Palavern ohne Punkt und Komma

07.06.2010
Zum Beispiel folgende Situation: Fünf Menschen, die sich bislang nicht kennen, sitzen bei einer privaten Abendeinladung am Esstisch. Das Gespräch entwickelt sich zögernd und unverbindlich. Da klingelt es, der sechste Gast erscheint, etwas verspätet – dafür aber unüberhörbar. Er legt sofort los, redet, erzählt, palavert ohne Punkt und Komma, neben ihm kommt niemand anders mehr zu Wort, sein Redetrieb ist unerschöpflich.
Er ist der Schwätzer der Runde und bleibt es bis zum Ende des Abends. Was aber prädestiniert ihn für diese Rolle und wie ist sie beschaffen? Der Kölner Literaturwissenschaftler Karl-Heinz Göttert unternimmt in seinem Buch "Schwätzer. Leben mit Flegeln" den sehr unterhaltsamen Versuch einer Antwort.

Er zeichnet die Physiognomie eines Charakters, der von einer rhetorischen und kommunikativen Verhaltensweise, eben dem Schwätzertum, bestimmt ist, und er erzählt gleichzeitig die Geschichte dieses Lasters vom Altertum bis heute. Göttert interessiert am Schwätzer vor allem die Überschreitung der Konvention, der gesellschaftlichen Regel: das also, was ihn zum Flegel macht.

Der Schwätzer benimmt sich unkontrolliert und undiszipliniert. Er redet in bedenkenlosen Mengen, er ähnelt darin dem Gefräßigen; etwas buchstäblich Unanständiges umgibt ihn. Mit seiner Unhöflichkeit und Rücksichtslosigkeit zieht der Schwätzer Unmut oder sogar Aggressionen auf sich. Er nervt.

Aber er fasziniert auch durch seine anarchische Energie. Er ist das Salz in der diskursiven Suppe. Ohne den Schwätzer, der es auf sich nimmt, das Schweigen der Schüchternen, die rhetorische Zurückhaltung der Vornehmen zu kompensieren, wäre das soziale Leben um einiges langweiliger.

Diese Dialektik ist das gedankliche Fundament, auf dem Karl-Heinz Göttert seine höchst unterhaltsam zu lesende, mit ironischem Unterton verfasste kleine Phänomenologie des Schwätzers errichtet. Er behandelt nicht nur kulturgeschichtliche Fragen, wie die nach dem Zusammenhang zwischen der psychoanalytischen Talkingkur und dem Schwätzen, sondern auch lebenspraktische Aspekte.

Der wichtigste davon ist sicher: Wie verhält man sich als Opfer eines Schwätzers? Wie bringt man ihn zum Schweigen, wenn man während einer privaten Abendeinladung neben ihm am Tisch sitzt und seit Stunden nicht zu Wort kommt?

Besprochen von Ursula März

Karl-Heinz Göttert: Schwätzer. Leben mit Flegeln
Reclam Verlag, Ditzingen 2010
180 Seiten, 8,95 Euro
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