Panik am Berg Meron in Israel

Katastrophales Nachholbedürfnis

04:53 Minuten
Zahlreiche orthodoxe Juden beobachten, wie ein eingehüllter Toter in einen Wagen getragen wird.
Beerdigung eines Opfers der Massenpanik am Berg Meron: 10.000 waren genehmigt gewesen, etwa 100.000 sind gekommen. © imago / Xinhua
Roby Nathanson im Gespräch mit Miron Tenenberg · 30.04.2021
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Mindestens 44 Tote beim Lag-Baomer-Fest im Norden Israels: Roby Nathanson vom Macro Institut in Tel Aviv war zu dem Zeitpunkt selbst im Norden unterwegs und hat die Massen gesehen. Für ihn war die Katastrophe ein absehbares Ereignis.
Deutschlandfunk Kultur: Bei der Massenpanik bei den Feierlichkeiten zum jüdischen Fest Lag Baomer im Norden Israels am Grab des Rabbiners Shimon Bar Yochai sind über 40 Menschen ums Leben gekommen. Wir sprechen mit Roby Nathanson, dem Leiter des Macro Instituts für Wirtschafts- und Sozialforschung in Tel Aviv. Herr Nathanson, überrascht es Sie, dass es zu so einem Desaster gekommen ist?
Roby Nathanson: In dieser Größenordnung ist es natürlich eine große Überraschung. Allerdings hat man herausgefunden, dass es an dieser Stelle schon vor hundert Jahren zu Katastrophen dieser Art gekommen ist. Damals kamen elf Menschen ums Leben. Das heißt: An Stellen mit so großen Massenansammlungen – ob am Meron-Berg oder bei Fußballspielen oder Rockveranstaltungen –, muss man schon sehr scharfe Maßnahmen treffen, um solche Katastrophen zu verhindern.
Deutschlandfunk Kultur: Sie waren gestern selbst im Norden Israels unterwegs. Was haben Sie beobachtet?
Nathanson: Endlose Verkehrsstaus, wirklich ein Ansturm von Fahrzeug- und Menschenmassen, die dorthin gewandert sind. Das war auch ein Ausdruck einer Entschädigung dafür, dass es letztes Jahr sehr beschränkt war, obwohl auch damals zu Lag Baomer an die 10.000 Menschen an deren Meron-Berg gekommen sind. Aber dieses Jahr waren es eben um die 100.000 Menschen, die das Bedürfnis hatten, das, was sie letztes Jahr verpasst haben, nachzuholen.

Rabbis riefen zum massenhaften Besuch auf

Deutschlandfunk Kultur: Aber wie kann das sein? Letztes Jahr gab es ein striktes Verbot und trotzdem waren Tausende Menschen dort. Dieses Jahr waren 10.000 Teilnehmende bei der Veranstaltung zugelassen und gekommen sind über 100.000 Menschen. Können Sie sich erklären, wie so etwas passieren kann?
Nathanson: Das liegt daran, dass sich viele Strömungen unter den orthodoxen Juden nicht nach dem richten, was die Autoritäten sagen, ob Polizei oder andere Regierungsstellen, sondern nach dem, was die Rabbis sagen. Die Rabbis haben in diesem Jahr, insbesondere nachdem wir Corona sozusagen überwunden haben, dazu aufgerufen, massenhaft dorthin zu kommen. Das war dann auch das Ergebnis.

Die meisten Orthodoxen hält sich an die Gesetze

Deutschlandfunk Kultur: Die Polizei hat bereits Verantwortung übernommen. Es läuft eine Untersuchung. Netanjahu hat sich dazu geäußert. Und doch stellt sich die Frage: Steht das Wort der Rabbiner für die charedischen Israelis, also den Orthodoxen, über dem Gesetz?
Nathanson: Die charedische Gesellschaft ist keine homogene Gesellschaft. Es gilt für einige Teile in der charedischen Gesellschaft. Die meisten Charedim halten sich nach ans Gesetz. Sie hören auf den Rabbiner, aber auch auf Autoritäten, auch auf die Polizei und andere gewählte Führer der charedischen Gesellschaften – nicht nur auf den Rabbiner. Es gibt aber sehr bedeutende Strömungen – ich schätze an die 20, 30 Prozent aller Charedim –, die sich nicht daran halten. Deshalb kommt es vor, dass sie sich nicht unbedingt in ihren Kreisen an Vorschriften halten.

Israels Gesellschaft ist heterogen

Deutschlandfunk Kultur: Und das war im letzten Jahr ein großes Problem. Beim israelischen Lockdown sah das so aus, dass sich einige orthodoxe Gemeinden überhaupt gar nicht an die Maßnahmen gehalten haben und somit die gesamte israelische Gesellschaft als Geisel genommen haben. Wie ist Ihr Eindruck dazu?
Nathanson: Das stimmt. Es gab auch großen Ärger darüber, vor allem in der säkulären Gesellschaft. Die Säkulären gehen ins Militär, zahlen Steuern und beteiligen sich am Arbeitsmarkt – das kommt im charedischen Sektor in dieser Form nicht vor. Sie sind vom Militär ausgenommen und werden stark subventioniert. Wenn sich jetzt einige – und das muss ich noch einmal betonen, das gilt nicht für alle Charedischen –, nicht solidarisch verhalten, dann kommt das kommt auch gut in der Presse an.
Trotzdem hat das in Israel natürlich zu großem Unmut geführt. Allerdings muss man sagen: Israel ist eine sehr heterogene Gesellschaft. Teilweise gab es auch Kreise im arabischen Sektor, die sich nicht unbedingt an die Vorschriften gehalten haben.

Roby Nathanson leitet das Macro Institut für Wirtschafts- und Sozialforschung in Tel Aviv. In den 90er-Jahren hat er die israelische Regierung beraten und zuvor beim größten israelischen Gewerkschaftsdachverband, dem Histadrut, gearbeitet.

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