Paradiese der Südsee

Von Jochen Stöckmann |
Hildesheim ist bereits wegen der rekordverdächtigen Ägyptenausstellungen des Roemer- und Pelizaeus-Museums bekannt. Nun trumpft Museumsdirektorin Katja Lembke mit dem Thema „Südsee“ auf – und kommt ganz ohne Leihgaben aus: Mehr als 4000 Objekte aus den Inselwelten des pazifischen Ozeans gelangten vor dem Ersten Weltkrieg durch die rege Sammlertätigkeit von Handelshäusern, Missionaren und Kapitänen in die Depots des Museums.
Sanfte Klänge und leises Wellenrauschen, weißer Strand und blaues Meer – so sieht Bora-Bora aus, heute das wohl teuerste, nur noch für den Jet-Set bezahlbare „Paradies“ der Südsee. Im Hildesheimer Roemer-Pelizaeus nachgestellt als wandfüllende Videoinstallation, als käuflicher, dank modernster Medientechnik auch reproduzierbarer Mythos der Gegenwart.

Hinter dieser Fototapete aber tun sich ganz andere Welten auf, beherrscht von wundersamen Objekten wie reich ornamentierten Stirnbinden und Brustschilden, zauberhaften Amuletten in Form von Armmanschetten oder Nasenschmuck, grotesken Fabelwesen und bizarren Masken. Dazu Modelle der sogenannten Männerhäuser, Bootsrümpfe oder mit geheimnisvollen Zeichen versehene Trommeln. Sehr schön, sehr exotisch – aber was haben all diese wundersamen Dinge zu bedeuten?

„Vielfach präsentiert man sie als Kunst. Das ist jetzt hier in dieser Ausstellung nicht gemacht worden. Wir haben hier versucht, indem die Alltagsgeräte in bestimmte Verwendungszusammenhänge gestellt werden – etwa Nahrungszubereitung, Nahrungsaufbewahrung, Genussmittel – und insofern sich eine Verwendung erschließen kann. Es gibt auch erläuternde Texte, die aber sehr reduziert bleiben, um den Besucher nicht zu überfordern.“

Stattdessen setzen Ulrich Menter, wissenschaftlicher Mitarbeiter, und Museumskuratorin Inés de Castro bei der Präsentation ihrer Auswahl der erstmals gezeigten, insgesamt erstaunliche 4000 Exponate umfassenden Hildesheimer Südsee-Kollektion auf die möglichst nahe, die fast direkte Begegnung: Ohne störende Vitrinen stehen Artefakte wie Alltagsgegenstände, kostbare Opferschalen oder ganz banale Nackenstützen dem Besucher gegenüber. Einziger Schutz vor unsachgemäßer Berührung bleibt die magische Ausstrahlung dieser Objekte: Wer würde schon wagen, die furchteinflößende Kollektion der Speere, Schleudern und Wurfkeulen anzurühren, die auf einem riesigen, blutroten Präsentierteller ausgebreitet sind? Eine fast schon surrealistische Inszenierung, aber hier geht es nicht um Kunst-, sondern um Kulturgeschichte:

„Es ist auch die Frage, inwieweit nicht viele dieser Objekte, gerade was die Speere angeht, als Zeremonialgegenstand oder vielleicht auch schon für den Verkauf hergestellt wurden. Gerade weil so ein überreich beladener Speer für das eigentliche „Geschäft“ kaum zu gebrauchen war.“

Verkauft wurden die Speere nicht an Waffenhändler, sondern an friedliche Südseereisende. Und was Hildesheimer Kaufleute, Kolonialbeamte oder Forschungsreisende bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs aus deutschen Kolonien wie „Neu-Mecklenburg“ mitbrachten, muss nun, hundert Jahre später, von den Museumsleuten eingeordnet, interpretiert werden. Acht thematische Stränge sollen den Zugang zur Inselwelt der 1000 Kulturen erleichtern, darunter Abteilungen wie „Navigation und Bootsbau“, „Kleidung und Schmuck“ aber auch „Krieg und Kampf“ und natürlich „Religion“. Einen wichtigen Schlüssel bei diesem ethnologischen Ansatz fand Museumsdirektorin Katja Lembke in historischen Fotografien:

„Alte Bilder aus der Zeit, als die Objekte noch in Funktion waren. Und insofern denke ich schon, dass wir den pädagogischen Aspekt hier auch besonders betont haben. Aber dass man das jetzt richtig nachbildet im Sinne eines Nachstellens von Ritualen, das wäre dann mehr Karneval!“

Stattdessen verweisen die Fachleute im reich bebilderten Katalog auf geistesgeschichtliche Vorläufer der allgemeinen Südsee-Begeisterung. Der Hildesheimer Verleger Gerstenberg etwa plante bereits 1777 eine Schriftstellerrepublik an fernen Gestaden. Und Georg Forster, eng befreundet mit Lichtenberg, dem Göttinger Vordenker der Aufklärung, begleitete Captain Cook auf seinen Entdeckungsreisen:

„Georg Forster, wenn Sie seine „Reise um die Welt“ lesen, dann sehen Sie: Er war in erster Linie ein Naturforscher. Er hat sozusagen „by the way“, wo er unterwegs war, Dinge mitgenommen. Das waren eben interessierte, aufgeschlossene Menschen. Aber das ist sicherlich nicht so, dass man Georg Forster als Ethnologen im heutigen Sinne betrachten kann.“

Mit einigen Jahrzehnten Verspätung muss dieser Zeitgeist dann auch die Hildesheimer erfasst haben, zumindest die höheren Schichten und natürlich auch ein halbes Dutzend Abenteurer. Conrad Machens, dem eine separate Kabinettsausstellung gewidmet ist, wanderte 1878 als 22-Jähriger nach Australien aus und machte auf den Fidschi-Inseln sein Glück, stieg zum Großkaufmann auf. Er sammelte mit der Passion desjenigen, den langjährige Erfahrungen an Land und Leute banden.

Emil Nolde dagegen, der „Brücke“-Maler, ging 1913 für wenige Monate im Auftrag des „Reichskolonialamtes“ auf Expedition, begleitete einen Mediziner um, wie es in Noldes Tagebuch wörtlich heißt, „die rassischen Eigentümlichkeiten“ zu dokumentieren. Davon ist auf seinen Gemälden, Gouachen und Zeichnungen kaum etwas zu spüren. Wie auch sein Kollege Max Pechstein brachte Nolde atmosphärische Skizzen und individuelle Porträtstudien mit – durchaus keine Typisierungen oder gar Klischees:

„Da kann man Emil Nolde vielleicht nicht als Ethnologen, aber als Ethnografen bezeichnen: Er dokumentiert eine Kultur mit seinem Pinsel und mit Farbe, wie er sie damals vorgefunden hat, in einer Form, die unverfälscht ist. Er hat das Natürliche, das Ursprüngliche gesucht und hat das dann versucht festzuhalten.“

Damals, um 1920, stießen diese Anklänge an einen „Primitivismus“ noch auf Unverständnis. Heute, da Tattoos und Lippen- oder Nasenpiercing en vogue sind, werden die meisten ein wenig anders auf die Südsee-Kulturen schauen:

„Tätowierung, das Wort kommt ja vom polynesischen „tatau“, ist also eine Kunstform, die man aus der Südsee übernommen hat. Es ist in Deutschland, Europa, Amerika ein reiner Dekorationsgegenstand. Das aber in der Südsee, in den Südsee-Kulturen, die das praktiziert haben, einen bestimmten Rang, ein bestimmtes Lebensalter symbolisierte und eben auch bestimmte Rechte den Leuten zuschrieb.“

Ob es nun um sozialen Status geht oder um religiöse Riten – stets lauert hinter den Dingen eine tiefere, oft faszinierende, hin und wieder aber auch befremdliche Bedeutung. Und spätestens vor den übermodellierten, von bizarrem Schmuck bedeckten Totenschädel taucht die Frage auf, ob solche „Beutestücke“ aus fernen Kolonialzeiten heute noch im Museum ihren angemessenen Platz haben, oder nicht besser die Rückreise in die Südsee zu ihren Ahnen antreten sollten. Aber da sieht Ulrich Menter zumindest für die Hildesheimer Sammlung keine Probleme:

„Diese Rückforderungen beschränken sich im Wesentlichen auf Australien und Neuseeland. Und in dem Bereich wieder auf menschliche Überreste, Skelette, und zeremonielle, sakrale Gegenstände. Soweit ich weiß, besitzt das Roemer-Pelizaeus-Museum nichts in der Richtung.“