Parlament und Pandemie

"Durchregieren ist so etwas wie das Unwort des Jahres"

07:37 Minuten
Angela Merkel beantwortet Fragen zur Pandemie im Bundestag.
Demokratieforscher Wolfgang Merkel sagt, die Politik habe bei der ersten Corona-Welle erfolgreich gehandelt. Es sei aber mitnichten so, dass die Entscheidungseliten fast alles richtig gemacht hätten. © AFP / Odd Andersen
Wolfgang Merkel im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 08.02.2021
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Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel kritisiert, in der Pandemie werde das Parlament zu sehr an den Rand gedrängt. Es werde ohne Not "durchregiert" mit Verweis auf die Wissenschaft. Politik müsse aber Interessen ausbalancieren.
Liane von Billerbeck: Am 8. Februar ist seit hundert Tagen zum zweiten Mal sehr viel heruntergefahren bei uns, die Kultur liegt fast komplett auf Eis, die Grundrechte sind eingeschränkt.
Die meisten nehmen das hin nach dem Motto: Hilft ja nüscht! Welche Erwartungshaltung an die Demokratie haben wir und hat sich da in der Pandemie etwas verändert? Wolfgang Merkel ist Politikwissenschaftler und emeritierter Professor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, er war dort der Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung. Nun ist er Gastprofessor an der Hertie School of Governance in Berlin. Herr Merkel, wie schlägt sich unsere parlamentarische Demokratie nach einem Jahr Corona?
Merkel: Nicht alles ist schlecht, allerdings ist auch nicht alles gut. Dabei dürfen wir nicht verkennen, dass wir uns in einer fundamentalen Krise befinden, einer Krise, zu der wir vorher keine Beispiele gesehen haben in der Geschichte der Bundesrepublik.
Allerdings: Den Ton, der sich eingeschlichen hat bei den politischen Entscheidungseliten, dass sie mehr oder weniger alles gut gemacht hätten, kann man, gerade in Bezug auf die Demokratie, nicht haben.

"Das Parlament wurde zu sehr an die Seite gedrängt"

Billerbeck: Sie haben gesagt, nicht alles war schlecht. Was war denn gut? Fangen wir mal mit dem Positiven an.
Merkel: Gut ist das Land mit dieser Regierung durchaus durch die erste Welle gekommen. Wie weit da auch Glücksfaktoren eine Rolle gespielt haben, möchte ich mal beiseitelassen. Man hat schnell reagiert und erfolgreich reagiert.
Allerdings ist dann sehr rasch etwas aufgekommen, was von den Verwaltungsgerichten immer wieder gekippt worden ist, nämlich die Verhältnismäßigkeit der Mittel. Das soll heißen, es sind fundamentale Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger außer Kraft gesetzt beziehungsweise zeitweise eingefroren worden.
Das ist in einer solchen Krise durchaus erklärbar, aber dabei wurde das Parlament viel zu wenig gehört und in den Ländern wurde ganz stark über Verordnungen regiert – und das steht einer guten parlamentarischen Demokratie nicht an. Zu sehr wurde das Parlament an die Seite gedrängt.
Billerbeck: Das kritisieren Sie ja schon länger, ich erinnere mich, dass Sie diese Kritik schon im vorigen Jahr geäußert haben. Haben die politisch Verantwortlichen inzwischen dazugelernt oder läuft das einfach so weiter?
Merkel: Nein! In dieser Frage haben sie wenig dazugelernt, das sehen wir wieder am kommenden Mittwoch. Es wird zuerst ein informelles Gremium im Bundeskanzleramt mit der Kanzlerin und den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten stattfinden, dort wird die Entscheidung getroffen, an Gesetzes statt, und einen Tag später beginnt dann eine Debatte im Bundestag.
Ich frage mich, warum man das nicht umgekehrt machen soll und kann: Man kann ja nicht sagen, dass gerade dieses informelle Gremium im Kanzleramt immer so glasklare Entscheidung getroffen hätte, die man etwa im Parlament nicht hätte treffen können.
Hier hat man etwas getan, von dem wir nicht wissen, wie es sich auf die Zukunft unserer Demokratie auswirken wird, denn Institutionen und die handelnden Personen, in dem Fall die Regierenden und die Regierten, die haben so etwas wie ein kollektives Gedächtnis. Und dieses kollektive Gedächtnis könnte sich zu sehr an die Notstandssituation gewöhnt haben.

Unwortkandidat "Durchregieren"

Billerbeck: Das könnte ja dann auch möglicherweise ein Vorbild sein für eine nächste Krise, denn wir haben ja noch eine ganz große Krise, nämlich die Klimaerhitzung der Erde, wo ja drastische Entscheidungen getroffen werden müssen. Was meinen Sie, könnte auch da das Parlament ausgehebelt werden, weil man Entscheidungen treffen muss, die eben sehr unpopulär sein können?
Merkel: Das kann durchaus der Fall sein. Sie haben Recht, das ist eine fundamentale Krise, für die wir noch nicht die angemessenen Antworten gefunden haben – etwa die berühmten Pariser Klimaziele, nicht mehr als 1,5 oder 2 Grad Erderwärmung in den nächsten Jahren und Jahrzehnten hinzunehmen.
Wolfgang Merkel trägt einen Bart, er ist vor einem neutralen Hintergrund fotografiert. 
Auch in einer Pandemie stehe es einer Demokratie nicht gut zu Gesicht, über Verordnungen zu regieren, findet Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel.© picture alliance / dpa / Fabian Sommer
Dann könnte argumentiert werden – und das mit einer gewissen Logik – warum sollten wir das, was in der Pandemie denkbar und möglich war, nicht auch in dieser fundamentalen Frage der globalen Erderwärmung einsetzen? Wenn das so wirksam war, dann wäre es doch hier auch legitim.
Solche Stimmen gibt es längst, vor allem am Rande der Klimabewegung; Stimmen, die so etwas einfordern, um durchzuregieren. Das ist ja so etwas wie ein Unwort des Jahres.

Die Rollen von Wissenschaft und Politik

Billerbeck: Was hieße denn das für unsere Demokratie, wenn wir da möglicherweise gerade eine Blaupause erleben für künftige Entscheidungen?
Merkel: Die Qualität würde rasch gesenkt. Wir würden nicht Polen oder Ungarn werden, da bin ich relativ sicher, dafür ist die Zivilkultur in unserem Land zu stark ausgebaut und die Institutionen tatsächlich verwurzelt; auch das Grundgesetz spielt eine sehr positive Rolle. Ein autoritäres Regieren würde ich also nicht erwarten.
Aber: Wir erleben ja jetzt auch in der Krise, dass die Wissenschaften eine ganz wichtige Rolle spielen. Das ist durchaus gut so. Aber zu glauben, wie wir das ganz stark in der Klimadebatte haben, man müsse nur die vorauseilenden wissenschaftlichen Erkenntnisse umsetzen und die Politik schafft das nicht richtig, das ist ein Fehlglaube.
Die Wissenschaften sind wichtig, um Evidenzen, also Einsichten, zu produzieren, die Politik hat aber viele Ziele im Auge, in der Pandemie und in der Klimakrise: Nicht nur die Gesundheits- und Klimaziele zu erreichen, sondern auf den Arbeitsmarkt zu schauen – wer verliert einen Job, wird Wachstum generiert, wie verhalten sich die Menschen bei solchen Grundrechtseinschränkungen?
Es gibt viele Ziele – und das ist die Kunst der Politik, diese Ziele auszubalancieren. Deshalb ist es naiv anzunehmen oder gar zu fordern, "science has told us" - die Wissenschaft hat uns längst erzählt, was wir zu tun haben, und ihr Politiker und Politikerinnen setzt das gefälligst schnell um.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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