Papst-Kritiker: Benedikt XVI. stellt unsere Staatsordnung in Frage

19.09.2011
Benedikt XVI. habe die falschen Konsequenzen aus den Missbrauchsfällen in der Katholischen Kirche gezogen, moniert der Publizist Alan Posener. Das Denken des Papstes sei zutiefst gegen Gedanken der Moderne und Aufklärung gerichtet.
Liane von Billerbeck: Der Papst kommt nach Deutschland, und viele, viele sind begeistert. Der Andrang ist groß zu den wenigen Gottesdiensten. Benedikt XVI. durfte auch schon vorher das Wort zum Sonntag in der ARD sprechen. Es gibt aber auch laute Kritik. Einige Abgeordnete wollen die Papstrede im Deutschen Bundestag boykottieren, andere kritisieren den Papst, es geht um die üblichen Fragen, die Haltung der katholischen Kirche zu den Fällen von sexuellen Missbrauch, zum Zölibat und zur Homosexualität.

Einer, der viel weiter geht, ist der deutsch-britische Journalist und Buchautor Alan Posener, er war Redakteur bei der "Welt", Kommentarchef bei der "Welt am Sonntag" und arbeitet inzwischen als Korrespondent für Politik und Gesellschaft für die "Welt"-Gruppe. Alan Posener hat 2009 ein Buch geschrieben, das jetzt überarbeitet unter dem Titel "Der gefährliche Papst" vorliegt. Mit ihm haben wir vor unserer Sendung gesprochen. Herr Posener, was ist an Benedikt XVI. so gefährlich?

Alan Posener: Ja, seine Gedanken. Es ist ja nicht so, dass er persönlich ein gefährlicher Mensch wäre. Er ist ein persönlich ganz friedfertiger, alter Mann. Aber Gedanken sind gefährlich. Darum geht es mir: A Dangerous Mind. Und der Punkt ist der, dass Benedikt unter dem Stichwort Kampf gegen die Diktatur des Relativismus im Grunde genommen den Pluralismus meint. Dass er unter dem Stichwort Suche nach Wahrheit im Grunde genommen meint, dass die Relativität der Demokratie aufgehoben werden muss.

Er hat ja in dem Gespräch mit Jürgen Habermas, als er noch Kardinal war, gesagt, dass der Säkularismus Europas ein Sonderweg sei, der "der Korrektur bedarf" - das habe ich jetzt wörtlich zitiert: "Der Korrektur bedarf". Er will den säkularen Staat also korrigieren. Und ich glaube, das sind alles Gedanken, wo man sehr aufpassen muss. Er stellt unsere Staats- und Gesellschaftsordnung, so wie sie jetzt ist, tatsächlich in Frage.

von Billerbeck: Sie schreiben in Ihrem Buch, sie hätten gelernt, dass man auf einen am Boden liegenden nicht eindrischt. Die katholische Kirche ist ja nach dem Bekanntwerden vieler Fälle von sexueller Gewalt doch heftig erschüttert worden, gerade in Europa und auch in den USA. Es hat zahlreiche Austritte aus der Kirche gegeben, viele Debatten, viele Untersuchungen. Sie aber behaupten in Ihrem Buch, Benedikt XVI. fühle sich von diesen Missbrauchsfällen gar nicht betroffen. Zitat: "Im Gegenteil: Benedikt fühlt sich dadurch in seiner Mission bestärkt." Erklären Sie uns das.

Posener: Ja. Also, kurz zu dem Eindresche. Ich will auf gar keinen Fall auf die katholische Kirche oder Katholiken oder auf Christen eindreschen. Ich bin selbst Atheist, aber ich meine, wenn mich Christen in Frieden lassen, lasse ich Christen selbstverständlich in Frieden. Bei Benedikt geht es aber eigentlich um Folgendes: Er war verantwortlich als Chef der Glaubenskongregation für die Fälle von Missbrauch in der Kirche. Also, er war für deren Aufklärung, beziehungsweise eben für deren Vertuschung.

Und wenn man sagt, man will jemandem vergeben, dann muss man sagen, nach der katholischen Lehre muss da sein: A, Schuldeingeständnis, B, echte Reue, dann kann C, Vergebung folgen. Aber der Papst selbst, obwohl er sich mit Missbrauchsopfern trifft, obwohl er hier und da Dinge sagt, wie schrecklich das alles sei - er hat nicht seine eigene Schuld eingestanden.

Er zeigt keine Reue, im Gegenteil, er sagt, man sieht ja, wie diese schlimme weltliche Gesellschaft, diese schlimme sexuelle Enthemmung auch die Kirche affiziert, und darum muss sich erst recht mein Kampf gegen die - wie er es nennt - Antikultur des Todes fortsetzen. Das heißt, er zieht genau die falschen Schlussfolgerungen. Er sieht so zusagen - er guckt weiterhin auf den Span in unserem Auge, statt den Balken im eigenen zu erkennen.

von Billerbeck: Benedikts Vorgänger im Vatikan, Karol Wojtyla, Johannes Paul II., der wollte zwei Revolutionen rückgängig machen: Die russische, die Oktoberrevolution und die französische. Aber ihm war ganz sicher der Antikommunismus wichtiger. Benedikt XVI., so steht das in Ihrem Buch, der sei jetzt dabei, den zweiten Teil der Ziele seines Vorgängers in Angriff zu nehmen. Und bei Ihnen lese ich da, der Papst will die Moderne ungeschehen machen. Was heißt das konkret?

Posener: Ja, das heißt konkret, dass Benedikt - und das hat er so geschrieben - im Grunde genommen die Geschichte seit der Reformation, die Geschichte Europas seit der Reformation, als eine Geschichte des Abstiegs sieht. Für ihn ist der Höhepunkt der Zivilisation erreicht, sozusagen in den Jahrzehnten vor Luther. Es ist interessant, dass er jetzt nach Erfurt geht, wo Luther im Augustinerkloster seinen Anfang genommen hat. Aber was kann er da sagen? Ihm widerstrebt doch alles, wofür zum Beispiel der Protestantismus steht.

Ihm widerstrebt alles, wofür die Aufklärung steht. Ihm widerstrebt alles, wofür Kant steht: Ausgang der Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit, indem sie lernen, für sich selbst, also ihre Vernunft selbst zu gebrauchen, während der Papst sagt, die Vernunft braucht die Korrektur durch die Religion. Das ist etwas ganz anderes, das ist die alte kirchliche Kontrolle. Darum sage ich, dass ihm der Grundgedanke der Moderne, dass die Menschen selbstbestimmt sind - ihm ist dieser Gedanke zutiefst zuwider.

von Billerbeck: In Ihrem Buch steht auch, dass die erste Behörde, die der Papst eingerichtet hat, der päpstliche Rat für die Neu-Evangelisierung war. Also keine Überprüfung des Zölibats, keine zur Überprüfung der Haltung der Kirche zu Homosexuellen, nein, diese. Meine Frage: Ist das nicht das Ziel der Kirche? Mission. Muss er so was nicht tun, der Papst?

Posener: Absolut. Natürlich ist es das Ziel der meisten Religionsgemeinschaften, zu missionieren, obwohl - ich meine, die Juden tun es nicht, also man muss das keinesfalls tun. Atheisten tun es nicht, ...

von Billerbeck: Keine Glaubensgemeinschaft in dem Sinne.

Posener: Ja, gut, aber es wird ja Atheisten immer vorgeworfen, wir seien so eine Art Kirche, nicht wahr? Also, es ist ja schon interessant, zu sagen, es ist der Islam und es ist das Christentum, das sind die großen Missionsgemeinschaften. Die Frage ist aber: Wie tue ich das? Wenn ich es auf die Weise tue, dass ich sage: Hör mal, lebe so und du bist glücklicher, und außerdem lebst du ewig - das ist sozusagen der Unique Selling Point dieser großen Religionen -, bitte schön!

Wenn ich es aber so tue, dass ich die Gesellschaft um die Leute herum ständig schlecht mache, ständig kritisiere, ständig sage, das ist dann die Diktatur des Todes, Homosexuelle sind objektiv gestört, Frauen, die selbst arbeiten, lehnen sich im Grunde genommen auf gegen Gottes Ordnung - wenn ich also auf diese Art und Weise missioniere, durch Schlechtmachen der anderen, dann finde ich, gewinnt man übrigens die falschen Leute, man gewinnt die schmallippigen Ressentimentgeladenen, und zweitens fühle ich mich in meiner demokratischen Verfasstheit, wenn Sie wollen, als Bürger eines säkularen Staates zutiefst getroffen.

von Billerbeck: Also darf ein Demokrat nicht Mitglied der katholischen Kirche sein?

Posener: Doch. Selbstverständlich darf er das, und außerdem liegt es nicht an mir, irgendjemandem zu verbieten, irgendetwas zu sein und an irgendetwas zu glauben. Aber wenn jemand Demokrat ist und Mitglied der katholischen Kirche ist, dann sollte er sich fragen, ob der Papst wirklich in seinem Namen spricht, oder in ihrem Namen. Und ich glaube, dass die meisten Frauen in unserem Land überhaupt nicht so denken wie dieser Papst und überhaupt nicht gut finden, dass der Papst in ihrem Namen spricht.

von Billerbeck: Es gibt ja einen Satz, den kennt fast jeder, selbst, wenn er es mit dem Herrgott und der Kirche nicht so hat. Ich meine den Beginn der Bibel: "Am Anfang war das Wort." Sie mutmaßen aber schon in diesem Satz Gefahr. Wie das?

Posener: Na, nicht in dem Satz - das ist der Beginn des Johannes-Evangeliums - sondern in der Art, wie Benedikt diesen Satz instrumentiert. Er sagt, am Anfang war das Wort, Logos, griechisch: Vernunft. Deshalb sagt er: Am Anfang der Welt ist die Vernunft, am Anfang der Religion ist die Vernunft, deshalb ist die Religion vernünftig, deshalb ist unsere Religion vernünftig, darum bilden Religion und Vernunft keinen Gegensatz, im Gegenteil, die Vernunft ist bei der Religion.

Und das ist natürlich so ein Zirkelschluss, nicht wahr? Wenn er sagt, ja, die Religion darf der Vernunft nicht widersprechen, gleichzeitig aber sagt, Ja, aber am Anfang des Johannes-Evangeliums steht, am Anfang war die Vernunft, das heißt, wir sind die Vernünftigen! Sie verstehen, das ist ein etwas merkwürdiger Gedankengang, aber es läuft drauf hinaus, dass die aufklärerische Vernunft, die sagt, wir müssen alles hinterfragen mithilfe unseres Verstandes, aufgehoben wird, scheinbar im Namen der Vernunft, und ersetzt wird durch die Religion. Das finde ich schon einen Rückschritt hinter 300 Jahren europäische Kultur.

von Billerbeck: Der deutsch-britische Journalist Alan Posener ist bei uns zu Gast. Warum er Benedikt XVI. gefährlich findet, das ist unser Thema. Herr Posener, wenn man Ihnen zuhört, dann könnte man annehmen, Sie sehen in dem deutschen Papst einen Fundamentalisten. Ist das so?

Posener: Ja, natürlich ist er ein Fundamentalist. Er ist ein christlicher Fundamentalist. Nicht ganz so, wie man das sonst versteht, wie ein buchgläubiger Fundamentalist in den Südstaaten der USA, solche Leute. Nein, natürlich nicht. die katholische Kirche ist nicht buchgläubig. Manche Leute werfen ihr das sogar vor.

Er ist aber jemand - Benedikt ist jemand, Joseph Ratzinger ist aber jemand, für den vollkommen klar ist, dass zu allererst die Glaubenswahrheiten kommen, danach alle anderen Wahrheiten. Darum zum Beispiel hat er Bischof Williamson in die Kirche zurückgeholt, obwohl Bischof Williamson lügt. Bischof Williamson sagt, den Holocaust hat es nicht gegeben. Das ist eine Lüge, eine geschichtliche Lüge. Aber das ist zweitrangig gegenüber der Tatsache, dass Bischof Williamson die Glaubenswahrheiten - und ich hoffe, Sie hören die Anführungszeichen mit - der katholischen Kirche "akzeptiert".

Fakt ist: Man kann in der katholischen Kirche laut Benedikt Mitglied sein, sogar Bischof sein, wenn man den Holocaust leugnet, aber man kann nicht einmal das Abendmahl empfangen, wenn man als Frau wiederverheiratet ist nach einer Scheidung. Das soll mir mal jemand klarhaben, was das mit Barmherzigkeit, mit der Lehre Jesu von Nazareth oder irgendetwas Christlichem zu tun hat.

von Billerbeck: Herr Posener, kann ein katholischer Papst eigentlich anders sein, als "Stellvertreter Gottes auf Erden" und der Aufklärung zugetan?

Posener: Ja, doch, das könnte er schon sein. Es gibt ja so eine Art Friedensangebot der Aufklärung an die Kirche. Und die sagt: Wir kümmern uns um die Wissenschaft, um die Politik, um das Zusammenleben der Menschen, so, als gebe es Gott nicht. Und ihr kümmert euch um eure Menschen, um den Weg ins Himmelreich, so, als gäbe es die Wissenschaft und die Politik auch nicht.

Das heißt, selbstverständlich kann die Religion neben und in einem säkularen Staat existieren. Das ist ja doch genau das, was wir von den Muslimen ja verlangen. Wir sagen: Akzeptiert doch alles, akzeptiert unsere verfassungsmäßige Ordnung. Akzeptiert doch, dass wir die Wissenschaft über - sagen wir, dass es Aufklärungsunterricht gibt in den Schulen, und so weiter, dass Frauen selbstbestimmt sind.

Und dann kümmert euch sozusagen innerhalb eurer Religionsgemeinschaft darum, dass die Menschen gut leben, so wie ihr das für gut befindet. Genau dieses Angebot muss man doch der katholischen Kirche machen. Aber es scheint, es sind nicht nur Muslime, die Probleme haben damit, das anzuerkennen.

von Billerbeck: Also, Religion als Privatsache?

Posener: Ja, absolut. Das ist übrigens für die Religion das Beste! Solange Religion Privatsache ist, solange muss man sich nicht deshalb die Köpfe einschlagen.

von Billerbeck: Sagt der deutsch-britische Journalist und Buchautor Alan Posener über Benedikt XVI., der diese Woche Deutschland besuchen wird. Danke für das Gespräch!

Posener: Ich danke auch!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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