Pankaj Mishra über das Erbe des Imperialismus

„Jeder Gemeinsinn ist zerschreddert“

37:37 Minuten
Eine Patientin sitzt auf einem Bett, sie trägt einen Mundnasenschutz. Hinter ihr ist eine Sauerstoff-Flasche zu sehen.
In der Coronapandemie ist Indien hart getroffen. Dies liege nicht zuletzt an den falschen Glaubenssätzen der ehemaligen Kolonialmacht, sagt Pankaj Mishra. © picture alliance / AA / Imtiyaz Khan
Moderation: Catherine Newmark · 02.05.2021
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Mit imperialer Arroganz trage der Westen seine Werte in die Welt, kritisiert der indische Publizist Pankaj Mishra: Die Rede von Demokratie und Menschenrechten verschleiere das Erbe kolonialer Ausbeutung – mit gravierenden Folgen bis heute.
Dass Indien von der Coronapandemie derzeit besonders hart getroffen werde, liege nicht zuletzt an den falschen Glaubenssätzen der ehemaligen Kolonialmacht, sagt Pankaj Mishra. Obwohl das Virus "eine Schneise der Verwüstung" durch das Land schlage, vertraue die Regierung auf die Kräfte des Marktes: Über den Preis für Impfstoffe entschieden Angebot und Nachfrage. Viele Menschen könnten sich deshalb gar keine Impfung leisten.

Medikamentenhandel auf dem Schwarzmarkt

Die Überzeugung, "der Markt werde letztlich alles bestmöglich für die Gesellschaft regeln", präge die angloamerikanische Politik nicht erst seit Margaret Thatcher und Ronald Reagan in den 1980er-Jahren. Auf die Verhältnisse im heutigen Indien wirke sich diese Devise verheerend aus. Es sei niederschmetternd zu sehen, "wie die Menschen irgendwelche Medikamente zusammenhamstern oder Dinge, die sie für Medikamente halten, und sie dann auf dem Schwarzmarkt verkloppen, der gerade blüht", so Mishra. "Da ist wirklich jeder Gemeinsinn, jeder Sinn für das gemeinsame Gut, zerschreddert worden."
Wie sich die wirtschaftsliberale Ideologie des Westens auf globale Machtverhältnisse auswirkt und dabei Ausbeutung und soziale Ungleichheit verstärkt, das zeigt Pankaj Mishra anhand zahlreicher Beispiele in seinem Essayband "Freundliche Fanatiker". Der Titel spielt auf einen Ausspruch des US-amerikanischen Theologen und Ethikers Reinhold Niebuhr an, der damit diejenigen Kalten Krieger bezeichnete, welche die "sehr bedingten Leistungen unserer Kultur für die endgültige Form und Norm der menschlichen Existenz halten."

Moralische Überheblichkeit des Westens

Der im Norden Indiens geborene Mishra lebt heute teilweise in London und publiziert regelmäßig in der New York Times, der New York Review of Books und dem britischen Guardian. Als scharfer Kritiker westlicher Macht- und Wirtschaftspolitik wirft er den "Mutterdemokratien" Großbritannien und USA eine tief sitzende Doppelmoral vor: Die führenden Westmächte stellten sich selbst als vorbildlich dar und behaupteten, Segnungen wie gleiche Rechte, politische Mitbestimmung und freien Handel auch anderen Ländern bringen zu wollen. Dieser Rhetorik zum Trotz verfolgten sie jedoch rücksichtslos ihre Interessen und blendeten konsequent eigene Verfehlungen aus. In der Einleitung zu seinem Buch schreibt Mishra:
"Die freundlichen Fanatiker bemühten sich sehr, ihre parfümierte Vorstellung angloamerikanischer Überlegenheit vor der anrüchigen Vergangenheit des Völkermords, der Sklaverei und des Rassismus – wie auch vor dem Gestank der Korruption in den Wirtschaftsunternehmen – zu schützen, aber für die wirklichen Feinde der Demokratie haben sie keine Nase."
Porträt des indischen Publizisten Pankaj Mishra.
Pankaj Mishra, Schriftsteller und Publizist© picture alliance / dpa / Hendrik Schmidt
Die Legende von der moralischen Überlegenheit des Westens konnte so wirkmächtig werden, weil Großbritannien und die USA nicht nur über große politische, ökonomische und militärische Macht verfügten, sondern auch über ein enormes kulturelles und intellektuelles Kapital, sagt Mishra. Mithilfe einflussreicher Medien aber auch international angesehener Universitäten sei es den beiden Nationen gelungen, ihren Werten und Maßstäben quasi globale Geltung zu verschaffen.

Ausbeutung als Wohltat deklariert

Ein Leitmotiv von Mishras Essays ist seine Kritik am Liberalismus. Die angelsächsische Ausprägung dieser Philosophie habe dem Individuum freie Entfaltung garantiert. Doch dieses Ideal sei von jeher mit einem Anspruch auf Expansion verbunden worden. Mishra deutet den Liberalismus als Ideologie einer die Welt erobernden Bourgeoisie: Die Mächte des Westens hätten sich das Recht herausgenommen, die Ressourcen anderer Länder auszubeuten. Dabei seien sie rhetorisch so geschickt gewesen, sich gleichzeitig als Wohltäter darzustellen.

The Interview in English - Hören Sie das Gespräch mit Pankaj Mishra im Original [AUDIO] .

Der auf wirtschaftliche Expansion ausgerichtete Liberalismus habe einen wesentlichen Zug mit dem Kommunismus und auch mit dem Nationalsozialismus gemeinsam, sagt Mishra: Er gewinne Macht über Menschen durch das Versprechen, dass Entbehrungen, die sie in der Gegenwart erfahren, dem Wohl kommender Generationen dienen. Auf diese Weise sei es etwa der britischen Kolonialmacht in Indien gelungen, dass ihr Herrschaftsanspruch von vielen Menschen anerkannt wurde, die eigentlich Grund genug gehabt hätten, für ihre Freiheit und Unabhängigkeit zu kämpfen.

Kolonialismus durch Rassenhierarchie legitimiert

"Sie wurden dazu gebracht, zu glauben, wenn sie nur diese Methoden annähmen, könnten sie auch reich und erfolgreich und mächtig werden", sagt Pankaj Mishra. Und er bekräftigt: "Wenn man kulturelle Macht hat, kann man die Menschen dazu bringen, gegen ihre eigenen Interessen zu denken und zu handeln."
Um sein Expansionsstreben zu legitimieren, habe der Liberalismus im 19. Jahrhundert auch Vorstellungen von einer Rassenhierarchie das Wort geredet, so Mishra. Selbst ein Denker wie John Stuart Mill, der heute vor allem als Vorkämpfer für individuelle Freiheitsrechte bekannt ist, habe zum Beispiel die britische Kolonialherrschaft über Indien gerechtfertigt, indem er die Einwohner des Landes gegenüber den Briten auf eine niedrigere Stufe stellte:
"Sie hätten kein Recht auf Selbstbestimmung. Sie seien eine barbarische Rasse, die mit despotischen Mitteln verwaltet werden müsse. Es gab also sehr wenig Anerkennung dafür, dass die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung ebenfalls Menschenwürde verdiente. Ihr Los sei es, kolonisiert zu werden und vom weißen Mann beherrscht zu werden."

Eine globale Geschichte der Gewalt

Pankaj Mishra plädiert dafür, solche historischen und Kontinente übergreifenden Zusammenhänge stärker in den Blick zu nehmen, wenn heute über Rassismus und Postkolonialismus debattiert werde. Allzu häufig bliebe die Diskussion dabei auf nationale Bedingungen und Perspektiven beschränkt. Mishra hält dem entgegen:
"Die Geschichte der Gewalt in der Neuzeit ist wirklich global. Wir müssen dieses sehr feine Beziehungsgeflecht verstehen, die Entlehnungen, die Reisewege schlimmer Ideen über Ländergrenzen hinweg."
Mishra sieht vor allem Intellektuelle aus Asien, Afrika und Lateinamerika dazu aufgefordert, die dominante Ideologie des Westens und ihre Vorgeschichte einer Revision zu unterziehen:
"Das Gebot der Stunde ist eine kritische Sichtung vieler dieser Ideen und Annahmen, die während der Zeit der Expansion vor allem durch winzige Minderheiten in einem Teil der Welt entstanden, denen es durch schiere Kraft ihrer militärischen, politischen und kulturellen Macht gelungen ist, ihre eigene kurzsichtige Ideologie zu universalisieren."
(fka)
Übersetzer für das Gespräch mit Pankaj Mishra: Johannes R. Hampel

Pankaj Mishra: "Freundliche Fanatiker. Über das ideologische Nachleben des Imperialismus"
Aus dem Englischen von Laura Su Bischoff und Michael Bischoff
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021
304 Seiten, 24 Euro

Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:

#allesdichtmachen: Debatte ohne Bodenhaftung
Wir sollten endlich darüber reden! Diese Forderung hört man derzeit häufig – nicht nur in der viel kritisierten #allesdichtmachen-Kampagne. Verlieren wir da nicht den Blick für die Sachen selbst? Das fragt Nils Markwardt in seinem Kommentar.

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