Partnerschaft statt Bekehrung

Von Norbert Sommer · 21.08.2010
Vor 400 Jahren starb der aus Italien stammenden Pionier der China-Mission Matteo Ricci in Peking. Nicht nur die Katholische Kirche würdigt ihn, sondern auch die chinesische Politik und Gesellschaft.
"Pater Ricci ist ein einzigartiges Beispiel des gelungenen Zusammenspiels zwischen der Verkündigung des Evangeliums und dem Dialog mit der Kultur des Volkes, unter dem man es verkündet, ein Beispiel der Ausgewogenheit zwischen der lehramtlichen Eindeutigkeit und einem umsichtigen pastoralen Handeln."

So das positive Urteil von Papst Benedikt XVI. über Matteo Ricci. Es überrascht insofern, als erst 1939 ein päpstliches Edikt von 1742 aufgehoben wurde, das die Missionsmethode von Pater Ricci und anderen Jesuiten verboten hatte, nämlich die Anpassung an die chinesische Kultur und Tradition. Im Übrigen wird der lateinamerikanischen Befreiungstheologie eine solche Anpassung im pastoralen Handeln bis heute untersagt.

Interessant in diesem Zusammenhang auch, dass erst 1985 ein Verfahren zur Seligsprechung von Matteo Ricci beantragt wurde und dass dessen italienisches Heimatbistum Macerata sich Anfang 2010 veranlasst sah, die Bearbeitung dieses Antrags erneut zu fordern. Wer aber war nun dieser Mann, dessen Verehrung in China seit mehr als 400 Jahren ungebrochen ist?
"Matteo Ricci wurde 1552 geboren, trat mit 19 Jahren in den jungen Jesuiten-Orden ein, studierte in Rom neben Theologie und Philosophie auch Astronomie, Geografie und Mathematik. 1578 reiste er – nach einer längeren Zwischenstation in Portugal – zunächst nach Goa in Indien, vier Jahre später dann in das portugiesisch beherrschte Macao vor der chinesischen Küste.

Dort lernte er intensiv die chinesische Schrift und Sprache und erstellte die erste umfangreiche Abhandlung über Menschen, Gebräuche, Institutionen und Regierung Chinas. Sie galt bald als die verlässlichste Auskunftsquelle in Bezug auf die chinesische Zivilisation. Danach begann er seine Tätigkeit in China, dem damaligen, selbstbewusst auftretenden 'Reich der Mitte'."

Der Zugang aber war nicht leicht. Von Anfang an hatte Matteo Ricci mit dem Vorurteil vieler Chinesen zu kämpfen, alle Ausländer seien "fremde Teufel". Auch die einflussreiche konfuzianisch geprägte Beamtenschaft sah in jedem Ausländer zunächst einen Gegner oder zumindest einen Konkurrenten. Ricci war auf diese doppelte Ablehnung eingestellt.

Schon vorher hatte er den Europäismus verschiedener Jesuiten in Japan verurteilt, als diese die Kultur Japans unterschätzten und den einheimischen Klerus auf einem niederen Bildungsstand halten wollten. Er hielt es dagegen für wichtig, sich zunächst intensiv dem Studium der chinesischen Klassiker zu widmen. So war er überzeugt, das Christentum müsse Berührungspunkte mit dem Konfuzianismus suchen, wenn es in das chinesische Leben eindringen wolle.

Dabei ging es ihm um die reine konfuzianische Lehre und nicht um die des damals praktizierten Neokonfuzianismus. Damit kam er denjenigen chinesischen Gelehrten und Wissenschaftlern näher, die sich ebenfalls für die fortschrittlichen Elemente im ansonsten verknöcherten, verbeamteten Konfuzianismus einsetzten. Der Jesuit George Dunne, der sich eingehend mit der Chinamission seines Ordens beschäftigt hat, stellte fest:

"Die mit ungekünstelter Demut verbundene Wertschätzung der Menschen und der Kultur Chinas befähigten ihn dazu, sich seiner Umgebung anzupassen. Seine Methode entwickelte sich im Laufe von Jahren; sie war die Frucht der Erfahrung und einer seltenen Begabung, die chinesischen Verhältnisse richtig zu beurteilen."

So tauschte er sehr schnell seinen Namen Matteo gegen den chinesischen Namen Li Madou und die anfängliche Art, sich wie buddhistische Mönche zu kleiden, gegen die chinesische Gelehrtentracht ein. Er wollte kein Ausländer, sondern ein Chinese unter und mit den Chinesen sein. Deshalb soll er auch sein Bedauern darüber zum Ausdruck gebracht haben, dass er den Schnitt seiner Augen und die Größe seiner Nase nicht ändern konnte, um sich ein noch chinesischeres Aussehen zu geben.

Er empfahl nicht nur allen das Studium der chinesischen Literatur, sondern widmete sich diesem selbst in ganz besonderer Weise. Das beruhte auf seiner Erkenntnis, dass in China die Feder die stärkste Waffe sei und dass man dort durch Bücher mehr erreichen könne als durch Reden. Deshalb eröffnete er auch die erste Bibliothek europäischer Bücher in China und forderte immer mehr Nachschub aus Europa an, nachdem das Angebot von den Chinesen so begeistert angenommen worden war. Eine weitere ungewohnte Entscheidung begründete er 1596 im Brief an einen Freund:

"Ich glaube nicht, dass wir eine Kirche errichten werden, dafür aber einen Konversationsraum, und die Messe werden wir privat in einer anderen Kapelle zelebrieren oder vielleicht das Empfangszimmer als Kapelle benutzen; denn hier predigt man durch Gespräche wirksamer und fruchtbarer als durch offizielle Predigten."

Matteo Ricci gewann aber auch an Ansehen durch die von ihm präsentierten technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften. Globus, Prismen, Uhren, die europäische Technik der Perspektive in der Malerei und der Weltatlas zum Beispiel waren in den Augen vieler Chinesen geradezu revolutionär und lösten eine ungeheure Faszination aus. Besonders die neue Sicht der Welt, die Erkenntnis, dass es außerhalb Chinas noch vieles mehr auf der Erde gab, zeigte ihre Auswirkungen, nachdem sie in ganz China verbreitet worden war.

Plötzlich wollten die Gelehrten des Landes Kontakt zu ihm aufnehmen, sich mit ihm austauschen, von ihm lernen. Es entwickelten sich Freundschaften, die weit über den rein wissenschaftlichen Austausch hinausgingen. Der beständig wachsende Freundeskreis unter der akademischen Elite entsprach seinem Wunsch, China nicht von oben nach unten zu bekehren, sondern einige Gelehrte und Beamte zu bekehren, um durch sie eine für das Christentum zunehmend günstige Atmosphäre zu schaffen. Der Historiker und Experte für die Chinamission der Jesuiten, George Dunne, stellte dazu fest:

"Nicht europäische Waffen, sondern chinesische Freunde sollten im Kampf gegen die unvermeidlichen Angriffe des Vorurteils und Übelwollens die Hauptverteidigung der Kirche bilden."

Matteo Ricci hielt dabei an seinem Grundsatz fest, ein stilles, langsames Wachstum der Kirche sei wichtiger als der Drang, "Christen machen" zu wollen. Er strebte nach guten Christen und nicht nach Massen. Neben all dem Austausch mit chinesischen Gelehrten nicht nur über Wissenschaftsthemen, sondern auch über den Glauben, befasste sich Matteo Ricci weiter mit der Entwicklung zahlreicher astronomischer Instrumente sowie Uhren und Globen.

Damit und mit der Verbreitung europäischer Mathematikerkenntnisse erregte er Neid und Angst unter den Beamten, mussten sie doch um ihre Posten und Karrieren fürchten. Matteo Ricci ging es aber eigentlich nur um einen Austausch zwischen Ost und West.

Gemeinsam mit chinesischen Freunden übersetzte er wissenschaftliche Werke aus Europa ins Chinesische und zum Beispiel konfuzianische Klassiker in europäische Sprachen. Einen unerwarteten Erfolg hatte er 1595 mit seiner kleinen Abhandlung über die Freundschaft, lateinisch Amicitia, chinesisch Jiaoyoulun. Drei Jahre später erklärte er in einem Brief:

"Diese Amicitia hat mir selbst und Europa mehr Ehre eingebracht als alles andere, das wir getan haben. Die anderen Dinge verleihen uns den Ruf, Erfindungsgeist zur Herstellung von mechanischen Kunstwerken und Instrumenten zu besitzen, doch diese Abhandlung hat unser Ansehen als Gelehrte von Begabung und Tugend begründet, und so wird sie mit lebhaftem Beifall gelesen und aufgenommen."

Möglich war die erfolgreiche Mittleraufgabe zwischen Ost und West in diesem Falle nur, weil der ursprünglich einem befreundeten chinesischen Prinzen gewidmete Essay durch Privatinitiative eines gelehrten Freundes Riccis gedruckt wurde. Er selbst – so schrieb der Jesuit später – konnte sie nicht veröffentlichen, da er zu jeder Veröffentlichung die Erlaubnis so vieler Leute einholen müsse, die zudem weder in China seien noch Chinesisch lesen könnten, aber darauf bestünden, ein Urteil abzugeben.

Auch Riccis "Fünfundzwanzig Sentenzen", eine kurze Darlegung wesentlicher Grundlagen der christlichen Morallehre, und sein Meisterwerk über die "wahre Gottesvorstellung" konnten nur auf diese Weise, das heißt, durch Unterstützung chinesischer Freunde und ohne kirchliche Druckerlaubnis, verbreitet werden. Dabei waren die Wirkung und der Einfluss auf breite Kreise des Landes gerade des Buchs über die Gottesvorstellung enorm groß – nicht nur in China, sondern weit über die Landesgrenzen hinaus. Und dass der Kaiser 1692 endlich ein Edikt zur religiösen Toleranz herausgab, beruhte hauptsächlich auf der Lektüre dieses Textes.

Kritik an diesem theologischsten Werk von Matteo Ricci gab es dagegen schon damals aus den eigenen katholischen Reihen. Man warf ihm vor, wichtige Glaubensgrundlagen unerwähnt gelassen zu haben, sodass seine chinesischen Freunde im Christentum nur eine "besondere Art des Buddhismus" oder eine "Vervollständigung des Konfuzianismus" erblicken könnten. In Wirklichkeit sahen die Buddhisten das Christentum als Bedrohung an.

Diese Einstellung änderte sich auch nicht nach einer intensiven Diskussion mit führenden Buddhisten, die Matteo Ricci angeregt hatte. Mehrere Versuche, an den Hof von Peking und zum Kaiser zu gelangen, scheiterten trotz zahlreicher Bemühungen von hohen befreundeten Beamten.

Dieser schwächliche Herrscher einer zerfallenden Dynastie war nur an den Geschenken der Jesuiten interessiert, die ihm – wie es damals üblich war - bereits als eine Art Einstand vorab überreicht worden waren. Sein besonderes Interesse galt dabei der mechanischen Uhr. Und erst als diese stehen blieb, ließ er die Jesuiten zur Reparatur in den Palast rufen. Allmählich sah Pater Ricci ein, dass er die eigentlich erstrebte und von vielen für nötig erachtete kaiserliche Genehmigung zur Verkündigung des Evangeliums in China weder bekommen würde noch sie wirklich brauchte. Stattdessen stützte er sich bei seiner Missionstätigkeit auf das Netzwerk persönlicher Beziehungen. Ein Jesuit schrieb 1605 von Nanking nach Europa:

"Der Ruf, dessen sich der gute Pater Ricci bei den Chinesen erfreut, die Zahl bedeutender Persönlichkeiten, die ihn besuchen, und das Maß der Wertschätzung, das er im ganzen chinesischen Reich genießt, sind unglaublich. Er gewinnt jedermann durch den Charme und die Höflichkeit seines Benehmens, durch seine Konversation und die festgegründete Tugend, die sich in seiner Lebensführung zeigt."

Während teilweise völlig übertriebene Angaben über angebliche Missionserfolge von einigen kirchlichen Gruppierungen nach Rom gemeldet wurden, informierte Matteo Ricci seinen Bruder im Jahre 1608 ganz nüchtern darüber, dass es inzwischen – das heißt, nach 26 Jahren geduldiger Arbeit - etwas mehr als 2000 Christen, darunter viele Gelehrte, in vier chinesischen Niederlassungen gab. Viele Neider warfen ihm wegen dieses ihrer Meinung nach erbärmlichen Erfolges vor, falsche Akzente gesetzt und den eigentlichen Missionsauftrag missachtet zu haben.

Kurz nach Riccis Tod im Jahre 1610 sprach der von Japan nach Macao ausgewichene Provinzial der Jesuiten ein striktes Verbot der von Ricci angewandten Methoden aus. Die Patres dürften keinen Mathematik- und Philosophieunterricht mehr erteilen und sollten sich ausschließlich der Verkündigung des Evangeliums widmen. Ja, sie müssten es auch ablehnen, sich an der Verbesserung des Kalenders zu beteiligen, selbst wenn der Kaiser es ihnen befehlen würde.

Hiermit wurde indirekt der immer wieder erhobene Vorwurf erneuert, die Jesuiten unter Führung Riccis hätten sich die Gunst der gebildeten Oberschicht oder gar des Kaisers durch ihre Wissenschaft und Technik erkauft. Als dann auch noch die konkurrierenden Dominikaner und Franziskaner in Rom erfolgreich vorstellig wurden und von dort im sogenannten Ritenstreit Recht bekamen, begann das Ende des wegweisenden Kurses von Matteo Ricci.

Er hatte nichts gegen den traditionellen chinesischen Ritus der Ahnenverehrung einzuwenden, für ihn war dies keine heidnische Handlung. Er hatte auch kein Problem mit der Übernahme des traditionellen chinesischen Namens für "Gott" für den christlichen Gottesbegriff. Doch der Papst entschied anders. Der heute 94-jährige Bischof von Shanghai, Jin Luxian, ein glühender Verehrer von Matteo Ricci, empfahl den Gläubigen seines Bistums, dem Beispiel des berühmten Jesuiten zu folgen. Mit scharfen Worten kritisierte er:

"Arroganz und Vorurteile der Führer der Kirche und der chinesischen politischen Autoritäten haben das Experiment Riccis und seine großartige Arbeit zunichte gemacht."

Dennoch haben die Chinesen über Jahrhunderte das Andenken an Matteo Ricci gewahrt. Durch Vermittlung hochrangiger Gelehrter erlaubte der Kaiser, dass dieser als erster Ausländer überhaupt in Peking bestattet werden durfte. Sein Grab wird auch heute noch im Auftrag des Staates gepflegt. Eine Ausstellung im städtischen Museum in Shanghai erinnerte zu Beginn der Weltausstellung "EXPO 2010" an Matteo Ricci als einen - wie es in der chinesischen Presse immer wieder hieß - großen europäischen Weisen und Brückenbauer zwischen den Kulturen Chinas und Europas. Insofern ist das Experiment Riccis nicht gescheitert.