Palliativmedizin

"Jeder weitere Moment ist ein Geschenk"

Von Tina Hüttl · 25.06.2017
Die meisten Todkranken möchten zu Hause sterben. Palliativmediziner können den Patienten diesen Wunsch erfüllen – müssen aber fürchten, dafür kriminalisiert zu werden. Dagegen wehren sie sich.
"Hallo Herr Ulrich, Schindler hier. Ah, Herr Doktor. Ich gebe Ihnen meine Frau. Brauchen Sie gar nicht, ich wollte mich nur anmelden, weil ich in zehn Minuten bei Ihnen bin. Alles klar, danke..."
Thomas Schindler ist auf dem Weg zu einer Patientin mit unheilbarem Speiseröhrenkrebs. Er ist Palliativmediziner - ein Arzt, der nicht mehr heilt, sondern Todkranken beim Sterben hilft. Der Tod ist für Schindler Alltag, nur etwa zwei Monate bleiben ihm durchschnittlich mit seinen Patienten. Er und seine vier Kollegen in seiner Gemeinschaftspraxis haben im letzten Jahr 525 Menschen beim Sterben begleitet. Es hätten noch viel mehr sein müssen.
Denn Ärzte, die in den letzten Wochen des Lebens helfen, gibt es viel zu wenige in Deutschland. Bundesweit werden etwa 50.000 Todkranke von Palliativärzten wie Thomas Schindler zu Hause begleitet. Weitere 30.000 stehen auf der Warteliste und sterben doch meist im Krankenhaus.
"Eines der wichtigsten Ziele ist, dass die Patienten am Lebensende nicht mehr in ein Krankenhaus eingewiesen werden müssen, sondern dass wir es schaffen, dem Wunsch der Patienten zuhause zu sterben zu entsprechen. Und wenn man es selber erlebt hat im engeren Familienkreis, dass das möglich ist und auch nochmal zu ganz besonders guten, wichtigen und schönen Erfahrungen führt – und dazu beitragen kann, dass das im großen Rahmen vielen Menschen ermöglicht wird - was will man mehr."
Schindler ist schon jetzt hinterm Zeitplan. Dabei hat sein Tag erst begonnen. Sein Einzugsgebiet ist der Westen Berlins: kreuz und quer kurvt er durch die Stadt. Das Handy steckt in der Freisprechanlage, ist stumm zur Mailbox durchgestellt. 2.800 Kontakte sind aktuell darin gespeichert, es läutet eigentlich immer, weshalb er die Mailbox spätestens alle halbe Stunde abhört - und mehrmals täglich löscht, damit sie wieder volllaufen kann. Zur Zeit betreut der Arzt 25 Sterbende, im Dauerdienst. Prognosen, wann er vorbeikommt, gibt er nicht mehr. Und auch die Zeit, wie lange der Besuch dauert, ist nicht planbar.

"Zeit ist ein ganz, ganz kostbares Gut"

Vorher, in seiner Gemeinschaftspraxis, hat er sich eine Liste gemacht, wen er alles besucht – die neun Namen sowie ihre Reihenfolge werden sich heute noch mehrmals ändern und ergänzt werden: angefahren wird immer der, der es gerade am dringendsten braucht.
"Das Gute, was wir mitbringen zu den Patienten außer der Kompetenz und der Erfahrung, ist die Zeit. Wir haben mehr Zeit als ein Hausarzt zur Verfügung hat und diese Zeit wird im Palliativprogramm auch relativ gut bezahlt. Das ist was ganz, ganz Kostbares. Dass wir den Patienten zuhören können, dass wir ihren Nöten und Sorgen und auch den Nöten der Angehörigen, dass wir für die ein offenes Ohr haben."
Statt bei Nummer Eins auf der Liste - Frau Heise - parkt Schindler nun vor dem Haus von Elke Ulrich.
"Das ist in ganz interessantes Paar, sie ist Malerin, er ist Philosoph..."
Er klingelt, steigt hinauf zur Dachgeschosswohnung. Den Speiseröhrenkrebs wird sie nicht mehr besiegen, doch ihr Zustand hatte sich erfreulich stabilisiert, erzählt Schindler, bis zu einem leichten Schlaganfall letzte Woche.
"Hallo! Gut, dann setze ich mich da hin, sie vielleicht da, er sitzt immer da. Wie war die Woche? Naja rückschrittlich, ich war wieder in dem Modus alles verlangsamt..."
Dr. Thomas Schindler, Palliativmediziner, beim Hausbesuch
Dr. Thomas Schindler, Palliativmediziner, beim Hausbesuch© Tina Hüttl
Schindler kennt nicht nur die Wohnung gut. Ohne nachzusehen weiß er genau, in welcher Dosierung er die vielen verschiedenen Tabletten verschrieben hat, die in der Medikamentenbox auf dem Tisch stehen.
"Wir hatten ja gesagt, dass Sie die Dosis verdoppeln. Das haben Sie gesagt. Sie müssten bald nichts mehr haben. Das nehme ich mit."
Elke Ulrich, abgemagert und noch immer schöne Gesichtszüge, braucht neue Blutverdünner und Schmerzmittel, die Nummer ihrer Hausapotheke hat Schindler im Handy. Während er dort anruft, legt er ihr die Hand auf und misst den Puls.
"Hallo Markus, eine Bestellung für Frau Ulrich in der Kissingerstraße..."
Schindler kennt Tablettendosierung und Apotheker, er weiß aber auch die Namen der Kinder, und fragt nach dem Fortschritt des Romans, an dem Elke Ullrichs Mann schreibt. Er ist Schriftsteller. Sein letztes Buch hat der Arzt gelesen. Ebenso die letzte Ausstellung mit Bildern und Grafiken der sterbenskranken Malerin besucht. Er verabschiedet sich herzlich.

"Es lohnt sich zu sterben, wenn man von Doktor Schindler betreut wird."

Die vier Kollegen, mit denen er die Gemeinschaftspraxis führt, preisen ihn bei den Patienten gern mit folgenden Worten an: "Es lohnt sich zu sterben, wenn man von Doktor Schindler betreut wird." Schindler hat keine Kinder, kommt am Wochenende, nachts, wann immer er gebraucht wird. Er ist keiner, der sich selbst wichtig nimmt. Selten beginnen seine Sätze mit dem Wort "Ich".
Dem Allgemeinarzt ging es schon sehr früh darum, an der Schnittstelle zwischen Leben und Tod zu helfen. Vor 20 Jahren erkrankte seine Mutter an Krebs:
"Ich habe mir eine Auszeit genommen und habe sie ein halbes Jahr begleitet, also Sohn, als Arzt, so dass sie zu Hause sterben konnte. Das war ein sehr eindrückliches Erlebnis, ein sehr wichtige Erfahrung, die bei mir schließlich dazu geführt hat, dass auch mein beruflicher Weg in dies Richtung gegangen ist."
Das war 1995 – damals war die Palliativmedizin praktisch noch nicht existent. Eine Schmerzpumpe anlegen, Infusionstherapien, Physio gegen das Wundliegen - all das, was man für Sterbenskranke noch tun kann, muss nicht im Krankenhaus geschehen, das wusste der Allgemeinarzt Schindler auch damals schon. Das können ein Pflegedienst und ein Arzt in enger Zusammenarbeit ebenso gut zu Hause erledigen. Berlin war unter all den Bundesländern Vorreiter in der ambulanten Palliativmedizin– und Schindler von der ersten Stunde an dabei:
"Zufällig suchte man damals in Berlin einen Arzt, der schon erfahren war in dieser ärztlichen Tätigkeit - aber es gab ein neues Modellprojekt Home Care Berlin und man wollte sich darum kümmern , dass schwerkranke Krebspatienten bis zum Tod zu Hause versorgt werden können. Und dafür brauchte man Ärzte und ich war einer der ersten, die das dann gemacht haben."
Nicht nur das. Schindler kämpfte danach auch ein paar Jahre lang als Geschäftsführer und Lobbyist der deutschen Fachgesellschaft für Palliativmedizin dafür, dass Politik und Krankenkassen bundesweit Gesetze und Strukturen für die häusliche Versorgung Sterbenskranker schaffen. Mit Erfolg – auch wenn Schindler seinen Anteil natürlich herunterspielt:
Seit 2007 hat jeder unheilbar Kranke einen Anspruch auf eine "spezialisierte ambulante Palliativversorgung" – kurz SAPV.

"Die Menschen wollen leben, so lange es irgendwie geht"

Wieder draußen hält Thomas Schindler kurz inne, bevor er ins Auto einstiegt. Genießt die Sonne auf dem Gesicht. Schindler ist 60, trägt eine Nickelbrille und die ergrauten Haare sind jungenhaft geschnitten.
Die Vögel zwitschern. Menschen wollen nicht nur zu Hause sterben, sagt Schindler. "Sie wollen auch leben so lange es geht." Selbst Sterbenskranke – wenn ihnen die Schmerzen erträglich gemacht werden. Die Bitte, er möge das Leben vorzeitig beenden, hört er extrem selten.
"Wenn Bitten zum Beispiel nach einer Beihilfe zum Suizid an uns herangetragen werden, dann geschieht das häufig in Intellektuellenkreisen, also von Menschen, die sich gedanklich sehr viel mit der Welt und sich beschäftigen. Das Ehepaar Ulrich wär potentiell ein Ehepaar, wo mich das nicht gewundert hätte, aber das war überhaupt kein Thema, auch nicht als es ihr sehr schlecht ging. Es ging immer nur darum, wie man die Situation so gut wie möglich gestalten kann, dass man auch mit dieser Situation leben kann."
"So, wir fahren jetzt doch nicht zu Frau Heise, (…) mir ist noch Frau Schlichting eingefallen, zu der ich auch heute wollte."
Im Auto desinfiziert er mit dem Fläschchen in der Mittelkonsole die Hände, schon geht es weiter.
Im Vordergrund eine Rose, im Hintergrund ein Krankenbett mit einer alten Frau und einer jüngeren am Bett.
Pflege für Sterbende im Krankenhaus oder Zuhause? © Picture-alliance / dpa / Sebastian Kahnert
Seit 2015 gibt es in Deutschland ein neues Sterbehilfegesetz, das vielen Palliativärzten Sorgen bereitet. Die Beihilfe zum Suizid ist nun unter Strafe gestellt, sofern sie "geschäftsmäßig" und "wiederholt" stattfindet. Das Gesetz zielt auf Sterbehilfevereine wie "Dignitas", die sich nach Schweizer Vorbild auch in Deutschland gegründet hatten.
Sterbehilfe gegen Geld ist verboten – so die Idee. Doch auch Palliativmediziner könnten durch das Gesetz kriminalisiert werden. Denn auch sie helfen beim Sterben und werden für die Ausübung ihres Berufes vergütet. Doch wer genau definiert "wiederholt und geschäftsmäßig"? Und wo verlaufen die Grenzen? Ist es Beihilfe zum Suizid, wenn ein Mediziner seinem Patienten Medikamente überlässt, mit denen er theoretisch seinen Tod herbeiführen kann? Schindlers Kollegen fordern eine Überprüfung des Gesetzes und ein klares Bekenntnis zur Palliativmedizin. Er dagegen ist selbstsicher.
"Ich hatte eher die Sorge, dass mehr Menschen mit Sterbewünschen an uns herantreten, weil es eben diese Vereine nicht mehr gibt. Ich weiß, was ich tue, ich habe die entsprechende Kompetenz, ich befrage mein Gewissen und ich habe eigentlich immer eine relativ klare Vorstellung, was mir möglich ist in der Begleitung von schwerkranken Menschen und das werde ich auch weiter so tun, wie ich es für richtig halte. Ich sehe es im Moment nicht, dass es eine Situation geben könnte, wo wir für das, was wir in der Palliativmedizin machen, kriminalisiert werden."
Dass er vermehrt mit Selbstmord-Wünschen konfrontiert wird, ist nicht eingetreten. Eher ist es umgekehrt, meint Schindler: dass Sterbenskranke ihren bevorstehenden Tod einfach ignorieren, nicht darüber sprechen wollen, alles verdrängen. So wie Käthe Schlichting, zu der er gerade fährt:
"Nein es ist im Moment kein Thema für sie, es war noch nie Thema für sie. Nein, sie will leben. Sie will, dass es ihr besser geht. Und das Hospiz, das ist einer der Gründe, warum sie die Idee dahin zu gehen eher abgelehnt hat, ist wohl auch der, dass das Hospiz zu viel Todesnähe hat. Im Hospiz ist sie ja tatsächlich von Menschen umgeben, die sehr schnell sterben."

Die durchschnittliche Betreuungsdauer beträgt zwei Monate

Käthe Schlichting ist seine längste Patientin. Im Durchschnitt begleitet er die Menschen nur etwa zwei Monate – Käthe Schlichting betreut er schon seit zwei Jahren. Das ist ungewöhnlich. Sie hat keinen Krebs, sondern eine chronisch obstruktive Lungenerkrankung, bei der die Bronchien sich nicht mehr richtig weiten und es immer wieder zu lebensgefährlicher Atemnot kommt.
"Ich grüße sie – so rutschen Sie gleich durch auf die Bank...."
Eine sehr kleine, etwa 70-jährige Frau mit braun gefärbten Haar öffnet die Tür, bittet in ihr Wohnzimmer. Eine zähe, agile Person, man merkt es sofort. Trotz des durchsichtigen Schlauchs unter ihrer Nase, der sie mit einem großen Sauerstofftank in ihrem Flur verbindet. An den Wänden hängen fertig gerahmte Puzzles, am Tisch schiebt sie ein paar Puzzleteile zur Seite.
"Sie ist eine große Puzzlerin, sie hat schon unendlich viele Puzzles gemacht, keine Herausforderung ist ihr zu groß, das ist ein kleines - sie hat auch viele 2000 Puzzles gemacht - aber man merkt, dass es Frau Schlichting nicht gut geht.Sie puzzlen nicht mehr soviel. Na? Schlichting: Keine Ausdauer darin im Moment. Er: Das ist schon ein deutliches Zeichen, dass es ihr nicht gut geht. Sie: Ja genau."
Nur der Rand des Puzzles ist fertig. Neben dem Schlauch unter der Nase ist sie weiter verkabelt, mit einem sogenannten Bolus, der um ihre Hüfte geschnallt ist – ein Art Medikamentenpumpe, die je nach Einstellung in Zeitintervallen eine Morphiumdosis direkt in ihren Bauch abgibt.
"Er: Dann gibt es hier eine Taste – eine sogenannte Bolustaste – oder? Da drauf drücken, dann kann sie sich eine extra Dosis geben. Und sich selber helfen. Sie: Das hab ich vorher gemacht. Er: Wenn eine Situation schlimm wird. Sie: ...weil ich luftarm war. Vorher war mir so erbrechungsmäßig, und da dachte ich – Erbrechen ist Anstrengung – drück lieber drauf, nicht dass ich dann Beschwerden habe."
Morphium lindert nicht nur Schmerzen, sondern hilft auch bei Atemnot – doch Käthe Schlichting setzt es sparsam ein, denn sie will ihren Körper nicht daran gewöhnen und schwächen. Auf die Frage von Schindler, ob sie sich das Hospiz schon angesehen hat, in dem er sie angemeldet hat, schüttelt sie energisch den Kopf. Sie will zu Hause bleiben, so lange es geht, hofft plötzlich umzufallen oder einzuschlafen. Lebensverlängernde Maßnahmen will sie auf keinen Fall, so hat sie es in ihrer Patientenverfügung festgehalten:
"Er: Frau Schlichting, aber was ist der Unterschied? Wenn Sie diese Medikamente nicht bekommen würden, wenn Sie diesen Sauerstoff nicht bekommen würden – also das ist ja auch künstlich - also in gewissen Maße lassen Sie sich ja darauf ein, dass das Leben künstlich verlängert wird. Wo ist die Grenze? Sie: Ja, wo ist die Grenze? Im Moment bin ich eigentlich innerlich noch zu aktiv, um da zu sagen, nein jetzt nicht mehr. Ich bin einfach noch zu aktiv, innerlich, auch wenn ich es so nicht mehr bin."

Genug Medikamente, um das Leben zu beenden

Mit den Medikamenten, die Palliativmediziner wie Doktor Schindler verabreichen, können Schwerstkranke das Leben, das ihnen bleibt, besser ertragen – doch beenden können sie es damit natürlich auch.
"Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ein Patient die Mittel, die ich ihm zur Verfügung stelle, in der Weise genutzt hat, dass er sein Leben vorzeitig beendet hat. Ich kann mich an einige Patienten erinnern, die nach langem Abwägen dann trotz der palliativmedizinischen Behandlung in die Schweiz gefahren sind, um dort Beihilfe zum Suizid in Anspruch zu nehmen. Das gab es."
In den über 20 Jahren, in denen er praktiziert, ist dies nur vier oder fünf Mal vorgekommen, erzählt er. Frau Schlichtings Festhalten am letzten Lebensrest sei viel typischer, betont Schindler, der sich - vorbei am blubbernden Tank im Gang, verabschiedet.
"Gut, bis zum nächsten Mal, Tschüss…"
Junge und wenig erfahrene Palliativmediziner trauen sich nicht so viel wie Schindler. Sie sind wegen der neuen Gesetzesregelung verunsichert - immerhin können sie wegen Beihilfe zum Suizid bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe kassieren. Schon ein offenes Gespräch über die Hilfemöglichkeiten zum Suizid halten Juristen für gefährlich. Etwas worüber Schindler nur die Schultern zuckt:
"Wenn wir dann gefragt werden, was denn passieren würde, wenn wir diese oder jene Medikamente, die man sowieso verschrieben bekommt, anders nehmen würde – ein Gespräch darüber zu verweigern, das käme mir nicht in den Sinn. Weil ich ja mit diesen Menschen sehr gleichberechtigt sprechen möchte und auch mein Wissen und meine Kompetenz gerne teile."
Bisher ist noch kein Mediziner nach dem neuen Gesetz verurteilt worden. Doch dem Bundesverfassungsgericht liegen 13 Beschwerden vor – die meisten stammen von Patienten, die für ihr Recht auf einen selbstbestimmten Tod klagen. Vier der Schriftsätze sind von Ärzten eingereicht, die argumentieren, dass das Gesetz die Betreuung von Schwerstkranken und Sterbenden deutlich erschwert.
Noch ist alles in der Schwebe, erst in der nächsten Legislaturperiode wird es wohl Rechtssicherheit geben. Und womöglich eine Reform der Reform.

Am Ende des Lebens gibt es viel zu entdecken

Schindler macht einen kurzen Stopp bei einer Biobäckerei – ein belegtes Brötchen essen, zu mehr ist heute keine Zeit. Dass genauer hingeguckt wird und Todesumstände geprüft werden, findet Schindler gut. Einmal hat die Staatsanwaltschaft bei ihm Krankenakten abholen lassen, um den Tod eines Patienten zu untersuchen. Diese Sorgfalt ist notwendig, findet er, sonst kann es dazu kommen, dass kranke Menschen bedrängt werden.
"Ich glaube schon, dass viele Patienten geängstigt sind, wenn die Debatte dahin geht, dass es leichter werden soll oder fast schon selbstverständlich, seinem Leben ein Ende zu setzen, dass nämlich dadurch tatsächlich der Druck zunimmt. Der soziale Druck, der auf alte, auf kranke, auf gebrechliche Menschen ausgeübt wird, die abhängig sind, die vielleicht auch sagen: Ach, ich wünschte es wäre vorbei. Dass man ihnen dann gleich unterstellt, dass sie doch eine einfache Lösung wählen könnten, indem sie sich suizidieren. Diese Sorge habe ich tatsächlich."
Gerade am Ende gäbe es noch viel zu entdecken – seinen Patienten die letzten Lebenswochen so gut und schmerzfrei wie möglich zu gestalten, liegt ihm am Herzen.
Dieses Ziel hat auch Simona Blankenburg von Home Care, der Verein, der als Erster mit der ambulanten Versorgung Sterbender in Berlin begonnen hat.
Blankenburgs Büro liegt nur ein paar Meter von Thomas Schindlers Praxis entfernt, beide blicken aufs Sankt Gertrauden Krankenhaus.
Schindler ist dem Verein noch immer sehr verbunden, er ist stellvertretender Vorsitzender, mehrmals in der Woche sind er und Simona Blankenburg in Kontakt, weil der Verein Hilfesuchenden Ärzte vermittelt, sie berät und als Vertragspartner zwischen Kassenärzten und Krankenkassen fungiert.
Blankenburg: "Berlin ist wirklich ein Vorreiter für diese Form der Versorgung, da war deutschlandweit so etwas noch gar nicht möglich - viele Jahre war Berlin da maßgeblich und die anderen Bundesländer haben geschaut, was passiert in Berlin, wie haben die es gemacht."
Simona Blankenburg sitzt am Schreibtisch des kleinen schmucklosen Bürokasten, das Telefon in Griffweite, weil sie immer Montag bis Donnerstag zwischen 9 und 15 Uhr die telefonische Beratung macht. Sie ist ausgebildete Qualitätsmanagerin. Früher hat sie in einem 5-Sterne-Hotel gearbeitet. Jetzt ist sie zuständig für Sterbende und oft erste Anlaufstelle:
"So ist es schon oft passiert, dass wir den Anrufern, die beraten werden möchten, die Todesnachricht überbracht haben. Weil sie gar nicht wussten, dass palliativ am Ende des Lebens bedeutet: 'Mein Arzt hat mir gesagt, ich muss jetzt bei Ihnen anrufen. Palliativ, ich weiß gar nicht, was das bedeutet.'"
Es sind sehr schwierige Telefonate, die sie führt. Mit Angehörigen, die etwa einen Arzt für die eigene Mutter suchen, der sie in den letzten Tagen zu Hause betreut. Und Menschen im Schockzustand, die sich erst damit abfinden müssen, an ihrer Krankheit zu sterben.
Blankenburg: "Ich habe das Gefühl, dass ich irgendwie eine Gabe habe, es auszuhalten, wenn Menschen in solchen Ausnahmesituationen sind. Ich kann das aushalten und ich habe ein Gefühl dafür, was ist jetzt notwendig. Was ist unterstützend. Manchmal ist es auch Schweigen und Stille. Es gibt täglich vier bis fünf Anrufe, manchmal auch gar keinen. Es ist ganz unterschiedlich."
Blankenburg öffnet die Schublade, zieht mehrere zusammengetackerte Seiten hervor, darauf mit Namen und Datum erfasst, wie viele Anrufer sie bei Home Care erreichen – und wie viele sie vertrösten müssen:
"Wir haben mal angefangen zu zählen, wie viele Anrufe kommen hier bei uns an, von Betroffenen, von Angehörigen, von Patienten, die nicht in die Versorgung vermittelt werden können. Das ist eine stattliche Anzahl. Es gibt zu wenige SAPV Ärzte." (Blättert)
Für Simona Blankenburg ist dies das Schlimmste: einem Sterbenden zu sagen, dass sie für ihn keinen ambulanten Palliativarzt findet. Rund 100 Ärzte in Berlin haben die SAPV-Zusatzausbildung und Zulassung, aber nur die Hälfte davon praktiziert. Von ihnen wurden im letzten Jahr etwa 6500 Patienten betreut.
Ein Wahnsinn, schon jetzt ist für jeden einzelnen Hausbesuch viel zu wenig Zeit. Blankenburg muss Anrufer mit einer Palliativstation im Krankenhaus vertrösten, oder - wenn Glück ist - mit einem Hospiz:
"Menschen wollen zu Hause sterben. Das ist doch der größte Wunsch, zu Hause in seiner Umgebung zu sein, und da treten die Betroffenen und die Patienten selber mit großen Zielen an und sagen sich: Ja, das wollen wir und das können wir für Papa, jetzt wo er stirbt, alles selbst zu Hause organisieren. Wir versorgen ihn. Ja wir gehen arbeiten, aber das schaffen wir schon alles. Und wenn sich diese gute Versorgung dann doch über eine gewisse Zeit hinzieht, kommen die Menschen auch an Grenzen."
Simona Blankenburg weiß aus Erfahrung auch: Der Wunsch vieler, zu Hause zu sterben, überfordert oft die Angehörigen. Umso wichtiger ist daher, dass das Netzwerk an Unterstützern möglichst dicht und groß ist. Ärzte, Pflegedienste, Krankengymnasten, Sozialarbeiter, Seelsorger, Psychologen, Apotheker - alle müssen Hand in Hand arbeiten.
Thomas Schindler hat sein Brötchen aufgegessen und ist schon wieder unterwegs zum nächsten Patientenbesuch.
Im Treppenhaus vor Ines Heises Wohnungstür riecht es nach Mittagessen.
"Ich koch' seit zwei Tagen ununterbrochen. Ich kann Ihnen sagen: Es ist ein Zeichen, ich habe ja monatelang, fast jahrelang, gar nicht mehr gekocht. Er: Ein gutes Zeichen, ein sehr gutes Zeichen!"
Noch vor drei Monaten konnte Ines Heise keinen einzigen Schritt tun. Dem Tumor in ihrem Körper ist sie in den letzten fünf Jahren mit mehreren Operationen, zwei Chemozyklen mit jeweils 15-20 Chemotherapien und circa 120 Bestrahlungen zu Leibe gerückt. Erfolglos. Er sitzt jetzt im Rückenmark. Sie ist 72, Lehrerin, deren Leben nicht immer "lustig, aber bunt" war, wie sie sagt. Und: "Jeder weitere Moment ist ein Geschenk".
"Ich bin auch ein Meister im Verdrängen. Ein Meister. Ich finde, ich habe immer noch eine große Lebensqualität – auch jetzt – also verglichen mit dem, was mal war. Aber jetzt freue ich mich als ich vor zwei Wochen das erste Mal wieder den Müll runterbringen konnte. Wow. Wie autark! Wie autark!"
Schindler hat gegenüber von Ines Heise Platz genommen– beide im Sessel, durchs Terrassenfenster ins Licht getaucht. Sie ist nachdenklich, aber auch heiter und gelöst. Er ist zugewandt. Ganz am Anfang, als die Diagnose kam, dachte sie zuerst an Suizid. Sie bat alte Freunde sich über Möglichkeiten zu informieren:
"Ich möchte, dass ihr mir sagt, wie - wenn ich es für notwendig halte - ich meinem Leben ein Ende setze. Und dann kamen die verschiedensten - übrigens ich habe nicht meine Familie , die habe ich nicht gefragt, weder meine Kinder, noch meine Schwester, das geht gar nicht – und dann kamen auch Antworten. Und ich glaube inzwischen wird es das Hospiz sein."

"Wie kann ich meinem Leben ein Ende setzen? Ich wollte es wissen."

Ines Heise hat sich gegen den Suizid entschieden. Aber es tut gut, die Möglichkeiten zu kennen: nach ihrer Bitte schlägt ein Freund einen begleiteten Suizid in der Schweiz vor, eine Bekannte recherchiert Barbiturate. Jeder vierte Sterbenskranke bittet irgendwann um einen schnellen Tod, das zeigen Studien. Auch Thomas Schindler hört diesen Wunsch oft in verzweifelten Momenten. Das bedeutet aber nicht, dass jeder Sterbende, der darum weiß, es auch tatsächlich will und tut.
Für Ines Heise waren die Recherchen ihrer Freunde einfach beruhigend. Noch beruhigender ist für sie aber der medizinische Fortschritt und die Tatsache, dass inzwischen starke Schmerzmittel wie Palladon existieren:
"Sie: Wovor hat man eigentlich Angst? Ich glaub am meisten vor den Schmerzen. Und wenn es möglich ist mir bis zum Ende hin die Schmerzen zu nehmen, dann glaube ich ist das die Option jetzt. Ob es die bleibt weiß ich nicht. Muss man das wissen? Das ändert sich doch auch.
Er: Nein. Wie so vieles im Leben.
Sie: Und deswegen bin ich so dankbar – dass ich so eine Betreuung wie Herrn Dr. Schindler habe. Palladon ist beruhigend – der ist noch viel beruhigender."
"Ja, aber Patienten wie Frau Heise sind natürlich auch für uns als betreuende Ärzte dankbar. Das ist auch für mich im Tagesablauf eine Erfrischung, sie ist witzig, ist sehr selbstbewusst und hat eine Art und Weise mit der Erkrankung umzugehen, die ich klasse finde."
235 Patienten, die in seiner Gemeinschaftspraxis betreut wurden, sind dieses Jahr bereits gestorben.
Ein paar Wochen noch – vielleicht auch Monate – und Schindler muss auch von Ines Heise Abschied nehmen. Mal fällt ihm dies leichter, mal schwerer, niedergeschlagen ist er deshalb nicht. Das Leben schafft Ausgleich.

Lebenshilfe für den Arzt: Mascha Kalékos Gedichte

Thomas Schindler ist mit einer Krankenschwester verheiratet, die in einem Hospiz arbeitet. Die beiden haben sich dort kennengelernt, und nicht nur beruflich verbindet sie vieles. Beide gehen sehr gern Tanzen: Tango, Standard, Latin, Salsa - alles, was Spaß macht, sagt er. Und er mag Gedichte.
Mascha Kaléko, die jüdische Dichterin, die im Berlin der 30er Jahre mit ihrer Alltagslyrik berühmt wurde, ist seine Lieblingsdichterin. Ihre Gedichte hat er sich aufs Handy geladen:
"Wenn ich nicht während der Fahrten von einem Patienten zum anderen viel organisieren muss, was durchaus oft der Fall ist, mit Apotheken telefoniere, mit Krankenhäusern, mit anderen Ärzten, dann lerne ich oft Gedichte und konzentriere mich auf Gedichte. Das ist was sehr, sehr Schönes und dann bin ich sehr schnell auch wieder in einer anderen Welt."
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