Pandemie-Modellrechnungen

Gefährliche Zahlenspiele

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Illustration: Wissenschaftler diskutieren an einer Tafel das Coronavirus COVID-19.
Bei einer höchst unsicheren Datenlage ist es unabdingbar, diese elementare Fehlerbehaftung kritisch zu berücksichtigen, meinte Ulrich Dirnagl. © imago / fStopImages / Malter Mueller
Ein Kommentar von Ulrich Dirnagl · 19.05.2021
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Inzidenz-Zahlen und furchterregende Corona-Szenarien dienen als Begründung für massive Einschränkungen. Der Charité-Mediziner Ulrich Dirnagl kritisiert die dafür erstellten Modelle. Prognosen seien für politische Zwecke missbraucht worden.
Modellierer sind auf vielen Feldern schon länger recht erfolgreich. Ein Paradebeispiel hierfür ist der Wetterbericht. Mit im Mittel etwa 70 Prozent Treffsicherheit gelingt es den Meteorologen, das Wetter der nächsten Tage vorherzusagen.
In die Modelle, die auf Supercomputern gerechnet werden, gehen unzählige, sehr genaue Messungen ein, die das atmosphärische Geschehen vom Boden bis viele Kilometer in die Höhe abbilden. Ihre Rechnungen berücksichtigen die Temperatur und Strömungsdynamik der großen Gewässer und sogar die fluktuierenden Bahnen von Mond und Sonne.
Möglich wird eine Wettervorhersage mit solcher Treffsicherheit aber nur, weil die meteorologischen Zusammenhänge von verschiedenen Temperaturen und Drücken sowie Wind, Wasser und Planetenbewegungen mittlerweile recht gut verstanden werden

Wie aber steht es angesichts dessen um die Vorhersagekraft und somit um die Nützlichkeit der so allgegenwärtigen Modellierungen in der Pandemie? Leider gibt es mittlerweile eine Menge Hinweise darauf, dass es damit nicht zum Besten steht. Die Modellierer bauen allerdings lieber neue Modelle, als sich mit der Untersuchung der Güte ihrer Vorhersagen zu befassen. Dies bleibt dann meist Journalisten überlassen.
So analysierte etwa die Tageszeitung "Die Welt", dass die meisten Schlussfolgerungen aus den Modellrechnungen von Deutschlands prominentester Modelliererin, Viola Priesemann, nur sehr vage verfasst sind. Wie bei Horoskopen passen sie damit zu jedem Verlauf. Und dort, wo konkrete Zahlen vorhergesagt wurden, sind diese sehr häufig nicht eingetreten.

Vorhersagen basierend auf schlechten Daten

Noch viel problematischer wird es, wenn mit Modellen versucht wird, die Wirksamkeit von Pandemiemaßnahmen zu ermitteln. Ein Beispiel hierfür ist die Vorhersage aus der Leopoldina-Stellungnahme vom 8. Dezember letzten Jahres. Das Modell der Leopoldina sollte die Wirksamkeit und damit die Notwendigkeit eines harten Lockdowns in Deutschland belegen. Wie wir alle wissen, ist dies trotz erfolgtem hartem Lockdown aber nicht eingetreten: Die Inzidenzraten verharrten auf hohem Niveau.
Die zugehörige Modellierung basierte auf Daten aus dem Frühjahr 2020. Das Modell bezog sich damit auf eine völlig andere Umsetzung und Akzeptanz von Maßnahmen als im Vorhersagezeitraum. Wenn man das gleiche Modell im Sinne einer Kontrolle aber beispielsweise auf Schweden angesetzt hätte, wäre dort ein ganz ähnlich geartetes Absinken der Fallzahlen vorhergesagt worden. Nur dass es dort keinen Lockdown gab!
Das gleiche Phänomen übrigens aktuell mit der Schweiz. Modell sagt Wirksamkeit des Lockdowns vorher. Lockdown wirkt in Schweiz wie in Deutschland. Nur ohne Lockdown! Ist dies alles überraschend? Keineswegs. Im Gegensatz zu den Meteorologen basieren die Pandemie- Modellierungen auf schlechten Daten und bloßen Annahmen.

Was ist eigentlich der Sinn der Pandemie-Modelle?

Dies gilt sowohl für die Corona-Inzidenzen wie auch viel mehr noch für die Auswirkungen der Corona-Maßnahmen. Außerdem hängt alles entscheidend davon ab, ob und wie die Maßnahmen in der Bevölkerung dann tatsächlich umgesetzt werden. Das ist, als würde sich das Wetter ändern abhängig davon, ob man einen Regenschirm mitnimmt, wenn Regen vorhergesagt wird.
Bei einer höchst unsicheren Datenlage, wie sie zum Beispiel allein schon durch die sich ständig ändernden Testkapazitäten und -raten vorkommt, ist es unabdingbar, diese elementare Fehlerbehaftung kritisch zu berücksichtigen.
Aber besteht der eigentliche Nutzen der Pandemie-Modellierungen vielleicht gar darin, Worst-Case-Szenarien wissenschaftlicher erscheinen zu lassen, wie Kritiker der Modellkritiker nun häufig einwerfen? Sollen die Modelle, die von ihnen vorhergesagten Szenarien, verhindern, um damit bewusst falschzuliegen?
Das ist allerdings eine gefährliche Strategie: Zum einen, weil Vorhersagen, die daneben liegen, ihre Überzeugungskraft verlieren – aber noch viel wichtiger, weil die Modelle ja auch behaupten, die Nützlichkeit oder Schädlichkeit bestimmter Maßnahmen und Verhaltensweisen zu "objektivieren".
Wie zum Beispiel Schulschließungen, Ausgangssperren oder Abstandsregeln. Wenn die offensichtlichen und teils schwerwiegenden Limitationen der Modelle nicht erkannt oder berücksichtigt werden, sie aber dennoch die Grundlage für unser Handeln in der Pandemie liefern sollen – dann läuft etwas schief.

Ulrich Dirnagl, *1960 in München, ist Begründer des Lehrstuhls Experimentelle Neurologie an der Charité Universitätsmedizin Berlin. Seit 1999 forscht und lehrt Dirnagl dort als Direktor der Abteilung Experimentelle Neurologie.


© Thomas Rafalzyk
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