Jule Specht: Charakterfrage - Wer wir sind und wie wir uns verändern
Rowohlt, Berlin 2018
256 Seiten, 14,99 Euro
Mit 30 ist noch nicht Schluss

Mit 30 Jahren ist der Mensch ausgereift - diese landläufige Ansicht widerlegt die Psychologin Jule Specht in ihrem neuen Buch. Ihr Befund: Zwischen 65 und 70 kann sich die Persönlichkeit noch einmal stark verändern.
"Ihr werdet euch noch wundern, wenn ich erst Rentner bin. Sobald der Stress vorbei ist, dann lang ich nämlich hin", sang Udo Jürgens - und dass das Leben mit 66 eigentlich erst anfängt.
Den Bruch mit Gewohnheiten und das Verlassen alter Pfade, die Jürgens in seinem Hit beschwörte, hat offenbar auch Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung der Mittsechziger. Denn die verändern sich oft stark, wie die Psychologin Jule Specht herausgefunden hat.
Bisher ging man eigentlich davon aus, dass der Mensch bis 30 in seiner Persönlichkeit ausreift - und dann nicht mehr viel passiert. Das ist offenbar ein Trugschluss. Sicher ist: Bis zum Alter von 30 Jahren stabilisiert sich die Persönlichkeit. Dann kehre eine Phase der Ruhe ein, sagte die Berliner Psychologieprofessorin im Deutschlandfunk Kultur.
Ähnlich variabel wie das junge Erwachsenenalter
Im mittleren Erwachsenenalter würden dann weniger Persönlichkeitsveränderungen beobachtet. Aber "dann geht es im hohen Alter aber noch mal so richtig los", betonte Specht.
Es beginne eine Phase, die "ähnlich variabel ist wie das junge Erwachsenenalter, in dem wir intuitiv gut nachvollziehen können, dass da so viel passiert und sich die Persönlichkeit so stark verändert. Das scheint im hohen Alter genauso zu sein."
Rentner zeigen also eine "vergleichsweise hohe Variabilität in ihrer Persönlichkeit". Denn viele "definieren sich noch mal um". Sie könnten nach dem Ende des Berufslebens noch mal überlegen, womit sie den Alltag füllen wollen - und neue Dinge an sich und der Welt entdecken. Das führe dann eben auch zu Veränderungen der Persönlichkeiten.
Bewerten will Specht das nicht. Persönlichkeitsveränderungen seien weder ein Nachteil noch ein Problem, sagte sie. Und man könne auch nicht sagen, dass eine Person, die sich noch einmal ändere, besser dran sei als jemand der so bleibe, wie er ist.
An der Geburt eines Kindes reift man offenbar nicht
Interessant ist auch eine andere These, die Specht aufgestellt hat: Demnach haben Arbeit und Karriere mehr Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung als die Gründung einer Familie.
"Das hat uns tatsächlich sehr überrascht", so Specht. Durch die Arbeit reife die Persönlichkeit von Menschen und entwickele sich in eine Richtung, die als "sozial adaptiv" gelte. Ähnliches sei zum Beispiel bei der Familiengründung und der Geburt eines Kindes nicht zu beobachten. "Eigentlich haben wir doch das Gefühl, dass das ein Ereignis ist, an dem wir total reifen", sagte Specht.
Allein: Die Daten bestätigen das nicht. (ahe)