Parlamentswahl in Georgien

Ein zerrissenes Land

Wahlplakate in der georgischen Hauptstadt Tiflis im Oktober 2016
Wahlplakate in der georgischen Hauptstadt Tiflis im Oktober 2016 © Deutschlandradio Kultur / Gesine Dornblüth
Von Gesine Dornblüth · 06.10.2016
Georgien hat vor der Parlamentswahl viele Probleme: Es steckt in einer Wirtschaftskrise, die Menschen sind arm, die Arbeitslosenquote liegt - geschätzt - bei 50 Prozent. Außerdem möchte die Kaukasusrepublik in die EU und NATO. Verlass ist aber auf die Wahlversprechen der Politiker. Verlass ist aber auf die Wahlversprechen der Politiker.
Eine Straßenkreuzung in Kachetien. Eine Herde Kühe trottet über den Asphalt. Zwei Rinder bleiben an der Verkehrsinsel stehen, zupfen an Gras. Der Hirte trabt auf seinem Pferd heran, schwingt seine Peitsche. Ein Straßenschild weist, in Georgisch und Englisch, auf eine Weinroute hin.
Kachetien ist das Weinanbaugebiet Georgiens. Kvemo Alwani ist der letzte Ort in der Ebene, von hier geht es hinauf in den großen Kaukasus, dahinter liegt Russland. Die meisten Wege in Kvemo Alwani sind unbefestigt, die Menschen leben von dem, was der Garten hergibt. Die Kreuzung ist ihr Treffpunkt: Hier sind ein paar Läden und eine Konditorei.
Nelli Geslaidze verziert eine Sahnetorte. In einer Theke liegen Pizzastücke und Würstchen im Teigmantel.
"Wenn Schule ist, essen die Kinder hier. Und die Lehrerinnen. Im Sommer waren viele Touristen hier. Deutsche. Amerikaner. Aber die kaufen immer nur ganz wenig. Die essen nicht viel."
Über dem Kühlschrank hängt Seifenwerbung. Das Plakat ist eingerissen und vergilbt, die Wand darunter unverputzt.
"Das Leben hier ist schwer. Wir müssten renovieren. Aber wir haben kein Geld."
Georgien hat seine Wirtschaft nach der Rosenrevolution 2003 energisch reformiert. Im Doing-Business-Index erhielt das Land in diesem Jahr gleich nach dem Baltikum die besten Noten im gesamten postsowjetischen Raum. Vor allem der Tourismus boomt. Seit Georgien 2012, noch unter Präsident Saakaschwili, die Visapflicht für Russen aufgehoben hat, kommen auch wieder Urlauber aus dem nördlichen Nachbarland.

Arbeitslosigkeit nach Schätzungen bei 50 Prozent

Die Arbeitslosigkeit ist in Georgien trotzdem weiterhin hoch, Experten schätzen sie auf bis zu 50 Prozent. Und so versprechen die Parteien vor der Parlamentswahl am Samstag vor allem Arbeitsplätze. Die Bushaltestelle in Kvemo Alwani ist zugepflastert mit Wahlplakaten. Der Bewerber einer kleinen rechtsnationalen und prorussischen Partei ist zu sehen, mit einer traditionellen georgischen Filzmütze auf dem Kopf; vor allem aber der Kandidat der Regierungspartei "Georgischer Traum" im dunklen Anzug und der Kandidat der Nationalen Bewegung von Ex-Präsident Micheil Saakaschwili, hemdsärmelig, ohne Krawatte.
Tamriko und Anzor haben vor vier Jahren für einen Wechsel gestimmt, für den Georgischen Traum. Die Eheleute betreiben einen Laden und eine kleine Apotheke an der Kreuzung von Kvemo Alwani.
"Hier ist alles wie früher. Es wird nichts gebaut. Die Leute leben ihr Leben und versorgen sich selbst. Sie haben Kühe und ihre Gärten. "
Viele hier sagen: Unter Saakaschwili war es besser. Aber Politiker brauchen gute Nerven. Saakaschwili hatte sie nicht. Er hat viele Fehler gemacht. Aber er hatte wenigstens etwas getan. Und wo gehobelt wird, da fallen Späne. Die jetzige Regierung wartet lieber ab. Die sitzen gut und warten, dass sie wiedergewählt werden.
Tamriko und Anzor haben ihr Geschäft vor drei Jahren gegründet. Die Apotheke wirft bereits Gewinn ab, bei dem Laden werde es wohl noch dauern.
"Die Kredite... Die Zinsen sind zu hoch. Bis zu 25 Prozent! Und wir mussten fast sechs Wochen auf unseren Kredit warten. Ausgerechnet in Iwanischwilis Bank haben sie unseren Antrag abgelehnt."

Milliardär ist Strippenzieher im Hintergrund

Der Milliardär Bidzina Iwanischwili ist der Gründer des Georgischen Traums und die graue Eminenz hinter der Regierung. Er hat zwar kein politisches Amt, beeinflusst aber viele Entscheidungen. Seine Partei hat ein Programm für günstige Kleinkredite aufgelegt. Doch das erreicht offenbar nicht alle. Tamriko schüttelt den Kopf.
"Ich bin wirklich schon ein bisschen sauer. Vor jeder Wahl versprechen sie alles Mögliche, und nie kommt etwas dabei heraus. Aber die Leute haben Angst, das zu sagen. Weil sie oder ihre Angehörigen ihren Arbeitsplatz verlieren können. Ich zum Beispiel sage nicht überall, was ich denke. Mein Sohn arbeitet bei einer Behörde und könnte sofort gefeuert werden. Und das kann ich nicht brauchen. Ich bin ja froh, dass er dort untergekommen ist."
Tamriko will deshalb ihren Nachnamen nicht sagen. Ob ihre Angst begründet ist, ist schwer einzuschätzen. Zumindest die Vetternwirtschaft hat unter der jetzigen Regierung zugenommen. Nach dem Machtwechsel seien 5000 Beamte entlassen und stattdessen 7000 Beamte ohne transparente Bewerbungsverfahren eingestellt worden, sagt Eka Gigauri, Direktorin von Transparency International in Georgien. Allerdings hätten viele Betroffene gegen die Entlassungen geklagt und Recht bekommen.
"Das ist definitiv besser als 2012. Bis dahin haben wir immer gesagt: Der Richter ist der verlängerte Arm des Staatsanwalts. Jetzt aber kann man in Georgien einen Prozess gegen die Behörden gewinnen. Unter der Vorgängerregierung war das unmöglich. Normale Bürger können in Georgien mit fairen Prozessen rechnen."
Allerdings nicht in politisch sensiblen Fällen, so Gigauri. Seit 2012 wurden in Georgien diverse Mitglieder der Vorgängerregierung wegen Korruption oder Amtsmissbrauches zu Haftstrafen verurteilt, darunter der ehemalige Bürgermeister von Tiflis. Internationale Organisationen sprechen von politischer Justiz. Doch viele Georgier haben die Regierung unter Saakaschwili als weitaus autoritärer in Erinnerung. 2012 hatten Folterbilder aus georgischen Gefängnissen für einen Aufschrei in der Gesellschaft gesorgt. Auch deshalb wurde Saakaschwilis Partei abgewählt.

Tiflis, ein Touristenmagnet

Die Erekle-Straße in Tiflis, ein Touristenmagnet. Reisegruppen schieben sich an den Tischen der Straßencafés vorbei. Neben Georgisch wird Estnisch gesprochen, Englisch, Hebräisch, Russisch. Hier hat der Künstler Lado Tevdoradze eine Galerie. Er malt folkloristische Szenen, Frauen im Haushalt, beim Kaffee, in bunten Farben und runden Formen. Kunden gehen ein und aus. Das Geschäft läuft gut, und Lado Tevdoradze ist zufrieden.
"Wissen Sie, die jetzige Regierung arbeitet ganz gut. Denn vor allem haben wir jetzt Ruhe. Die Atmosphäre ist nicht mehr so aufgewühlt wie unter Saakaschwili. Früher wusste niemand, was am nächsten Tag wird. Kaum hatte man den Fernseher eingeschaltet, dachte man, was passiert nur morgen Schreckliches."
Tevdorazde hat die Galerie bereits vor elf Jahren eröffnet. Da lag die Rosenrevolution zwei Jahre zurück, Saakaschwili und seine Mitstreiter sorgten schnell für zwar oberflächliche, aber sichtbare Verbesserungen. Endlich gab es dauerhaft Strom. Und die korrupten Verkehrspolizisten wurden entlassen. Tevdoradze nickt.
"Die frühere Regierung hat auch viel getan, auch viel Gutes. Aber eben auch Schlechtes. Wir hatten einen Krieg. Und am Krieg ist immer die Regierung schuld."

Er meint den Augustkrieg 2008 mit Russland. Georgien ist ein geteiltes Land. Zwei Regionen, Abchasien und Südossetien, haben sich Anfang der 90er-Jahre mit russischer Unterstützung vom Mutterland Georgien losgesagt. Annähernd 300.000 Menschen wurden vertrieben. Saakaschwili war 2004 angetreten, das Land wieder zu einen. 2008 griff er Südossetien militärisch an. Vorausgegangen waren viele Provokationen von russischer Seite. So hat eine Kommission des Europarates das Geschehen im Nachhinein ermittelt. Russland sprang den Südosseten zur Seite, bombardierte Teile Georgiens, erkannte Südossetien und Abchasien noch im August 2008 als unabhängige Staaten an und errichtete dort Militärstützpunkte. Seitdem sind die Chancen der georgischen Binnenflüchtlinge auf eine Rückkehr rapide gesunken.
Tiflis, Georgien
Der Künstler Lado Tevdoradze vor seiner Galerie in Tiflis. © Deutschlandradio Kultur/Gesine Dornblüth

Leben in einem schimmligen Klassenraum

Sugdidi in Westgeorgien. Von hier sind es nur wenige Kilometer bis nach Abchasien. In der ehemaligen technischen Hochschule fehlen die Türen, auch das Parkett wurde zum Teil verfeuert. Im Flur hängt Wäsche, die Wände schimmeln. Hier leben Jamse und Reso Beradze, beide über achtzig, in einem ehemaligen Klassenraum.
"Damals hieß es: Ihr bleibt drei Tage hier, dann könnt ihr zurück nach Abchasien. Jetzt sind 23 Jahre vergangen und wir sind immer noch hier. Was soll ich sagen."
30 Familien hausen in dem Gebäude. Wasser holen sie vom Brunnen. Auch die Klos sind draußen.
"Ich bin ein alter Mann, und ich wasche mich hier im Stehen in einer Plastikwanne. Ist das etwa ein Leben?"
"Ich habe 38 Jahre im Schacht gearbeitet. Unter Tage. Jetzt bekomme ich nichts. 38 Jahre im Schacht sind kein Kinderspiel."
Am Rand von Sugdidi hat der Staat eine Neubausiedlung für Vertriebene aus Abchasien gebaut, mit Unterstützung der deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau. Die 320 Wohnungen wurden Im Frühjahr 2015 fertiggestellt, das Projekt bereits vor dem Regierungswechsel auf den Weg gebracht. Im Wahlkampf versprechen die Politiker den Vertriebenen weitere neue Unterkünfte. Auch Jamse und Rezo Beradze sollen irgendwann aus dem brüchigen Klassenzimmer umziehen können. Aber sie glauben fast nicht mehr daran.
"Die Leute in der Regierung haben so oft gesagt: Wir bauen etwas. Aber wann es soweit ist – wir wissen es nicht."
Am liebsten würden sie in ihre Heimat zurückkehren, nach Abchasien.
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