Panofsky im Panzerschrank

Typoskripte der Habilitation von Erwin Panofsky
Typoskripte der Habilitation von Erwin Panofsky © picture alliance / dpa / ZI
Stephan Klingen im Gespräch mit Britta Bürger |
Mehr oder weniger zufällig ist die Habilitationsschrift des Hamburger Kunsthistorikers Erwin Panofsky aufgetaucht. Die Schrift, die die Gestaltungsprinzipien Michelangelos im Vergleich mit denen Raffaels untersucht, lagerte in einem alten Panzerschrank. Stephan Klingen hat sie gefunden.
Britta Bürger: Er war Jahrgang 1892 – der Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler Erwin Panofsky, einer der klügsten Köpfe seiner Zunft. Seit 1921 lehrte er an der Hamburger Universität. 1926 wurde er dort Professor, bis er 1933 in die USA emigrieren musste und fortan in Princeton lehrte. Er schrieb über Michelangelo und die Renaissance, über Dürer, die niederländischen Meister und auch über das Kino.

Seine 1920 verfasste Habilitationsschrift, die blieb allerdings durch die Flucht auf der Strecke, sie verschwand und konnte bislang auch von den akribischsten Forschern nicht gefunden werden – allen voran von Panofskys Witwe, der Kunsthistorikerin Gerda Panofsky. Doch nun hat Stephan Klingen vom Zentralinstitut der Zeitgeschichte in München dieses sagenumwobene Manuskript
durch Zufall gefunden. Schönen guten Tag, Herr Klingen!

Stephan Klingen: Guten Tag!

Bürger: Wie genau sind Sie denn auf dieses Manuskript gestoßen?

Klingen: Ja, erst mal eine kleine Korrektur: Das ist das Zentralinstitut für Kunstgeschichte und nicht für Zeitgeschichte …

Bürger: Stimmt.

Klingen: Das gibt’s hier zwar auch, aber …

Bürger: Klar, ist völlig klar.

Klingen: Also dieses Manuskript ist aufgetaucht in einem Panzerschrank aus der Zeit, als das Gebäude, in dem wir heute residieren, noch die Parteizentrale der NSDAP war, und ursprünglich diente es zum Aufbewahren der Mitgliederkartei der NSDAP.

Von diesen Panzerschränken haben wir hier im Haus so an die 40 bis 50 mindestens, ich weiß die genaue Zahl gar nicht, aber in einem dieser Schränke … und diese Schränke dienten nach dem Krieg den ganzen Institutionen, die hier im Haus saßen, einfach dazu, ihr eigenes Aktenmaterial zu verwahren beziehungsweise Kataloge und teilweise auch von der Archäologischen Staatssammlung irgendwelche Münzen oder so etwas.

Und von zweien dieser Schränke vermissen wir seit geraumer Zeit die Schlüssel. Und der ganze Hintergrund dieser Entdeckung war dann, dass wir uns irgendwann entschlossen haben, einfach mal in diese Schränke reinzugucken, indem wir einen professionellen …

Bürger: Panzerknacker.

Klingen: Ja, sozusagen, einen Tresorknacker beauftragt haben, die also aufzubrechen. Und das hat der auch gemacht, und der eine war völlig leer, und in dem anderen war dann zu unserem großen Erstaunen eine große Menge Aktenmaterial, der war regelrecht vollgestopft, dieser Schrank, bis unter die Decke sozusagen. Und es handelte sich eben um Aktenmaterial, das war also relativ schnell klar, aus der Amtszeit unseres Gründungsdirektors Ludwig Heinrich Heydenreich.

Das hat aber dann auch nicht sofort dazu geführt, dieses Manuskript nun zu entdecken, der eigentliche Anlass war eine Anfrage eines französischen Kollegen, der uns dann – oder mich – konkret veranlasst hatte, noch mal nachzuschauen, der hatte eine Nachfrage nach dem Handeln von Heydenreich im Frankreich-Feldzug. Der hat er nämlich eine Rede in Fontainebleau vor Soldaten gehalten, und die wollten wissen, ob wir wissen, worüber er da geredet hat. Und im Zusammenhang … Und da hab ich dann alles noch mal versucht durchzuschauen, und dabei fiel mir dieses Manuskript oder Typoskript in die Hände.

Bürger: Ludwig Heinrich Heydenreich war erst ein Schüler, dann ein späterer Kollege von Erwin Panofsky am Kunsthistorischen Seminar in Hamburg, hat dann aber, während Panofsky emigrieren musste als Jude, hat Heydenreich unter den Nazis Karriere gemacht. Kann man denn davon ausgehen, dass er das Manuskript bewusst versteckt hat? Schließlich sind die beiden sich ja wohl 1967 noch mal begegnet, und er hat nichts dazu gesagt.

Klingen: Ja, also Heydenreich … Man kann jetzt nicht sagen, dass Heydenreich Karriere in diesem Sinne gemacht hat, wie das jetzt klingt. Also Heydenreich hat selber ’34 in Hamburg sich habilitiert und hatte dann so ein bisschen die Funktion, den verwaisten Lehrstuhl von Panofsky – also auch was die Institutsverwaltung angeht – zu vertreten.

Unsere Theorie ist jetzt, dass zu diesem Zeitpunkt dieses Manuskript sich noch in der Hamburger Universität oder im Hamburger Seminar befand und dass zu diesem Zeitpunkt Heydenreich sich das Manuskript genommen hat. Und aus welchen Gründen er das getan hat, vielleicht auch, um es zu schützen, das wissen wir natürlich nicht.

In der Tat hat es dann nach dem Krieg mehrere Begegnungen zwischen Heydenreich und Panofsky gegeben. Die erste war 1948, als Heydenreich eine Gastprofessur in den USA angetreten hat. Dort hat er dann Panofsky geschrieben und hat um ein Treffen gebeten. Und dieses Treffen hat dann auch in Princeton, wo Panofsky damals lehrte, am Institute for Advanced Studies, dann auch tatsächlich stattgefunden. Und er hat dann auch bei ihm übernachtet – das hat mir die Witwe Panofskys, Gerda Panofsky erzählt –, und es hat auch in dieser Zeit noch ein zweites Treffen gegeben. Und natürlich wundert man sich, warum dann dieses Manuskript nicht zur Sprache gekommen ist.

Bürger: Er war einer der wichtigsten Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts, der jüdische Exilant Erwin Panofsky. Durch Zufall hat Stephan Klingen vom Münchener Zentralinstitut für Kunstgeschichte Panofskys Habilitationsschrift jetzt in einem alten Schrank gefunden, die Details erzählt er uns hier im Deutschlandradio Kultur. Jetzt nennen wir mal den konkreten Titel dieses Manuskripts: "Die Gestaltungsprinzipien Michelangelos, besonders in ihrem Verhältnis zu denen Raffaels".

Klingen: Genau.

Bürger: Welche Vermutungen und Legenden gab es denn bislang zum Verlust dieser Studie?

Klingen: Also es gibt eine … Es gab die Bemühungen von Horst Bredekamp 1992, anlässlich des 100. Geburtstags von Panofsky, sich auch noch mal mit dieser verlorenen Studie zu beschäftigen …

Bürger: Horst Bredekamp, ein Berliner Kunsthistoriker.

Klingen: Genau … Und er hat das versucht auf der Grundlage des Gutachtens des damaligen Hauptgutachters Pauli, das man kurze Zeit vorher, soweit ich weiß, in Hamburg in den Universitätsakten gefunden hat. Und er hat da auf sehr kluge Weise versucht, irgendwie aus diesen gutachterlichen Stellungnahmen Paulis die ungefähren Inhalte dieser Habilitationsschrift zu destillieren. Und das ist ein sehr interessanter Versuch, und man wird in Zukunft sehen, inwieweit Herr Bredekamp dort seherisches Potenzial entfaltet hat, wenn das Manuskript dann mal in Gänze ediert ist.

Bürger: Welche Bedeutung hat diese Arbeit denn für die Geschichte der europäischen Kunstgeschichte? Warum sagt man, das ist jetzt ein so besonderer Fund, was hat Panofsky da genau untersucht?

Klingen: Also Sie haben es ja mit dem Titel schon gesagt, es ist eine stark formanalytisch geprägte Studie, und das ist eigentlich für Panofsky ziemlich überraschend. Er ist ja eigentlich … Er steht mit seinem Namen und mit seiner Beteiligung an der sogenannten Hamburger Schule für eine Richtung der Kunstgeschichte, die sich vor allen Dingen mit der Bedeutung von Kunstwerken und weniger mit den stilistischen und formalen Eigenschaften von Kunstwerken beschäftigt hat. Und insofern ist es also, man kann fast sagen ein Panofsky vor dem eigentlichen Panofsky, aber wissenschaftsgeschichtlich und natürlich auch für die persönliche Biografie von Panofsky ist es natürlich hochspannend zu sehen, wie er sich von solchen Positionen zu dem entwickelt, also zu dem Vertreter der Ikonografie und Ikonologie entwickelt, wie das dann später der Fall gewesen ist.

Bürger: Was wird mit diesem Manuskript jetzt passieren?

Klingen: Also wir haben Frau Panofsky eine elektronische Version, also einen Scan dieses Manuskripts schon vor geraumer Zeit, also kurz nach der Entdeckung zur Verfügung gestellt, und sie ist in der Lage, die Handschrift Panofskys – denn es besteht mindestens zu 50 Prozent aus handschriftlichen Eintragungen – gut zu lesen. Die Schrift ist wirklich nicht einfach zu lesen, und Frau Panofsky wird dieses Manuskript wissenschaftlich transkribieren und edieren, und wir hoffen dann, dass es im Laufe dieses Jahres der wissenschaftlichen Community noch zur Verfügung gestellt werden kann.

Bürger: Sie selbst, die hochbetagte Witwe, ist Kunsthistorikerin und hat wohl selbst am allerlängsten danach gesucht.

Klingen: Ja, also es war halt immer ein, sagen wir mal eine offene Wunde. Sie arbeitet momentan – und das ist eben der glückliche Zufall und ein sehr glücklicher Umstand insbesondere – arbeitet an einer Biografie über den frühen Panofsky, und da war das natürlich genau die Lücke in der wissenschaftlichen Biografie ihres Mannes, die eigentlich zu schließen war. Und sie hatte sich unmittelbar vor dem Fund noch mit der Universität Hamburg und mit den entsprechenden Archiven in Verbindung gesetzt, um genau noch einmal nachzufragen, ob es denn nicht möglich wäre, dieses Manuskript in den Unterlagen dort zu finden. Und es war wirklich keine 24 Stunden später, dass unser stellvertretender Direktor, Professor Augustyn, und ich ihr diesen Brief geschrieben haben oder diese E-Mail nach Princeton geschrieben haben, dass das Manuskript jetzt bei uns in diesem Schrank aufgetaucht ist.

Bürger: Und auch gut erhalten ist.

Klingen: Ja, es ist hoch fragil, weil es eben so aus vielen Anstückungen und Anklebungen besteht – also Panofsky hat dann immer an die Seiten unten was rangeklebt und dann weitergeschrieben, und man muss sehr vorsichtig sein im Umgang damit, aber es ist durchaus so erhalten, dass es problemlos zu transkribieren ist.

Bürger: Eines interessiert mich auch noch zum Schluss: Warum haben Sie das Ganze heute so spektakulär und anscheinend exklusiv von der "FAZ" veröffentlichen lassen und nicht von der in München sitzenden "Süddeutschen"?

Klingen: Also es gab Kontakte von Gerda Panofsky zur "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", wenn Sie das schon ansprechen, und es war mit ihr so abgesprochen. Also wir haben uns da nicht über ihren Wunsch hinwegsetzen wollen.

Bürger: Der Kunsthistoriker Stephan Klingen über seinen spektakulären Fund der Jahrzehnte verschollenen Habilitationsschrift des Kunsthistorikers Erwin Panofsky über Michelangelo. Danke Ihnen, Herr Klingen, für das Gespräch!

Klingen: Gerne!

Bürger: Und was Ihr Kollege Horst Bredekamp von der Humboldt-Universität dazu denkt, das hören wir heute Abend in unserer Sendung "Fazit".


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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