Percival Everett: „Erschütterung“

Ein Professor kämpft gegen moderne Sklaverei

06:36 Minuten
Das Cover von Percival Everetts "Erschütterung" zeigt eine Schwarz-Weiß-Fotografie von zwei Händen, die sich aneinander halten.
© Hanser Verlag

Percival Everett

Übersetzt von Nikolaus Stingl

ErschütterungHanser, München 2022

284 Seiten

23,00 Euro

Von Ursula März · 03.02.2022
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Ein Schicksalsschlag stürzt Zach Wells in Verzweiflung. An seinem Job als Professor hängt er schon lange nicht mehr. Doch eine kleine, handschriftliche Notiz lässt ihn um das Leben anderer kämpfen.
Die amerikanische Literatur hat ein spezielles Genre hervorgebracht, man könnte es den Professorenroman nennen. In der Regel illustriert er eine gegenläufige Bewegung: Mit dem Aufstieg in der akademischen Hierarchie sinkt der wissenschaftliche und pädagogische Idealismus.
Auch Professor Zach Wells, der Ich-Erzähler von Percival Everetts Roman „Erschütterung“, leidet an Ermüdung und Frustration. Er ist Paläontologe an einer kalifornischen Universität, er hat an seiner Ehe so wenig Interesse wie an der Kampagne seiner Kollegen, mehr schwarze Professoren einzustellen, obwohl er selbst einer ist. Er hat sich eine zynische Kühle zugelegt, die als Panzer gegen die Gefahr einer Lebenskrise dient. Aber der Panzer zerbricht. Und die Krise, die ihn heimsucht und zu Boden wirft, ist die schlimmstmögliche.

Unheilbar kranke Tochter

Das Einzige, was für Zach Wells von wirklicher Bedeutung ist, das Einzige, was er rückhaltlos liebt, wird ihm genommen: Seine dreizehnjährige Tochter Sarah. Sie leidet an einer unheilbaren genetischen Krankheit, ihre Lebenserwartung ist grausam kurz.
Der Tod des eigenen Kindes ist nicht nur ein Schicksalsschlag, von dem Eltern sich kaum je erholen. Er wirkt darüber hinaus wie der Verstoß gegen ein Naturgesetz, wie ein Fehler im Schöpfungsplan. Er erschüttert den Glauben an das Leben in einem elementaren Sinn.

Ein mysteriöser Hilferuf

Es gelingt Percival Everett, mit keinem Satz ins Pathetische oder gar Sentimentale abzugleiten und dennoch die nahezu metaphysische Dimension des Dramas anschaulich zu machen.
Zufällig bestellt Zach Wells in den Tagen, als er die ersten Symptome und Verhaltensstörungen an Sarah bemerkt, im Internet eine Second-Hand-Jacke. Als er in ihre Tasche greift, findet er einen kleinen Zettel mit einer mysteriösen Botschaft in spanischer Sprache. Sie lautet: „Help me“. Handelt es sich um einen Witz? Oder um einen ernst gemeinten Hilferuf? Und wenn ja, von wem kann er stammen?

Nachforschungen in New Mexico

Je mehr sich der Zustand seiner Tochter verschlimmert, je näher ihr Tod rückt, desto stärker wird bei Zach Wells das Bedürfnis, der Botschaft nachzugehen. Er recherchiert und unternimmt schließlich eine Reise nach New Mexico, wo er auf eine bewachte Lagerhalle stößt, in der Frauen von einer Mafiaorganisation wie Arbeitssklavinnen gehalten werden und Kleidungsstücke für den Versand verpacken. Wie eben die Jacke, die er bestellt hatte.
Unter Lebensgefahr findet er heraus, dass es sich um Frauen handelt, die in einer mexikanischen Stadt entführt wurden und spurlos verschwunden sind. Dieser Handlungsstrang des Romans bezieht sich auf reale Verbrechen, die sich seit Jahren im Norden Mexikos ereignen.

Reale Verbrechen, fiktiver Professor

Fiktiv ist die Geschichte des Protagonisten. Es ist die Geschichte eines Professors namens Zach Wells, der in der zerreißenden Trauer um das Kind, das ihm genommen wurde, nur noch einen einzigen Sinn seines Daseins erkennen kann: das Leben anderer zu retten.
„Erschütterung“ ist ein meisterlicher Roman von seltener menschlicher Tiefe, literarischer Intelligenz und außerordentlicher Sprachkraft. An keiner Stelle strapaziert er auf explizite Weise religiöse Motive. Und doch bringt er sie indirekt und auf erzählerische Weise zum Ausdruck.
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