Patrick Modiano: "Schlafende Erinnerungen"

Paris als magisches Reich aus Worten

Patrick Modiano schreibt immer das gleiche Buch, immer ein wenig anders, meint Kritiker Gerrit Bartels.
Patrick Modiano schreibt immer das gleiche Buch, immer ein wenig anders, meint Kritiker Gerrit Bartels. © imago/Photocase; Hanser
Von Gerrit Bartels |
Mit einfacher Prosa führt Nobelpreisträger Patrick Modiano durch "Schlafende Erinnerungen", die er selbst in den Straßen von Paris sammelte oder die ihm im Traum zugeflogen sind. Ein zauberhafter Text, der stets unterhalb der Wirklichkeit bleibt.
Eine Hauptrolle in Patrick Modianos neuem Buch "Schlafende Erinnerungen" spielen Bücher. Solche, die wirklich geschrieben worden sind wie die von Hans Fallada, das "Dschungelbuch" oder Alexandre Dumas’ "Der Vicomte de Bragelonne". Bücher, die in der Bibliothek der Mutter des Ich-Erzählers standen, nachdem er 1942 nach Paris gekommen war und die nun seinem Studentenzimmer vor sich hin stauben. Und solche Bücher, die nur in der Fantasie von Patrick Modiano existieren, mit überaus sprechenden Titeln.
Es beginnt mit einem, das er in den Kisten der Bouquinisten an den Quais der Seine entdeckt hat und "Die Zeit der Begegnungen" heißt. Dann kauft der Erzähler eins, das heißt "Die Ewige Wiederkehr des Gleichen". Auch das neue Buch von Modiano, das erste nach der Verleihung des Literaturnobelpreises an ihn im Jahr 2014, könnte diesen Titel tragen. Denn es geht darin neben den Büchern vor allem um Begegnungen mit Menschen vor langer, langer Zeit, explizit den sechziger Jahren, um Erinnerungen eines Mannes, höchstwahrscheinlich von Patrick Modiano selbst, an Menschen, die er getroffen hat auf genau bestimmten Plätzen und Straßen, in genau bestimmten Häusern in Paris.

"Menschen und Dinge im Begriff zu verschwinden"

So kann man sagen, dass auch in "Schlafende Erinnerungen" das Immer- und Ewiggleiche wiederkehrt. Patrick Modiano schreibt immer das gleiche Buch, immer ein wenig anders. Dieses Mal ist es so, dass so gar keine durchgehende Geschichte erzählt wird. "Schlafende Erinnerungen" behauptet nicht einmal mehr, ein Roman zu sein (auch die deutsche Ausgabe trägt keine Gattungsbezeichnung), sondern ist ein episodenhaftes, höchst konzentriertes Erinnerungswerk.
Modiano weist dabei öfters auf seine Schreibgegenwart hin ("Heute, am 10. März 2017, habe ich die blassgrüne Mappe wieder aufgeschlagen"), verweist auf den Herumtreiber und Studenten, der er mal war ("In jenem Jahr, 1959, habe ich das Pigalle-Viertel entdeckt, am Samstagabend, wenn meine Mutter auf der Bühne stand...") oder gesteht, dass das Weglaufen seine Lebensform war. Und er verzichtet auch ganz auf sein Alter ego, den jungen Schriftsteller Jean, der sich in einem der weit über zwanzig stets schlanken Modiano-Romane einmal beschrieben hat als überaus "empfänglich für Menschen und Dinge, die im Begriff zu verschwinden sind".
Genau so ist das hier: Modiano erinnert sich an Menschen, die er vergessen hat und plötzlich wieder vor seinem Auge erscheinen. Wie bei den Büchern gibt es sicher auch in ihrem Fall solche, die Modiano vermutlich wirklich gekannt hat, und solche, die er sich gerade ausdenkt. In "Schlafende Erinnerungen" sind das überwiegend Frauen: Mirelle Ourosov, Geneviève Dalame, Madeleine Péraud, Madame Hubersen und schließlich eine junge Namenlose, "ich misstraue nach fünfzig Jahren noch immer den allzu genauen Details, die ihre Identifizierung erlauben könnten".

Frauen tauchen auf und wieder ab

Diese hat aus Versehen beim Herumhantieren mit einem Revolver einen zwielichtigen Mann getötet, und mit ihr ist er auf der Flucht. Alle diese Frauen haben einen leichten Defekt, wie der Erzähler damals, stehen neben sich, interessieren sich für Okkultes, tauchen auf und wieder ab.
Spektakulär ist das nicht, was Modiano mittels seiner einfachen Prosa erzählt. Doch hat man von Beginn an das Gefühl, sich mit ihm und seinen Erinnerungen in einer Pariser Zwischen–, Traum- und Schattenwelt zu befinden; in einem Paris, das so schon lange nicht mehr existiert und von Modiano immer wieder beschworen wird. Es liegt ein Zauber auf dieser Prosa, auf den vielen Namen der Menschen, Straßen und Orte. Wollte man, so wie der Erzähler, so wie Modiano, diesem Zauber der Menschen und Orte wirklich auf den Grund gehen, würde man versuchen hinter diese Wirklichkeit zu kommen und zum Beispiel die Pariser Wege abgehen, ginge der Zauber sicher verloren. So endet dieses Buch vielsagend mit den Worten: "In deinen Erinnerungen vermischen sich Bilder von Straßen, auf denen du gefahren bist, und du weißt nicht mehr, welche Provinz sie durchquerten." Genau so ist es mit der Lektüre der Bücher von Patrick Modiano: Die Erinnerung an sie vermischt sich, und manchmal fragt man sich, ob er sie wirklich geschrieben hat. Oder ob es nicht sein könnte, dass sie nur in unserer Einbildung existieren.

Patrick Modiano: "Schlafende Erinnerungen"
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl
Carl Hanser Verlag, München 2018
111 Seiten, 16 Euro

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