Kommentar zum Nahostkrieg

Netanjahus Traum vom „totalen Sieg"

04:49 Minuten
Palästinenser fliehen nach einem Angriff der israelischen Armee aus Dschabalia in Gaza.
Palästinenser fliehen nach einem Angriff der israelischen Armee aus Dschabalia in Gaza. © imago / Mahmoud Issa / SOPA Images
Ein Kommentar von Michael Lüders |
Audio herunterladen
Was soll mit den Palästinensern geschehen, wenn die Waffen irgendwann schweigen? Die israelische Regierung wolle sich ganz Palästina untertan machen, meint der Nahost-Experte Michael Lüders - und warnt vor einer Flüchtlingswelle Richtung Europa.
Längst könnte es im Nahen Osten einen Waffenstillstand geben. Doch zog es die israelische Regierung vor, die Vermittlungen der USA, Ägyptens und Katars zur Freilassung der Geiseln im Gazastreifen zu torpedieren, wie US-Präsident Joe Biden im vorigen Monat unmissverständlich klarstellte.
Es verwundert daher nicht, dass Israels Premier Benjamin Netanjahu den Verhandlungsführer der Hamas, Ismail Haniyyeh, am 31. Juli in Teheran ermorden ließ. Auch mit der Hisbollah war der Waffenstillstand zum Greifen nahe.
Im Gespräch mit dem US-Fernsehsender CNN erklärte der libanesische Außenminister Abdallah Bou Habib am 2. Oktober, der Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah habe einer 21-tägigen Waffenruhe zugestimmt – Voraussetzung für Verhandlungen. Doch die israelische Führung zog es vor, ihn am 27. September zu ermorden.

Massenmord an den Palästinensern

Zu Recht wurde und wird auf das Leid israelischer Opfer verwiesen, die am 7. Oktober 2023 getötet oder entführt wurden. Der seither erfolgende Massenmord an Palästinensern und zunehmend auch an Libanesen gilt hingegen eher als „Kollateralschaden“.
Zum Jahrestag des Großangriffs der Hamas fabulierte Kanzler Olaf Scholz, allein eine von Israelis und Palästinensern gemeinsam ausgehandelte Verhandlungslösung weise den Weg zum Frieden.
Weiß er nicht oder will er nicht wissen, was im Parteiprogramm der Regierungspartei Likud aus dem Jahr 1977 steht? Was das israelische Parlament zum wiederholten Mal im Juli 2024 festgehalten hat? Demzufolge werde es keinen palästinensischen Staat „westlich des Jordanflusses“ geben, denn Erez Israel, das historische Palästina, das Land zwischen Mittelmeer und Jordan, stehe ausschließlich seinen jüdischen Bewohnern zu.

Drei ethnische Säuberungen

Wie also mit den Palästinensern verfahren? Giora Eiland, vormaliger Generalmajor und Nationaler Sicherheitsberater Israels, stellte im vorigen Monat diesen Plan vor: Den Norden des Gazastreifens hermetisch abzuriegeln und die Bevölkerung in Richtung Süden zu vertreiben. Wer bleibe, werde erschossen oder verhungere, denn die Hilfslieferungen würden endgültig eingestellt.
Ob es Zufall sein mag, dass die israelische Armee gegenwärtig einen Großangriff auf die Stadt Dschabalia wie auch auf das gleichnamige Flüchtlingslager im Norden führt und die Bevölkerung ultimativ auffordert, die Region zu verlassen?
Doch die Pläne der Regierung Netanjahu gehen weiter. Nicht allein will sie sich das gesamte Palästina untertan machen, auf Grundlage der dann dritten ethnischen Säuberung nach 1948 (im Zuge der Staatsgründung) und 1967 (im Zuge des Sechstagekrieges). Gleichzeitig sollen die letzten militärischen Widersacher neben der Hamas ausgeschaltet werden: die Hisbollah im Libanon und deren Schutzmacht Iran.
Die Eskalation im Libanon, eingeleitet mit den Pager-Explosionen am 18. September, erlaubt zudem, vom Töten im Gazastreifen abzulenken, das unvermindert fortdauert, seither aber weniger im Fokus steht. Offiziell geht es darum, den Raketenbeschuss der Hisbollah auf Nordisrael zu beenden.

Israel will Krieg gegen Iran

Vor allem aber träumt die Regierung Netanjahu von einem „totalen Sieg“ über ihre Widersacher und sucht die USA in einen Krieg gegen den Iran hineinzuziehen, am besten noch vor den US-Präsidentschaftswahlen am 5. November. 
Die Europäische Union in Brüssel wie auch die Bundesregierung lassen geschehen. Hiesige Auguren lassen sich anstecken von „Regime Change“-Fantasien im Iran. Doch Teheran hat mit Russland und China mächtige Verbündete. Zu befürchten ist, dass Netanjahu und die Seinen den Libanon genauso zerstören wie schon den Gazastreifen.
Während das Thema Asyl und Migration Europa innenpolitisch zu zerreißen droht, dürfte bald schon ein weiterer nahöstlicher Flüchtlingstreck in Richtung Deutschland und Europa aufbrechen.
Israels Gewalt sät einen Hass, der für mehrere Generationen reicht. Wenn ein Land mit sieben Millionen jüdischen Einwohnern der islamischen Welt mit mehr als zwei Milliarden Menschen indirekt den Krieg erklärt, so kommt die Botschaft dort an, kann das böse enden.

Michael Lüders hat viele Jahre im Nahen Osten gelebt und war langjähriger Nahost-Korrespondent der Wochenzeitung „Die Zeit“ in Kairo. Bis 2022 stand er als Präsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft vor und berichtete dem Deutschen Bundestag als Sachverständiger in der Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan“. Seit Januar 2024 gehört Michael Lüders dem erweiterten Parteivorstand des „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW) an. Eine ausführliche Analyse der Ursachen des Nahost-Konfliktes hat er soeben in seinem neuen Buch „Krieg ohne Ende? Warum wir für Frieden im Nahen Osten unsere Haltung zu Israel ändern müssen“ veröffentlicht.

Porträtaufnahme des Nahost-Experten Michael Lüders während einer Fernsehtalkshow.
© imago images / APress
Mehr zum Nahostkrieg