Parlamentswahl in Polen

Der "kleine Mann" will den Wechsel

Begeisterung: Anhänger der polnischen Partei PiS (Recht und Gerechtigkeit) jubeln auf einer Wahlveranstaltung im Oktober 2015
Begeisterung: Anhänger der polnischen Partei PiS (Recht und Gerechtigkeit) jubeln auf einer Wahlveranstaltung im Oktober 2015 © JANEK SKARZYNSKI / AFP
Krzysztof Wojciechowski im Gespräch mit Axel Flemming · 25.10.2015
Die regierende Bürgerplattform habe sich in acht Jahren an der Macht abgenutzt, sagt Krzysztof Wojciechowski. Der polnische Soziologe prophezeit, dass die Verlierer der Europäisierung für die nationalkonservative Opposition stimmen werden − mit dem Resultat "höchstwahrscheinlich Machtwechsel".
Axel Flemming: Bei der Parlamentswahl in Polen heute deutet alles auf einen Machtwechsel hin. Folgen die Wählerinnen und Wähler dem, was die Umfragen über sie herausgefunden haben, dann kann die konservative Opposition mit einem klaren Sieg rechnen. Die Wahllokale sind seit 7 Uhr geöffnet und noch bis 21 Uhr. Ich spreche mit Krzysztof Wojciechowski, dem Direktor des Collegium Polonicum, das ist eine Einrichtung der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), und der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen. Guten Tag.
Krzysztof Wojciechowski: Guten Tag, Herr Flemming.
Flemming: Zwar verzeichnet Polen ein solides Wachstum und eine relativ niedrige Arbeitslosigkeit, aber offenbar nutzt das der Regierung gar nichts. Warum sind denn so viele Polen mit der liberalen Regierung unzufrieden?
Wojciechowski: Diese Wahlkampagne wird durch drei Bedürfnisse der Bevölkerung gekennzeichnet. Erstens das Bedürfnis nach Stabilität und Erhaltung des Besitzstandes. Das sind die Wähler, die sich für die "Bürgerplattform" (Platforma Obywatelska) entscheiden werden. Das zweite Bedürfnis ist das Bedürfnis nach Anerkennung und Aufwertung. Das sind alles Verlierer der Globalisierung und der Europäisierung, die dieses Bedürfnis haben. Das ist der sogenannte "kleine Mann" in Polen, und das ist die Wählerschaft der Opposition, der nationalkonservativen Partei PiS, "Recht und Gerechtigkeit" heißt diese Partei. Und das dritte Bedürfnis, das ist einfaches menschliches Bedürfnis nach Abwechslung. Die konservativ-liberale "Bürgerplattform" ist seit acht Jahren an der Macht und sie zeigt deutliche Abnutzungserscheinungen. Und mit diesem Bedürfnis nähern sich ein paar kleinere Protestparteien beziehungsweise Neuankömmlinge in der Szene wie zum Beispiel die Partei "Razem", also eine Partei, die ein Zwischending zwischen den Grünen und den klassischen Sozialdemokraten ist. Und aus dieser Mischung wird sich das Resultat dieser Wahl ergeben: höchstwahrscheinlich Machtwechsel und eine neue Szene.
Flemming: Einige Beobachter gehen ja sogar so weit, dass sie ein gespaltenes Land sehen. Können Sie denn diese These teilen zum einen − und wo sind die Hochburgen der Konservativen zum einen und der Liberalen zum anderen?
Wojciechowski: Manchmal wird mit dieser Spaltung übertrieben. Zum Beispiel beim Establishment herrscht so eine kleine Endzeitstimmung: Jetzt kommen diese machthungrigen Konservativen, diese kleinen Menschen, die sich rächen wollen für diese zehn Jahre der Demütigung. Sie werden alle Posten übernehmen, überall in allen Institutionen und so weiter ... Ich weiß nicht, ob es so kommt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass gewisse Schachzüge in dieser Richtung erfolgen werden. Aber natürlich, alle europäischen Gesellschaften sind jetzt gespalten zwischen der Gewohnheit, dass sich die Realität entwickelt, dass man immer reicher wird, dass der Fortschritt und Wachstum zu Selbstverständlichkeiten dieser Welt gehören. Und den Leuten, die Angst haben, die nicht zum Zuge gekommen sind, die Angst vor der Migration haben, vor dem Ausschluss, vor Arbeitslosigkeit haben – und diese Spannung wächst auch in der polnischen Gesellschaft. Obwohl, ich muss Ihnen sagen, dass dieses Spektrum an Parteien ein modernes, zivilisiertes Spektrum ist ohne wilde, tobende Rechtsextremisten, ohne exzessive Euroskeptiker.
Krzysztof Wojciechowski, Direktor des Collegium Polonicum Internationale Lehr- und Forschungseinrichtung der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) und der Adam-Mickiewicz-Universität Posen
Krzysztof Wojciechowski© dpa / picture alliance / Patrick Pleul
Flemming: Dennoch, die Noch-Regierungschefin Ewa Kopacz warnte vor einer kommenden "konfessionellen Republik" unter einer katholisch-erzkonservativen PiS-Regentschaft. Ist das Wahlkampfgetöse oder reale Möglichkeit?
Wojciechowski: Die Religion wertet die Menschen auf, und 40 Prozent der Bevölkerung wollen aufgewertet werden. Sie greifen natürlich zur Religion. Eine gewisse vielleicht nicht Konfessionalisierung ... ich befürchte keine religiösen Verfolgungen im Lande, aber es wird schon schwierig sein, sich als Homosexueller zu outen, weil die Reaktion der Öffentlichkeit heftig sein wird und natürlich die Gegner dieser Tendenz eingeschüchtert werden.
Flemming: Jetzt haben wir viel über Polen im Innern gesprochen und was das Land bewegt. Sollten die Konservativen an die Macht zurückkehren, wie könnte sich das auf die EU-Politik auswirken?
Wojciechowski: Hier habe ich weniger Befürchtungen als im Jahre 2005, als die Zwillingsbrüder Kaczynski die Macht übernahmen. Damals hatten wir wirklich ernsthafte Probleme mit der Europäischen Union. Sie stellten maßlose Forderungen und hielten die Union in Schach. Die Leute, die jetzt an der Macht sind, das ist eine jüngere Generation. Kaczynski agiert zwar im Hintergrund, aber in der ersten Reihe stehen jüngere Politiker − diese Generation ist pragmatischer, Europa-orientiert, weil sie trotzdem sich bewusst ist, wie groß die Unterstützung der Europäischen Union in der Bevölkerung ist. Sie wissen, dass die Polen die größten vielleicht nicht Euro-Enthusiasten ... aber in Polen die größte Akzeptanz der Europäischen Union in allen europäischen Ländern ist. Das ist mit dem Erfolg des Landes verbunden. Also sie sind sich dessen bewusst. In der Wahlkampagne haben alle, auch PiS, die rechtskonservative, die nationalkonservative Partei, Unterstützung für die Union deklariert. Also das gerade befürchte ich nicht. Obwohl in solchen Sachen wie Flüchtlingsströme oder Unterstützung für Griechenland und Verschuldete oder selbst den Beitritt zum Euro können wir keine großen proeuropäischen Gesten erwarten.
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