Panorama polnisch-jüdischer Geschichte

Rezensiert von Martin Sander |
Die polnische Erzählerin Hanna Krall entwirft in "Eine ausnehmend lange Linie" ein Panorama polnisch-jüdischer Geschichte im 20. Jahrhundert. Sie rekonstruiert dabei den Alltag der jüdischen Bewohner eines Mietshauses in Lublin und schlägt weite Bögen in die Vergangenheit von Wunderrabbis und orthodoxer Gelehrsamkeit.
"Nichts Schlimmes kann mir geschehen", sagt der Dichter Józef Czechowicz zu der ihm in Freundschaft verbundenen Dichterin Franciszka Arnsztajnowa. Beide treffen sich zu Beginn des Zweiten Weltkriegs ein letztes Mal in Warschau. Um seiner Behauptung Glaubwürdigkeit zu verleihen, zeigt Czechowicz der Arnsztajnowa seine Lebenslinie auf dem linken Handteller – eine ausnehmend lange Linie. Kurz darauf kehrt er in beider Heimatstadt Lublin zurück und wird dort während eines Friseurbesuchs von einer deutschen Fliegerbombe tödlich getroffen.

Die Todesumstände des gerade erst 36-jährigen Czechowicz sind historisch verbürgt - die der knapp vierzig Jahre älteren Dichterfreundin Franciszka Arnsztajnowa bis heute ungeklärt. Wahrscheinlich starb sie, die Polin jüdischer Herkunft, 1942 in einem Spital im Warschauer Getto, vermutlich durch die Kugel eines SS-Manns. Womöglich hatte sie sich, als die Tür aufgerissen wurde, vom Bett erhoben und war ihrem Mörder mit den Worten begegnet: "Schießen Sie."

In ihrem neuesten Buch unter dem Titel "Eine ausnehmend lange Linie", das jetzt auf Deutsch im Verlag Neue Kritik vorliegt, hat die polnische Erzählerin Hanna Krall ein Panorama polnisch-jüdischer Geschichte im 20. Jahrhundert entworfen. Die Begegnungen von Franciszka Arnsztajnowa und Józef Czechowicz nehmen dabei einen bedeutenden Platz ein. Sie finden zumeist in einem Mietshaus aus dem frühen 16.Jahrhundert in der Altstadt von Lublin statt.

Ende des 19. Jahrhunderts hatten Franciszka Arnsztajnowa und ihr Mann, ein angesehener jüdischer Arzt, dieses Mietshaus erworben. Hanna Krall geht es nicht nur um die Arnsztajns, ihre Freunde und Verwandten. Sie rekonstruiert auch den Alltag der übrigen jüdischen Bewohner und schlägt bei Gelegenheit weite Bögen in die Vergangenheit von orthodoxer Gelehrsamkeit und und chassidischen Wunderrabbis.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird das Mietshaus mehr und mehr zu einem Ort assimilierter jüdischer Existenz. Minutiös berichtet die Autorin von Ärzten, Schriftstellern, einem Hausbesorger, einem Versicherungsvertreter oder einem Arbeitslosen. Der Holocaust vernichtet nahezu alle Spuren jüdischen Lebens in Polen, so auch im Haus der Arnsztajns. Die Juden von Lublin, die etwa die Hälfte der Stadtbevölkerung stellten, werden erschlagen, erschossen oder in die Todeslager von Majdanek, Sobibor und Belżec deportiert. Hanna Krall spürt den spärlichen Erinnerungen an die Toten aus dem vormals Arnsztajnschen Mietshaus nach. Aber sie führt auch die unglückliche, nicht selten albtraumhafte Existenz der neuen polnischen Bewohner vor. Die Brücken zur Vergangenheit scheinen nach dem Zweiten Weltkrieg abgebrochen.

Die Schriftstellerin Hanna Krall ist bekannt dafür, mit den Mitteln des Erzählens gegen das Vergessen der jüdischen Vergangenheit in Polen zu kämpfen. Dafür wurde sie mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet. 1937 kam Hanna Krall in Warschau zur Welt und überlebte, weil sie als jüdisches Kind versteckt wurde. Sie hat ihr Schreiben immer wieder mit der Arbeit einer Archäologin verglichen, die die Splitter und Scherben der Vergangenheit in Literatur verwandelt. Diesem Verfahren verdanken wir auch "Eine ausnehmend lange Linie". In gründlich recherchierten Episoden und in einer knappen, nüchternen Sprache erzählt die Autorin eine unglaubliche, wahre Geschichte.

Hanna Krall:
Eine ausnehmend lange Linie.

Aus dem Polnischen von Roswitha Matwin-Buschmann, Verlag Neue Kritik, 135 S.