Patrick Radden Keefe: "Imperium der Schmerzen"

    Tödliche Drogen auf Rezept

    06:34 Minuten
    Cover des Buchs "Imperium der Schmerzen. Wie eine Familiendynastie die weltweite Opioidkrise auslöste" von Patrick Radden Keefe. Es zeigt neben der Schrift zwei Mohnkapseln.
    © hanserblau

    Patrick Radden Keefe

    Aus dem Englischen von Gregor Runge, Kattrin Stier und Benjamin Dittmann-Bieber

    Imperium der Schmerzen. Wie eine Familiendynastie die weltweite Opioidkrise auslöstehanserblau, Berlin 2022

    640 Seiten

    36,00 Euro

    Von Susanne Billig · 16.11.2022
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    Die Sackler-Familie hat vor allem in den USA ein Vermögen mit dem Verkauf von süchtigmachenden Schmerzmitteln verdient. Hunderttausende verloren ihr Leben. Der Journalist Patrick Radden Keefe arbeitet den Skandal in seinem neuen Buch auf.
    2016 gingen Fotos und Videos aus den verarmten Industrieregionen im Nordosten der USA um die Welt. Darauf waren weinende Kinder zu sehen, deren Eltern im Opioid-Rausch ohnmächtig an den Lenkrädern von Autos oder in den Gängen von Supermärkten oder irgendwo auf dem Bürgersteig mit verrenkten Gliedmaßen zusammengebrochen waren. In seinem neuen Buch „Imperium der Schmerzen“ erzählt der Schriftsteller und Journalist Patrick Radden Keefe die Opioid-Krise der USA als moralischen Niedergang einer Familiendynastie, die durch den forcierten Verkauf eines einzigen Schmerzmittels Milliarden verdiente, während Hunderttausende daran starben.

    Die Karriereleiter hinauf

    Als große Familiensaga zieht der Autor sein Buch auf und zeichnet nach, wie sich Arthur Sackler, Sohn eines jüdischen Einwandererehepaars, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hartnäckig auf der Karriereleiter nach oben kämpfte. In Zeiten eines massiven Antisemitismus, als jüdischen Menschen der Besuch guter Schulen und Universitäten verwehrt war, gelang es Arthur, Medizin zu studieren.
    Für die Beruhigungsmittel Librium und Valium ersann er völlig neue Wege der Vermarktung. Mit breiten Kampagnen bearbeitete er Hausärzte so lange, bis sie zwischen seriöser medizinischer Information und Reklame nicht mehr unterscheiden konnten. Müde, abgespannt, traurig, unausgeglichen? Valium wurde zur Option in jeder Lebenslage.

    Ein Pharma-Riese pusht eine Droge

    Bald übertrug die Familie das Prinzip auf OxyContin. Wissentlich packte ihre Firma Purdue Pharma viel zu viel Wirkstoff in die Tabletten und belohnte Pharmavertreter mit Erfolgshonoraren, wenn sie Hausärzte dazu brachten, das Mittel bei zahllosen Indikationen zu verschreiben. Beklemmend beschreibt der Autor, wie die US-Zulassungsbehörden den Medikamenten jahrzehntelang grünes Licht gaben, obwohl keinerlei Studien zu ihrer Verträglichkeit vorlagen.
    Renommierte Kunst- und Bildungseinrichtungen schmückten sich mit Namen und Geld der wohltätigen Sackler-Familie, während Leute, die mit leichten Kopfschmerzen oder Rückenbeschwerden zum Arzt gegangen waren, sich bettelnd um Rauschmittel auf der Straße wiederfanden und vielfach ihr Leben verloren. Als die Öffentlichkeit in den USA erwachte, schwärmte Purdue Pharma in die Welt aus und machte Südamerika, Indien, China süchtig.

    Empörung auf über 600 Seiten

    Keefes Mammutprojekt ist mit seinen 640 Seiten oft zu ausführlich geraten und bewegt sich mitunter hart an der Grenze zur Fabulation. Doch genau so trägt der Autor seine Leserinnen und Leser durch diesen Horror – nie erlahmt seine Empörung, nie hört er auf, alles, was auch nur irgendwie zur Geschichte gehören könnte, auf den Tisch zu legen, von Sexproblemen in Sackler’schen Betten über Gerichtsdokumente bis hin zu familiären WhatsApp-Chats über Schmerzmittelsüchtige, die an Fühllosigkeit und Gemeinheit nicht zu überbieten sind.
    Wenn ein Abgrund zu finster ist, helfen leise Töne nicht weiter. Hätte sich die Fotografin Nan Goldin nicht mit einer grellen Kampagne – ja, mitten in Museen! – ins Zeug gelegt, würden die Sacklers heute noch zu den Lieblingsmäzenen der Kunstszene gehören. Ein massives Unrecht braucht ein massives Buch.
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