Parlamentswahl in Spanien

"Interesse an Politik ist drastisch gestiegen"

Wahlplakate zur Parlamentswahl in Spanien am 20. Dezember
Wahlplakate zur Parlamentswahl in Spanien am 20. Dezember © dpa / picture-alliance / Eliseo Trigo
Michael Ehrke im Gespräch mit Ute Welty |
Bisher wechselten sich die Sozialisten und Konservativen in Spanien an der Macht ab. Die Konkurrenz der neuen Parteien Podemos und Ciudadano tue dem Land gut, sagt Michael Ehrke, Chef der Friedrich-Ebert-Stiftung in Madrid.
Der Politik- und Sozialwissenschaftler Michael Ehrke von Friedrich-Ebert-Stiftung bewertet die neue Konkurrenz für die beiden etablierten Altparteien als Chance für die politische Kultur Spaniens.
"Die Wähler haben mehr Optionen und das zeigt sich in einer wahrscheinlich sehr viel höherer Wahlbeteiligung, das Interesse an Politik ist drastisch gestiegen", sagte Ehrke im Deutschlandradio Kultur über die linksalternative Partei Podemos und die Bürgerpartei Ciudadanos. Erwartet werde eine Wahlbeteiligung von 80 Prozent. Durch die neue Vierer-Konstellation habe sich das bisherige politische System, bei dem sich Sozialisten und Konservative in der Regierung abwechselten, positiv verändert: "Man muss mehr konstruktiv argumentieren", so der Leiter des Madrider Büros der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung am Samstag in Deutschlandradio Kultur die Besonderheit der morgigen Parlamentswahl.
Prekäre Arbeitsbedingungen, Korruption, Zentralstaat
Zu den wahlkampfbestimmende Themen zähle die starke Prekarisierung der Arbeitsbedingungen: "Von den neugeschaffenen Jobs sind mehr als dreißig Prozent auf nicht mehr als sieben Tage befristet, also eine deutliche Verschlechterung der Beschäftigungssituation." Aber auch Korruption und die Reform der Verfassung im Hinblick auf das Verhältnis von Zentralstaat und autonomen Regionen.
Podemos, die nach den Europawahlen kurzzeitig in der Popularität fast gleichauf mit den Konservativen und den Sozialisten gelegen hatte, habe in Umfragen zuletzt wieder etwas verloren, erklärte Ehrke. Die neue Bürgerbewegung Ciudadanos, die erst dieses Jahr die nationale Bühne betreten hat, sei ebenfalls für viele Bürger attraktiv: "Ich glaube, dass viele sich gesagt haben, wir wollen eine neue unverbrauchte Kraft, die gegen Korruption antreten kann, aber nicht so links." Podemos habe sich zudem überschätzt, auch sei "der Lack ein bisschen ab, " angesichts von Bündnissen, die die Partei in Regionen eingehen musste. Auch das Parteiprogramm sei mittlerweile im Grunde ein sozialdemokratisches.
Neue Bürgerbewegungen ohne Rechtspopulismus
Dass es in Spanien keinen starken Rechtspopulismus gibt, erklärte Ehrke damit, dass bereits die Konservativen rechte Positionen besetzten, allerdings ohne Fremdenfeindlichkeit. Spanien habe in den letzten Jahren vor der Krise 5 Millionen Migranten aufgenommen, "ohne Reaktionen im Sinn einer ausländerfeindlichen Partei oder Bewegung". Da die Migranten größtenteils aus Lateinamerika und Rumänien stammten, gebe es einerseits mit den Lateinamerikanern ein gemeinsames kulturelles Verständnis, mit den Rumänen "eine sprachliche Annäherung". Zudem verfügten viele Spanier auch über Migrationserfahrungen in der eigenen Familie.
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Das vollständige Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Endspurt im spanischen Wahlkampf, denn morgen wird abgestimmt über ein neues Parlament und damit auch über einen neuen Ministerpräsidenten. Der bisherige, der konservative Mariano Rajoy, wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit seine absolute Mehrheit verlieren und mehr noch, es ändert etwas, was man entweder als Tradition oder als Klüngel bezeichnen kann: Erstmals seit 30 Jahren räumen zwei andere Parteien als die Konservativen oder die Sozialisten das Feld von hinten auf, nämlich die Liberalen unter Albert Rivera und die Linken unter Pablo Iglesias. Was das für Spanien bedeutet, das bespreche ich jetzt mit Michael Ehrke von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Madrid. Guten Morgen!
Michael Ehrke: Guten Morgen!
Welty: Spanien galt ja bislang als das Land der politischen Graubärte, jetzt scheint eine neue Generation anzutreten, die ist um die 40 oder noch nicht mal das. Was zeichnet diese Generation aus, außer dass sie jung ist?
Die Logik der Politik hat sich verändert
Ehrke: Diese Generation zeichnet vor allem aus, dass die Logik der Politik sich verändert hat. Bisher hatten wir ein Zwei-Parteien-System, sehr stabil, die beiden führenden Parteien haben sich an der Regierungsmacht abgewechselt, das war sozusagen eine binäre Logik. Ein gegenseitiges Vorhalten, du bist korrupter als ich, du bist aber auch korrupt, in dieser Art. Das ist jetzt einfach dadurch anders, dass wir vier Parteien haben, von denen keine die absolute Mehrheit haben wird. Man muss also von vornherein erstens mitbedenken, was nach den Wahlen ist, mit wem man vielleicht auch wird zusammengehen müssen, das wird man machen müssen; und zweitens muss man natürlich auch ein bisschen mehr konstruktiv argumentieren, nicht nur den anderen runtermachen, sondern selber auch sozusagen Zukunftsperspektiven aufzeigen. Das ist nicht unbedingt gelungen, aber der Versuch war schon sichtbar.
Welty: Hat sich denn auch schon angedeutet, wer da mit wem zusammengehen könnte?
Ehrke: Es gibt ein paar Möglichkeiten. Also, ein Tipp wäre die konservative Partei mit der neuen Bürgerpartei, Ciudadanos; die andere Möglichkeit wäre, eben diese Bürgerpartei zusammen mit den Sozialisten. Diese Bürgerpartei hat sozusagen sich programmatisch so offen gehalten, dass sie in beide Richtungen eigentlich gehen kann. Eine Linkskoalition oder ein Linksbündnis zwischen Podemos und den Sozialisten halte ich für wenig eigentlich erfolgreich, wird von den Zahlen her wahrscheinlich nicht reichen. Und eine große Koalition ist nicht total ausgeschlossen, ich würde sagen, aber sehr unwahrscheinlich angesichts dieser Streitkultur der beiden großen Parteien.
Welty: Wie haben Sie in dieser neuen Konstellation, in dieser Viererkonstellation den Wahlkampf erlebt in den vergangenen Wochen?
Ehrke: Im Wesentlichen in den Medien. Das heißt, dieser Wahlkampf war wie nie zuvor in den Medien, wurde in den Medien ausgetragen. Ein Hinweis darauf war: Eine der letzten Diskussionen der Spitzenpolitiker wurde von neun Millionen Zuschauern angeguckt, das Spiel Real Madrid gegen FC Barcelona – der Klassiker des spanischen Fußballs –, da kommt man auf vier bis fünf Millionen.
Welty: Okay!
"Es wird eine Wahlbeteiligung von 80 Prozent erwartet."
Ehrke: Und eine Sache ist vielleicht auch noch wichtig: Erstens ist die Zahl der potenziellen Nichtwähler drastisch zurückgegangen gegenüber den letzten beiden Jahren, also, es wird eine Wahlbeteiligung von 80 Prozent erwartet. Und zweitens gibt es hier keine euroskeptische oder rechtsradikale oder ausländerfeindliche Partei. Das ist ein Phänomen, da Spanien vor der Krise, in den letzten Jahren vor der Krise, fünf Millionen Immigranten aufgenommen hat, ohne Reaktion im Sinne einer ausländerfeindlichen Partei oder Bewegung.
Welty: Wie erklären Sie sich das, dass es aus dieser Krise heraus und aus dem Protest gegen die Krise eben nicht diesen Zulauf gibt für rechtspopulistische Parteien wie in der Mitte oder im Norden Europas?
Ehrke: Ja, eine Erklärung wäre, die konservative Partei ist eigentlich rechts genug, aber sie ist nicht antieuropäisch und nicht gegen Ausländer. Aber sie ist schon sehr hart und transportiert auch viele Teile des Frankismus noch weiter. Zweitens, die Einwanderung setzte sich zusammen zu einem großen Teil aus Lateinamerikanern, mit denen es ein kulturelles Verständnis gibt, und Rumänen, wo es zumindest eine sprachliche Näherung gibt, und dann aber auch Nordafrikanern. Und ein drittes Argument wäre, viele Spanier, deren Eltern sind auch ausgewandert als Arbeitsemigranten nach Deutschland, in die Schweiz, nach Nordeuropa, haben also selber Migrationserfahrung oder Migrationserfahrung in der Familie, sodass sie mehr Verständnis für Immigranten aufbringen können.
Welty: Was war das wahlkampfbestimmende Thema? War das die Krise?
Ehrke: Krise schon fast nicht mehr.
Welty: War es die Arbeitslosigkeit?
Wahlkampfbestimmende Themen: Prekarisierung, Korruption, Zentralstaat
Ehrke: Es war einerseits die Arbeitslosigkeit und vor allem die starke Prekarisierung der Arbeitsbedingungen. Von den neu geschaffenen Arbeitsjobs sind 30 Prozent auf nicht mehr als sieben Tage befristet, es ist also eine deutliche Verschlechterung der Beschäftigungssituation. Das war Thema, aber eigentlich standen die ökonomischen Themen, die eigentlich die wichtigen sind in Spanien, ein bisschen eher im Hintergrund. Was eigentlich immer Thema war, ist einerseits Korruptionsvorwürfe – gegenseitig natürlich – und zum anderen eine Reform der Verfassung, die angesichts der separatistischen Bewegung in Katalonien für nötig gehalten wird. Also ein neues Verhältnis zwischen dem zentralen Staat und den autonomen Regionen.
Welty: In dieser neuen spanischen Parteienlandschaft haben sich ja zunächst die Linken etabliert, jetzt sind es vor allem die Liberalen, die Furore machen. Wo und warum ist es zu dieser Wendung in der Wählergunst gekommen?
Ehrke: Es gibt ein paar Fragen, die ich auch nicht richtig beantworten kann.
Welty: Ah, ich kann sie aber trotzdem mal versuchen zu stellen!
Ehrke: Also, was erst mal unheimlich erstaunlich war, dass Podemos aus dem Stand in den Umfragen nach der Europawahl zur stärksten Partei wurde in einigen Umfragen, oder zumindest zur zweitstärksten. Ist dann wieder zurückgegangen. Dann folgten Ciudadanos, ich glaube, da ... Die kamen ja erst dieses Jahr überhaupt auf die nationale Bühne. Und ich glaube, dass viele sich gesagt haben, wir wollen eine alternative Kraft, die unverbraucht ist, neu, gegen Korruption antreten kann, aber nicht so links bitte! Dann schwang sich sozusagen Ciudadanos auf. Jetzt ist es wieder umgekehrt, jetzt ist Ciudadanos wieder die vierte Kraft in den Umfragen und Podemos die dritte.
Welty: Okay.
Podemos - "Der Lack ging ein bisschen ab"
Ehrke: Das sind Bewegungen, die so richtig ich mir eigentlich auch nicht erklären kann. Außer einer Sache, Podemos hat eine ganze Reihe von Fehlern gemacht und sie wurde auch ein bisschen ... Der Lack ging ein bisschen ab, nachdem in den Regionalwahlen Podemos, die sich vorher so als die Gegenkraft profiliert hatte, dann doch Bündnisse eingehen musste mit den Sozialisten.
Welty: Welche Fehler waren das?
Ehrke: Der Fehler war eine unheimliche Selbstüberschätzung, die aus diesen Umfragen resultierte. Die gingen davon aus, dass, sie und die Konservativen sind sozusagen die Neuen, das neue Duo, die jetzt sozusagen die Politik bestimmen werden. Als wären die Sozialisten schon weg und als gäbe es Ciudadanos gar nicht. Und sie haben natürlich nach radikalen Forderungen in der Europawahl ... sind sie sehr gemäßigt geworden, vom Programm unterscheiden die sich kaum noch von den Sozialisten, es ist eigentlich im Grunde ein sozialdemokratisches Programm.
Welty: Wir haben es schon beschrieben, Wahlen wurde bisher von zwei Parteien dominiert, jetzt sind aber vier im Spiel. Wie kommen die Spanier mit dieser, ich sage mal, neuen Unübersichtlichkeit zurecht? Und zwar Wähler wie Politiker?
"Das Interesse an Politik ist drastisch gestiegen"
Ehrke: Ich glaube, sehr gut. Ich glaube, das ist ... Das ist so ... Politiker weiß ich nicht, aber die Wähler haben mehr Optionen. Und das zeigt sich in einer wahrscheinlich sehr viel höheren Wahlbeteiligung. Und das Interesse an Politik ist drastisch gestiegen. Das war in der Krise sozusagen die Abwehrreaktion: Ich halte mich raus aus allem. Und jetzt ist sehr viel mehr Engagement spürbar und auch mehr sozusagen Diskussion, mehr politische Diskussion. Und das eben ohne diese ... ohne das Entstehen einer rechtspopulistischen Partei.
Welty: Vor einer spannenden Wahl in Spanien der Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Madrid, mein Dank geht an Michael Ehrke. Schönen Tag noch Ihnen!
Ehrke: Vielen Dank noch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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