, kräftiger 27-Jähriger, der ein rotes T-Shirt mit der Aufschrift Turismo na Providência trägt. Cosme lebt und arbeitet in der Favela, er ist Touristenführer und zeigt Interessierten sein Viertel.
Doch groß ist die Nachfrage zurzeit nicht, denn die Favelas von Rio gelten wieder als gefährlich. Die vor acht Jahren begonnene Befriedung steckt fest, der Krieg zwischen Polizei und Drogenhändlern tobt vielerorts fast so heftig wie früher.
An der Metro-Station Central legt Cosme Felippson den Kopf in den Nacken und blickt hinauf in seine Favela: bunt und malerisch wirkt Morro da Providência aus der Ferne, so wie die meisten Favelas.
Neben dem Bahnhof befindet sich die Station des Teleférico, der vor zwei Jahren eingeweihten Seilbahn, mit der man auf den Hügel gelangt.
Seit es die Seilbahn gibt, fahren die meisten Favela-Bewohner nicht mehr mit den Kombi-Bussen rauf und runter, sondern nutzen den Teleférico – auch, weil er umsonst ist. Das könnte sich jedoch ändern - noch wird die Seilbahn von der Stadtregierung betrieben, doch bald soll sie von einer Privatfirma übernommen werden.
Nachdem eine Lautsprecher-Stimme gute Reise gewünscht hat, gleitet die moderne Gondel schnell und fast geräuschlos in die Höhe. Durch die großen Fenster sieht man den Hafen und das Zentrum von Rio de Janeiro innerhalb weniger Minuten aus der Vogelperspektive.
Auf dem Hügelangekommen, steigt Cosme Felippsen aus der Gondel und ist zuhause, hier ist er aufgewachsen und hier ist er geblieben. Der Morro da Providência ist weitgehend urbanisiert, die meisten Gassen sind asphaltiert. Die ein- bis zweistöckigen Häuser sind zum Teil verputzt und gestrichen und wirken solide, zum Teil sind es prekäre Unterkünfte aus nacktem Ziegelstein. An vielen Fassaden prangen bunte Graffitis. Rund 1.400 Häuser gibt es hier.
"Die Stadtregierung wollte 832 Häuser in unserer Favela abreißen, vor fünf Jahren war das. Es hatte damit zu tun, dass derMorro da Providência zur Hafen-Region gehört, die rundum erneuert wird. Und unser Viertel sollte in diesen Prozess mit einbezogen werden und sich um die Hälfte verkleinern. Aus Sicht der Stadtplaner war der Anblick der Favela wohl nicht schön genug."
Ein brasilianischer Soldat hält ein Maschinengewehr in der Hand - im Hintergrund ist ein Armenviertel von Rio de Janeiro zu sehen.
Nicht nur in der Favela am Hafen, auch anderswo in Rio ist der der Kampf gegen die Drogenmafia ein bestimmendes Thema.© dpa / picture alliance / Antonio Lacerd
Cosmes Blick verfinstert sich, als er an den Streit der Favela mit der Stadtregierung zurückdenkt. Eines Tages kamen Beamte auf den Hügel und markierten die Häuser, die verschwinden sollten. Die offizielle Begründung: die Unterkünfte befänden sich in gefährlicher Hanglage, das sei riskant für die Bewohner. Kaum einer glaubte den Stadtvertretern, dass dies der wahre Grund für die Abrisspläne war. Auf dem Morro da Providência formierte sich Widerstand.
"Wir Bewohner haben uns versammelt und eine Kommission gegründet. Wir zogen vor Gericht und erreichten 2012, dass der Abriss von Häusern gestoppt wurde. Zweihundert Unterkünfte waren bis zu diesem Zeitpunkt bereits demoliert worden. Leider ist das Abriss-Verbot nur vorläufig und könnte wieder aufgehoben werden."
Von der Endstation der Seilbahn führen ein paar Treppen aufwärts – zu einem kleinen Platz, an dem die winzige, weißgetünchte Kirche der Favela steht. Am Rande des Platzes quellen Abfalltonnen über – die Müllabfuhr scheint seit Tagen nicht vorbeigekommen zu sein. Vor einer Kneipe sitzen Männer mit Plastiklatschen. Eine Familie bereitet vor ihrem Haus einChurrasco zu, vom Grill weht der Fleischgeruch herüber. Noch etwas weiter oben befindet sich eine Aussichtsplattform – mit einem atemberaubenden Blick über die Stadt. Man sieht die Hafen-Anlagen, die Hochhäuser des Zentrums, und in der Ferne den Zuckerhut und die Cristo-Statue mit ihren ausgebreiteten Armen.
Lachende Kinder rennen vorbei, die Atmosphäre in der Favela wirkt dörflich - und schon im nächsten Moment bedrohlich. Ein junger Mann mit einem lässig umgehängten Gewehr sitzt am Straßenrand, vielleicht ist er ein Wachposten der Drogenmafia? Cosme Felippsen begrüßt ein paar finster dreinblickende Jugendliche.
Meine Neffen, raunt er beim Weitergehen, sie sind Dealer. Vor einem kleinen Kulturzentrum macht Cosme halt. Casa Amarelaheißt es – gelbes Haus. Drinnen hängen Bilder von Maurício Hora, dem Fotografen, der hier Kurse für junge Favela-Bewohner abhält, aber inzwischen unten auf dem Asfalto lebt. Doch zurzeit wird das Kulturzentrum renoviert. Inmitten von Farbeimern erzählt Cosme Felippsen die Geschichte des Morro da Providência, der ersten Favela von Rio de Janeiro:
"Nach der Abschaffung der Sklaverei in Brasilien im Jahr 1888 hatten viele ehemalige Sklaven keinen Ort zum Leben. In Rio ließ sich ein Teil von ihnen auf diesem Hügel nieder. Außerdem kamen entlassene Soldaten hierher, die in einem Krieg in Nord-Brasilien gekämpft hatten. Ihnen war Land versprochen worden – das sie nie bekommen haben. 1897 war das offizielle Gründungsjahr des Morro da Providência. Allerdings nannten die Bewohner die Siedlung damals Morro da Favela - Hügel der Favela. Favela, das war der Name einer Pflanze aus dem Norden Brasiliens. Seitdem heißen alle Armensiedlungen so."
Das melancholische Lied, das Cosme anstimmt, heißt Barracão de Zinco. Es handelt von den ärmlichen Zinkhütten der ersten Favelas von Rio de Janeiro. Zwar sind ihre Häuser heute nicht mehr aus Zink, doch Armutsenklaven sind die Favelas noch immer.
"Die Menschen aus den Favelas haben in dieser Stadt am wenigsten Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und Kultur. Die Regierung glaubt, dass wir nur eins brauchen: Polizei. Aber in Wahrheit benötigen wir Schulen, Kindergärten, Kanalisation, öffentliche Verkehrsmittel und Bürgerbeteiligung! Wir haben ein Recht auf öffentliche Anhörungen, um zu erfahren, was die Regierung mit uns vorhat. Für die Hafen-Sanierung gab es keine öffentliche Anhörung. Und für den Abriss von Häusern hier auf dem Morro da Providência auch nicht."
Cosme Felippsen ist darüber noch immer empört. Er glaubt sogar, dass die Stadtregierung es am liebsten hätte, wenn die Favela von dem Hügel in der Hafen-Region ganz verschwinden würde.
"Dort unten gibt es jetzt das Museum von Morgen, und das neue Kunstmuseum – diese ganze Verwandlung des Hafens. Und hier oben? Eine hässliche Favela mit armen Leuten. Wir Armen haben kein Recht auf eine schöne Aussicht. Wir Armen, Schwarzen sollen am besten in die Vororte verschwinden. Hier oben, auf dem Hügel, könnten dann zahlungskräftige Leute leben."
Zu Cosme Felippsens Vorfahren zählen Afrikaner, die in Brasilien versklavt wurden, aber auch ein deutscher Urgroßvater. Einer von Cosmes Brüdern gehörte der Drogenmafia an und wurde von der Polizei erschossen, als der Morro da Providência 2010 befriedet wurde. Doch Frieden herrscht in der Favela noch immer nicht. Erst vor kurzem sind bei einem Feuergefecht zwischen Polizisten und Dealern mehrere Menschen gestorben. Cosme Felippsen hat einen anderen Weg eingeschlagen als sein Bruder und seine Neffen: er hat Jura studiert – an einer Methodistischen Universität, von der er ein Stipendium bekam. Als Cosme Vater wurde, musste er das Studium abbrechen – doch bald will er es wieder aufnehmen.
"Ich bin am selben Ort aufgewachsen wie mein Bruder. Mein Bruder ist in den Drogenhandel eingestiegen und gestorben. Und ich, ich studiere und bin Touristenführer. Viele Leute fragen mich: Warum wohnst du immer noch in der Favela, aber bist kein Drogendealer? Ich sage ihnen, dass ich nicht der einzige bin, dass die große Mehrheit der Menschen aus der Favela arbeitet oder studiert. Es ist eine Minderheit, die zu Verbrechern wird."
Unten im neuen Hafenviertel an der Praça Mauá hat am Freitagabend das Museu de Arte do Rio seine Tore für Live-Musik und einen kulinarischen Markt geöffnet.
Im Eingangsbereich des Kunstmuseums spielt eine Band, ein paar Besucher tanzen, andere stehen in Grüppchen zusammen, plaudern, essen und trinken. Die Speisen, die an verschiedenen Ständen verkauft werden, sind der kühlen Jahreszeit angepasst.
"Ich bin Köchin und habe heute Kalbsfuß-Suppe, Grünkohl-Suppe und Erbensuppe im Angebot. Außerdem habe ich Mais-Kuchen und Maniok-Kuchen gebacken."
Juraci Vilela Gomes steht hinter einem Tisch mit drei großen Suppentöpfen. Die zierliche Afrobrasilianerin hat ein helles Tuch als Turban um ihren Kopf gewickelt. Juraci Vilela Gomes ist aus der nahegelegenen Favela mit der Seilbahn herunter gefahren, um im Museum Geschäfte zu machen. Oben betreibt sie ein kleines Restaurant.
"Seit 48 Jahren wohne ich auf dem Morro da Providência. An den Veranstaltungen im neuen Hafen-Viertel nehme ich gerne teil. Einmal im Monat werde ich eingeladen, hier unten mein Essen zu verkaufen. Beim Festival für Gastronomie und Kultur habe ich für meine Gnocchis mit Krabben-Sauce sogar den ersten Preis bekommen. – Ah, da kommt eine Freundin von mir, sie stammt aus Salvador da Bahía und macht Bohnenbällchen, die Acarajé heißen."
Herzlich umarmt Juraci Vilela Gomes ihre Freundin. Bevor sie sich wieder den hungrigen Besuchern zuwendet, die vor ihrem Stand Schlange stehen, sagt sie lächelnd:
"Ich verkaufe wirklich gut bei den Events im Hafen. Das ist toll für mich. Meine Tochter nimmt auch teil, sie hat einen Stand mit Getränken."
Zwei Gewinnerinnen der Stadterneuerung, die mit Erfolg zwischen oben und unten pendeln – sie könnten als Vorzeigebeispiele gebraucht werden. Denn der Vorwurf, dass die Armen, die mehrheitlich schwarz sind, nichts vom Kuchen abbekommen werden, steht im Raum – und wirft einen Schatten über das Projekt des "Wunder-Hafens".
Ein paar Minuten Fußweg vom Kunstmuseum entfernt feiern Brasilianer und Touristen eine Open Air-Party. Sie hören Samba-Musik und trinken Bier oder Caipirinha. Jeden Freitag- und Montagabend findet die Samba-Fete an der Pedra do Sal statt.
Pedra do Sal heißt übersetzt "Salz-Stein". Tatsächlich handelt es sich um einen riesigen Granitblock am Fuße eines Hügels. Sklaven mussten einst mehr als hundert Stufen in den Stein schlagen, um das Salz, das im Hafen von Rio ankam, hinaufzutragen – zu den Depots auf dem Hügel. Die Pedra do Sal ist ein symbolträchtiger Ort. Er erinnert daran, dass die Geschichte des Hafens von Rio de Janeiro untrennbar mit der Geschichte der Sklaverei in Brasilien verknüpft ist. Mehr als zwei Millionen Menschen, die Sklavenhändler aus ihrer afrikanischen Heimat verschleppten, landeten hier.
"In diesem Teil des Hafens, der als Pequena África, als Klein-Afrika bekannt ist, kamen die Menschen an. An der Pedra do Salbefand sich ein Sklavenmarkt. Später wurde der Salz-Steinein Treffpunkt für die Schwarzen. Nach dem Ende der Sklaverei versammelten sie sich hier, tanzten den Trommeltanz Jongo und den Kampftanz Capoeira, und machten Samba-Musik. Hier, an der Pedra do Sal, fanden die ersten Samba-Runden statt."
Fernando Luiz, genannt Nando, hat ein Haus direkt an der Pedra do Sal – ein kleines Zentrum der afrobrasilianischen Kultur. Auf Nandos Terrasse setzen befreundete Musiker die Tradition der Roda de Samba, der Samba-Runde, fort.
"Hier sind meine Wurzeln – die Wurzeln meiner Sklaven-Vergangenheit. Denn wahrscheinlich gingen meine Vorfahren hier, im Hafen von Rio, an Land. Dies ist ein Ort des Leidens. Aber unsere Musik, die Musik der Schwarzen, verbreitet Fröhlichkeit. DiePedra do Sal ist ein Ort des Widerstands, ein heiliger Ort. Es wäre gut, wenn mehr Leute das wüssten. Doch die meisten Brasilianer interessiert das nicht. Denn wenn die Gesellschaft diesen Ort als Symbol des schwarzen Widerstands anerkennen würde, müsste sie darüber nachdenken, wie sie uns für die Versklavung entschädigt."
Juraci Vilela Gomes (links), Köchin aus der Favela Morro da Providencia, mit ihrer Freundin.
Juraci Vilela Gomes (links), Köchin aus der Favela Morro da Providencia, mit ihrer Freundin.© Deutschlandradio/Victoria Eglau
Die Folgen dieser Versklavung reichen bis in die Gegenwart, sagt Fernando Luiz. Bis heute sind Schwarze Menschen zweiter Klasse in Brasilien. Das empfindet nicht nur Nando so, sondern viele Afrobrasilianer.
In Rios Hafen-Gegend leben bis heute die Nachfahren von Sklaven. Im Hafen fanden sie einst Arbeit. Von der Erneuerung und Verschönerung des Viertels profitieren seine heutigen Bewohner nicht, glaubt Fernando Luiz.
"Davon haben die Immobilien-Spekulanten etwas, die Unternehmer. Aber nicht die Leute, die schon immer in der Hafen-Region gewohnt haben."
Die Stadtentwickler rund um Alberto Silva sehen das anders. Gerade fährt Rios neue Straßenbahn am Büro vorbei. Sie durchquert das Stadtzentrum und den sanierten Hafen, und soll bald den Inlandflughafen mit dem zentralen Busbahnhof verbinden.
Bei der Einstellung des Bahn-Personals seien Leute aus dem Viertel bevorzugt worden, versichert Alberto Silva, Präsident derGesellschaft für urbane Entwicklung der Hafen-Region. Silva ist kein zupackender Ingenieur, sondern ein zurückhaltender Soziologe. Er betont noch einmal: Porto Maravilha soll nicht zu Gentrifizierung führen, die lokale Bevölkerung soll bleiben.
"Manche Kritik an unserem Projekt ist ziemlich übereilt. Tatsache ist, dass viele Bewohner heute bessere Job-Möglichkeiten haben und dass die städtischen Dienstleistungen in der Region besser geworden sind. Und, wir werden dafür sorgen, dass die Menschen hier wohnen bleiben können."
Die Nachbarn sollen entweder in ihren bisherigen Unterkünften bleiben oder in neuen Sozialwohnungen leben, erklärt Alberto Silva. Aber noch gibt es keine Sozialwohnungen in ausreichender Zahl – das Projekt Porto Maravilha ist auf dreißig Jahre angelegt. Dennoch sollte die Hälfte der Häuser der Favela Morro da Providência bereits abgerissen werden. Nur der Widerstand der Bewohner hat das verhindert. Wie rechtfertigt der Hafen-Planer die ursprünglichen Abrisspläne? Silva bleibt bei der offiziellen Version: Die Häuser seien unsicher, ihre Bewohner lebten gefährlich.
"Wir haben einen Plan für sozialen Wohnungsbau in der Hafen-Region entworfen. Es sollen sogar einkommensschwache Familien hierherziehen, die bisher weit weg wohnen. Im Hafen und im Zentrum sind vierzig Prozent der Jobs von Rio angesiedelt. Es wäre wichtig, dass mehr Menschen in der Nähe ihrer Arbeit leben können."
Eine Utopie, finden die Kritiker. Eine Schönfärberei, die Favela-Bewohner.
Und doch: auf der Praça Mauá scheint die Vison einer "Stadt für alle” nicht völlig utopisch: mehrere Schulklassen haben den weitläufigen Platz in Beschlag genommen. Aufgekratzte Jungen und Mädchen aller Hautfarben klettern in leuchtend blauen Uniformen auf großen Buchstaben herum. Die bilden zwei Worte in weiß: Cidade Olímpica: Olympia-Stadt.
Victoria Eglau: "Ich lebe schon lange in Lateinamerika und erlebe die krassen sozialen Gegensätze jeden Tag. Aber Rio ist besonders, ich glaube nirgendwo liegen arm und reich, schön und hässlich so nah beieinander. Das hat mich zuweilen verstört. Das für Olympia aufgeputzte Hafen-Viertel soll eine Art Oase für alle sein. Es ist ein wirklich heiterer Ort. Aber es ist auch nachvollziehbar, dass die alteingesessenen Bewohner, darunter viele Nachfahren der Sklaven, fürchten, verdrängt zu werden."
Die Journalistin Victoria Eglau
Die Journalistin Victoria Eglau© Deutschlandradio/Victoria Eglau
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