Parvenüs im Wirtschaftswunderland

Aufsteiger, Aufschneider, Speichellecker und andere Emporkömmlinge porträtiert Rudolf Lorenzen in seinem erstmals 1962 erschienenen Roman "Die Beutelschneider". Der Roman ist eine satirische Abrechnung mit der Biedermeierlichkeit und dem Opportunismus der 50er Jahre. Allerdings merkt man dem Text seine Entstehungszeit an.
Büros werden noch mit Öfen geheizt, Unverheiratete wohnen zur Untermiete, und Sekretärinnen eilen mit gespitzten Bleistiften zum Diktat. Es ist die Zeit des Wirtschaftswunders: die Firmen suchen nach Personal, und die Angestellten ziehen wie Nomaden von Stelle zu Stelle quer durch die Bundesrepublik. Rudolf Lorenzens Roman ist 1962 erstmals erschienen, und wurde jetzt neu aufgelegt. Die Exotik einer fernen Zeit, deren Mechanismen verblüffend aktuell erscheinen, macht allein schon die Lektüre faszinierend.

Beutelschneider sind sie fast alle, die in diesem Roman vorkommen: Zuvorderst der Chef einer kleinen Werbeagentur am Bodensee, Gottfried Kockel, dessen Hauptkunde der Schmelzstoff-Verband ist. Monatlich erhält der Syndikus des Verbands von Kockel 1000 D-Mark, damit die Aufträge auch weiter sicher sind. Die geschiedene Frau von Kockel, die das Recht hat, einmal monatlich im Büro zu erscheinen und den Geschäftsgang zu überprüfen, bekommt von Kockel monatlich 500 D-Mark, damit sie dies nicht allzu intensiv tut.

Auch die Angestellten Kockels, allen voran sein Geschäftsführer Bruno Sawatzki, nehmen es mit der geraden Linie nicht immer ganz genau. Jeder handelt so, dass es die eigene Haut rettet und dem Chef schmeichelt. Denn Kockel ist ein dummer und prahlerischer Mensch, einer, der alles zu wissen meint und folglich betrogen sein will.

Dabei überzeichnet Lorenzen bis zur Satire. Kaum eine der handelnden Personen ist charakterlich gefestigt, auch werden viele Klischees bedient: Der Chef hat eine junge Verkäuferin geheiratet, die ihn betrügt. Er selbst zieht sich gerne mit seiner Sekretärin übers Wochenende zurück. Der vernachlässigte Sohn fühlt sich nur in der homophilen Gesellschaft eines Tennisklubs geborgen.

Lorenzen überzeichnet auch die Figuren selbst: Parvenüs, die vom wirtschaftlichen Aufschwung nach oben gespült wurden, stellt er schonungslos in ihrer Beschränktheit bloß. Spießbürger mit zwanghaftem Ordnungstrieb und kleinlichem Beharren in Gewohnheiten begegnen Provinzkünstlern, denen es an Geschmack und Selbsteinschätzung gebricht. Eine peinliche Aussage reiht sich an die nächste, und Lorenzen, der selbst einige Zeit in der Werbebranche gearbeitet hatte, badet offenbar mit innerer Wonne in der Demaskierung seiner Figuren.

Dabei ziseliert er fein die Persönlichkeiten, ihr Berechnen und die Angst, mit der eigenen Angeberei aufzufliegen, heraus. Lorenzen erfindet eine Unmenge an Details, Namen, Bezeichnungen, Ereignissen, die er beiläufig der Handlung anhängt, ihr aber damit zugleich eine gefährliche Opulenz gibt.

Neben einer bitterbösen Abrechnung mit der Wirtschaft der Bundesrepublik nach dem Krieg, der Diskrepanz zwischen Sein und Schein, ist der Roman ein reizvolles Gesellschaftsgemälde der 50er-Jahre. Man spürt, dass der Krieg noch nicht lange zurück liegt, die Menschen in Biedermeierlichkeit mit allen erdenklichen Attributen versponnen sind und nichts mehr anbeten als das Wachstum.

Auch der Schreibstil kann seine zeitliche Herkunft nicht verleugnen: Mitunter wirkt der Text heute ein wenig langatmig und detailverliebt. Man vermisst während der sich über Seiten erstreckenden Dialoge, die eher Monologen mit wechselnden Stimmen gleichen, das Vorantreibende der Handlung - wie es die von Videoclips geprägten Leser der Gegenwart gewohnt sind.

Rezensiert von Stefan May

Rudolf Lorenzen: Die Beutelschneider
Roman, Verbrecher Verlag, Berlin, 2007
416 Seiten, 24 Euro