Paul Nolte: Nicht jeder mag einen 1000-Seiten-Geschichtswälzer lesen

19.10.2013
Der Historiker Paul Nolte betrachtet die Nachstellung der Völkerschlacht bei Leipzig als eine legitime Form der Beschäftigung mit Geschichte. Sie könne eine Brücke zu einer ernsthaften Beschäftigung mit dem Thema schlagen, so der Geschichtsprofessor.
Ute Welty: Gestern der Festakt, morgen das Spektakel: 6.000 Menschen aus 24 Nationen stellen die Völkerschlacht bei Leizpig nach, leben schon seit Tagen wie vor 200 Jahren, Armbanduhren und Handys sind verboten. Die einen sagen, die Nachstellung macht Geschichte direkt erfahrbar, die anderen sagen, eine blutige Schlacht darf man auch nach 200 Jahren nicht zum Freizeitevent machen. Wofür outet sich der Historiker Paul Nolte zwischen diesen beiden Positionen? Genau das kann ich ihn jetzt hier in Deutschlandradio Kultur selber fragen. Guten Morgen, Herr Nolte!

Paul Nolte: Ja, schönen guten Morgen!

Welty: Wären Sie gerne für ein Wochenende Napoleon, mal abgesehen davon, dass er die Völkerschlacht verloren hat?

Nolte: Also mir liegt das nicht so sehr, mich da hinzustellen, und ich bin nicht der Typ von Historiker, aber da mag es auch andere geben, die sich sozusagen in die Vergangenheit wirklich hineinkriechen und einfühlen wollen. Aber ich finde das auch eine legitime, eine gute Form auch der Beschäftigung. Es bietet ja vielen Menschen auch einen Zugang zur Geschichte, die sonst vielleicht andere Zugänge nicht finden würden, denn nicht jedem ist es gelegen, ein 1.000-seitiges Buch durchzulesen und sich mit wissenschaftlichen Formen der Geschichte näher zu beschäftigen. Also es kann eine Annäherung, eine Brücke vielleicht sogar in andere Formen der Beschäftigung mit Geschichte sein.

Welty: Napoleon hat die Völkerschlacht verloren, aber im Gegensatz zu ungefähr 99.999 anderen überlebt. Ist das der Grund, warum Sie dem ganzen Unternehmen mit eher gemischten Gefühlen gegenüberstehen – die vielen Toten und das unendliche Leid?

Nolte: Also das ist eine ganz, ja, interessante, auch heikle Dimension, gerade bei den Nachstellungen von Schlachten, die ja schon seit Langem und besonders in den USA auch ein Teil dieser Sehnsucht nach dem Nachstellen von Geschichte, dem Wiedererleben – in den USA nennt man das "Reenactment", also es soll eigentlich noch mal aufgeführt werden, noch mal passieren, was in der Geschichte war –, was davon ein großer Teil davon ist. In den USA geht es da vor allen Dingen um die Schlachten des Bürgerkrieges, die waren ja auch ganz blutige, furchtbar blutige Schlachten – viele sagen, der Bürgerkrieg, eigentlich der erste moderne, totale, mörderische Vernichtungskrieg –, und trotzdem finden gerade diese Schlachten, so ähnlich wie jetzt eben auch die Völkerschlacht in Leizpig, dort großes Interesse im Sinne einer Nostalgisierung und ja, einer Annäherung, in der dieser Tod weggeblendet wird. Und das ist tatsächlich eine ganz interessante Dimension in diesen Schlacht-Reenactments, da wird die Schlacht, das Militärische, vor allen Dingen werden Gewalt und Tod gewissermaßen ausgeblendet, werden neutralisiert. Das ist etwas, was man unheimlich finden kann. Ich glaube nicht, dass darin wirklich eine Missachtung von Tod und Leiden liegt. Aber es ist schon richtig: Das wird da weggeblendet. Das wird übrigens auch moralisch neutralisiert. Das geht dann auch gar nicht mehr darum, wer gut oder böse ist – ist nun Napoleon eigentlich der Gute oder sind es die Befreier, die Napoleon abgeschüttelt haben –, so ähnlich wie beim amerikanischen Bürgerkrieg auch die Frage nach Gut und Böse dann in dieser Hinsicht nicht gestellt wird.

Welty: Wo verläuft denn Ihrer Meinung nach der Grat zwischen Verzicht auf historische Substanz und gelungener Vermittlung?

Nolte: Dieser Grat muss immer wieder neu ausbalanciert werden. Ich glaube, man muss sich auch darüber klar werden, was eine Form der Geschichtsdarstellung auch sein will, die in dem einen oder anderen Sinne auch Anspruch auf Geltung, auch auf wissenschaftliche Wahrheit, wenn man so will, erhebt. Das gilt ja auch für viele Bereiche der populäreren Geschichte. Es gibt einen großen, auch weiter anhaltenden Sog, in dem Geschichte in die Öffentlichkeit drängt, zu populäreren Darstellungsformen, Geschichtsmagazine, History Channel, auch Geschichte – aber nicht nur Geschichte – ist ja Teil von dem, was wir Infotainment nennen. Aber wenn ich ein Magazin kaufe, ein populäres Magazin, das vielleicht "Zeit Geschichte" oder anders heißt, "Spiegel Geschichte", in einer Bahnhofsbuchhandlung, dann kann ich da doch davon ausgehen, dass das auch diesen Wahrheitsanspruch erhebt. Wenn ich ein Spiel, ein Computerspiel mir kaufe oder wenn ich an einem Schlacht-Reenactment teilnehme, dann ist die Grenze zu diesem Wahrheitsanspruch nicht mehr so wirklich scharf zu ziehen, dann geht es mehr um das Spielerische, nicht um historische Authentizität.

Welty: Würden Sie sich wünschen, dass dieser Trend, ja, vielleicht wenn nicht umgekehrt, dann doch in Maßen nur noch stattfindet?

Nolte: Also ob das bei uns ein starker Trend wird, da bin ich mal noch neugierig und skeptisch.

Welty: Na ja, aber diese Geschichtsmagazine und die DVD zur Sendung, zum Buch, zur Zeitschrift, das gibt es ja hier auch.

Nolte: Oh ja, das ist ein breiter Trend, ja. Ich wundere mich immer, dass dieser Trend noch nicht wieder abgeebt ist. Das ist eine ganz starke, eine mächtige Tendenz, die auf einem hohen Niveau, glaube ich, ihre Bedeutung behalten wird. Meine Skepsis bezog sich gerade eher auf Formen, ja, des spielerischen, des schauspielerischen Umgangs mit Geschichte, wie wir sie jetzt bei der Völkerschlacht erleben. Das ist etwas, was für Deutschland relativ neu ist, wo wir eher Erfahrungen eben, wie gesagt, zum Beispiel aus den USA haben. Ob daraus ein größerer Trend wird, da bin ich noch eher skeptisch, weil diese Formen, selber aufzutreten und sich ein Kostüm anzuziehen – na gut, das machen manche von uns auch im Karneval, aber die Neigung, die die Amerikaner ...

Welty: Nicht Wenige übrigens.

Nolte: Nicht Wenige, aber die Neigung, die die Amerikaner dazu in anderen Bereichen haben, auch als Cheerleader aufzutreten – ja, das hat ja auch so etwas Kostümiert-Unterhaltsames –, das sehe ich bei uns noch nicht so ganz. Aber es ist richtig, es ist Teil auch einer größeren Welle, die uns, ja, zum Beispiel auch in der Geschichte der Demokratie, in der Entwicklung der Demokratie begegnet: Die Menschen wollen nicht mehr nur Zuschauer sein, sondern wollen mitmachen, also – was man mit einem etwas Fachchinesisch "partizipatorische Verhaltensweise" nennen möchte – nicht zuschauen, sondern mit dabei sein. Ich stelle mich auch nicht nur vor das Denkmal, vor das Mahnmal, ich gehe nicht nur ins Museum und betrachte, sondern ich will selber in die Rolle des Handelnden, des Mithandelnden schlüpfen. Das ist sicherlich ein Trend, der sich auch in anderen Bereichen ja zeigt.

Welty: 200 Jahre Völkerschlacht und ihre Nachstellung, beobachtet vom Historiker Paul Nolte mit einer gewissen Skepsis. Liegt es vielleicht auch daran, dass Sie selbst den Kriegsdienst verweigert haben?

Nolte: Das mag auch sein. Also Militarier liegen mir persönlich ziemlich fern, und von daher habe ich zu Schlachtdarstellungen also auf jeden Fall eine große Distanz. Aber wer das mag, wie gesagt, kann das machen, und es kann auch eine Brücke in die ernsthafte Beschäftigung mit Geschichte vielleicht sein.

Welty: Jedenfalls danke ich für das Gespräch an diesem Samstagmorgen!

Nolte: Vielen Dank!

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