100 Jahre DIN A4
Die ideale Papierformate berechnen sich: x:y gleich 1:1,41. Das wiederum hatte im 18. Jahrhundert schon der Göttinger Aufklärer Georg Christoph Lichtenberg festgestellt. © imago images / imagebroker
Rechteckig, praktisch, gut!
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Fast alles ist in Deutschland genormt und natürlich auch das Schreibpapier. Doch die Einführung der wohl bekanntesten DIN-Norm DIN A4 war gar nicht so unproblematisch, wie man denken mag.
„Kürzlich fand im Reichswirtschaftsministerium eine Sitzung von Interessenten aus der Papierbranche statt, in der über die Frage der Normung von Papierformaten verhandelt wurde.“
So steht es im „Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung“ vom 2. Februar 1920. Und weiter:
„In der Sitzung lehnten die Vertreter von Geschäftspapieren und Kartothekenpapier diese Reform auf das entschiedenste als unpraktisch und unmöglich ab, wogegen die verbrauchenden Industriezweige und die Maschinenfabriken lebhaft dafür eintraten. Nach scharfer Diskussion verließen die Hersteller den Sitzungssaal.“
Papierstreitereien, so viel steht fest, sind keinesfalls von Pappe. Doch gemach!
„Den neuen Formaten wird kein Widerstand mehr entgegengesetzt“, heißt es 1922 dann sogar schon bei den nachgeordneten Briefumschlagfabrikanten: Ganz Germanien ist auf DIN A0-1-2-3-4-5 abonniert. Ganz Germanien? Offenkundig nicht. Erst 14 Jahre später, Deutschland jubelt einem Diktator zu, vermag ein Glossenschreiber im „Jeverschen Wochenblatt“ zu triumphieren:
„Ich kann gar nicht sagen, wie ich mich freute, als ich jüngst im ´Deutschen Reichsanzeiger` las, dass die Überwachungsstelle für Papier Anordnungen für die Herstellung einheitlich genormter Papierformate erlassen hat, die mit einem Schlage alle krausen und launenhaften Formgrößen von Schreib-, Schreibmaschinen- und Schreibmaschinendurchschlagpapier verschwinden lassen werden (…) und – was mich vor allem herzlich freute – Zuwiderhandlungen unter Strafe stellen!“
Die Normierung der Dinge ist sehr deutsch
Herzliche Freude über Zwang und Strafe – das ist deutsch! Die freiwillige und konsensuelle Normierung ist allerdings auch deutsch. Und im Falle der Papierformate – ehemals die 476. DIN-Norm, publiziert im August 1922 – gelang es sogar, die Anforderungen von Effizienz und Ästhetik miteinander zu versöhnen. Beide Motive nämlich standen Pate bei einem Vereinheitlichungsprojekt, das einer jahrhundertealten Bürde begegnen sollte:
„Bisher war unser Umgang mit Papier auf die Bewältigung von Formatwildheit eingestellt“, so der Mathematiker und Normungstheoretiker Walter Porstmann – der Mann, dem wir die DIN-Formate verdanken – und der dem deutschen Schulwesen immense Kosten erspart wollte:
„Wie kann man von den Kindern fordern, dass sie ihre Bücher gut behandeln und halten, (…) wenn jeder Schulbuchverleger die verschiedensten Formate für die Schulbücher herausbringen darf? Eine der bekanntesten Folgen der Formatunordnung ist ja eben leichte Beschädigung überstoßender Ecken und Kanten. Durch die Gleichheit der Schulbuchformate werden auch auswechselbare und dauerhafte Schutzhüllen für die Bücher ermöglicht.“
Die Formel, die dem DIN-A4-Papier die Form gab
Dummerweise hat der Siegeszug der Papierformate das Buchwesen nie ganz erreicht, wiewohl er von einem noch heute berühmten Büchermenschen ausging, dem Göttinger Aufklärer Georg Christoph Lichtenberg. Der schrieb 1786 in einem Brief:
„Ich gab einmal einem jungen Engländer, den ich in Algebra unterrichtete, die Aufgabe auf, einen Bogen Papier zu finden, bey dem alle Formate (…) einander ähnlich wären.“
Ähnlichkeit bedeutet: Wenn man den Bogen hälftelt oder verdoppelt, bleiben die Seitenverhältnisse gleich, und dahinter versteckt sich das Kriterium der Effizienz. Wer aus heutigem A0-Papier A1 machen will, schafft das ohne Verschnitt; dito enthält ein A2-Bogen 2 A3-Bögen, 4 A4-Bögen oder 8 A5-Bögen. Kein Verschnitt heißt: maximale Materialausnutzung. Nachhaltigkeit. Die passende Formel steht schon bei Lichtenberg:
„Die kleine Seite des Rechtecks muss sich (...) zu der großen verhalten wie 1:√2.“
Und weil die Wurzel aus zwei eine irrationale Zahl ist, wird in der Praxis gerundet. Ideale Papierformate berechnen sich somit: x:y gleich 1:1,41. Wo aber steckt jetzt die Ästhetik?
„Die Form hat etwas Angenehmes und Vorzügliches vor der gewöhnlichen“, schloss Lichtenberg seinen Brief und stellt damit etwas fest, was seit 100 Jahren alle Menschen nachvollziehen können: Dieses Seitenverhältnis schmeichelt Hand und Auge.
Und was ist mit individuellen Formen?
Ein lang gestrecktes Rechteck etwa wäre im Zugriff sperrig und ließe beim Lesen das Auge ständig Zeilen springen; ein Quadrat wäre zu breit und ermüdend. Zudem folgen Quadrate dem Kriterium der Ähnlichkeit gar nicht; wenn man sie hälftelt, kommt ein längliches Rechteck heraus. Das erklärt allerdings nicht das krumme Maß unseres Standardformats A4 mit 210 zu 296 Millimetern.
Es geht auf den Wunsch zurück, die Urnorm A0 möge genau einen Quadratmeter Papier umfassen: x•y= 1. Bringt man das mit der Seitenverhältnisgleichung zusammen, kommen schiefe Werte heraus: A0 misst 841 Millimeter zu 1.189 Millimetern. Funktionalität und Schönheit haben eben ihren Preis – auch den der Einschränkung: So wie ein Liebes-SMS kürzer als eine Liebes-Mail ausfällt, dürfte der normierte A4-Brief überbordende Gefühle ein bisschen eingegrenzt haben.
Individualität passé? Ach was! Auch bei Büchern gibt es allen DIN-Normen zum Trotz zuweilen noch quadratische und grotesk lang gestreckte Einzelformate. Wieso um alles in der Welt?
„Die Normung hört auf, wo der Wettbewerb anfängt“, erklärt uns ein historischer O-Ton von 1963 und setzt uns auf die richtige Spur: Wo Wettbewerb beginnt, kann Normung durchaus stören. Entgegen dem Bestrafungsfuror der Nazis ist die Unterwerfung unter DIN-Normen freiwillig und folgt der Rationalität des Nutzens. Selbstverständlich darf man auch selbstformatiertes Papier in seinen Drucker legen; er funktioniert dann halt nicht anständig.
Bücher hingegen wollen manchmal auch äußerlich so normvergessen sein, wie es ihr Inhalt ist. Deswegen bleibt das normgeschreinerte, effizient seinen Raum ausnutzende Regal bis zum Ende des Buchzeitalters ein vergeblicher Traum. Die Idee, das flache DIN-Papierformat dreidimensional aufzurichten und normierte Raumformate zu gewinnen, lag allerdings schon 1922 in der Luft. Die Vorteile sind nicht zu leugnen, wie der DIN-Mann aufzählte:
„Vielseitige und wiederholte Verwendbarkeit der Behälter, einheitliche Raumformate lassen sich leichter stapeln und befördern, bessere Raumnutzung bei Stapelgütern und Fahrzeugen (Eisenbahnwagen)“, heißt es dazu in Porstmanns „Die Dinformate und ihre Einführung in die Praxis“.
Ganz en passant hat Walter Porstmann damit das Frachtcontainersystem erfunden. Auch globale Entwicklungen fangen eben ganz klein an.