"Pakistan und Afghanistan wurden geradezu mit Waffen überflutet"

Moderation: Michael Groth |
Die Forderungen des Westens nach Freiheit und Demokratie kommen in der arabischen Welt nicht immer gut an, sagt die Anthropologin Saba Mahmood von der Berkeley University. Zu tief seien insbesondere die USA durch eine lange Kette politischer Fehler in die aktuelle Lage verstrickt.
Michael Groth: Saba Mahmood lehrt an der Universität Berkeley in Kalifornien. Sie verbringt derzeit ein Forschungssemester an der American Academy in Berlin. Ihr Spezialgebiet ist die Religionsfreiheit und die Rolle von Minderheiten im Nahen und Mittleren Osten – und sie war, bevor sie zur Anthropologie kam, Architektin und Politikwissenschaftlerin. Wieso dieser – ja ungewöhnliche – zweifache Wechsel der Perspektive?

Saba Mahmood: Als Architektin habe ich viel Zeit mit Obdachlosen verbracht. So entstand mein Interesse an den Unterprivilegierten und Armen in der Gesellschaft. Damals – 1991 - brach der Erste Golfkrieg aus. Irak marschierte in Kuwait ein, und die Vereinigten Staaten bombardierten Bagdad. Ich protestierte gegen diesen Krieg. Ich beobachtete die Transformationsprozesse in der Region. Und ich beschloss, diesen Dingen wissenschaftlich auf den Grund zu gehen. Wie wir wissen, war dies genau der richtige Zeitpunkt – die Veränderungen, die damals begannen, sind ja zum Teil heute noch nicht abgeschlossen.

Ich merkte dann bald, dass ich mit Politikwissenschaft nicht weiter kam. Das ist eine stark eurozentrisch geprägte Disziplin. Das amerikanische und das europäische Bild dient der Politikwissenschaft als Projektion für den Rest der Welt. Zu einem besseren Verständnis für den Mittleren Osten trägt das wenig bei. Also wechselte ich noch einmal die Disziplin und landete in der Anthropologie.

Groth: Leben wir in einer Welt, in der die Religionsfreiheit eher ein Problem als eine Lösung ist?

Mahmood: Religionsfreiheit ist wichtig als Ideal. Jeder sollte die Freiheit haben, seinen Glauben – oder Nicht-Glauben – zu praktizieren. Die Probleme liegen in der Interpretation, der staatlichen Regulierung sowie der Jurisprudenz. Das größte Hindernis für Religionsfreiheit sind nicht die Extremisten, die wir in nahezu jeder Religion finden. Es ist vielmehr der Versuch der staatlichen Macht, ihre Vorstellung von Religion durchzusetzen. Das gilt für demokratische Staaten genau wie für Staaten, die auf Demokratie verzichten. Alle unterliegen der Versuchung, sich ständig in religiöse Fragen einzumischen. Unter dem Mantel der Religionsfreiheit arbeiten sie daran, eben diese Freiheit einzuschränken, oder sogar ab zu schaffen.

Groth: Sind die Staaten des Mittleren Osten zu sehr involviert in der Regulierung der Religion?

Mahmood: Das Problem besteht ja nicht nur im Mittleren Osten. Aber natürlich gilt es auch für den Mittleren Osten: Die Staaten, die sich über die Religion definieren, sind Staaten, die eine freie Ausübung der Religion stark einschränken. Aber bitte vergessen Sie die Gemeinsamkeiten der Probleme nicht. Wir sollten nicht mit dem Finger auf eine bestimmte Region zeigen, in der Absicht, dort besonders schwerwiegende Verletzungen der Glaubensfreiheit zu finden.

Schauen Sie nach Europa. In Frankreich ist das Tragen von Kopftüchern in öffentlichen Schulen verboten. Aus amerikanischer Perspektive ist das eine eindeutige Verletzung der Religionsfreiheit. Die Franzosen sehen das offenkundig anders. Sie rechtfertigen dieses Verbot mit dem Hinweis auf ihren säkularen Staat. Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte gibt Frankreich und anderen Staaten ausdrücklich das Recht zu definieren, was als Religion zu zählen hat, und was nicht. Das ist eine Einschränkung der Religionsfreiheit.

Seit den neunziger Jahren gab es nicht eine Entscheidung, in der den Staaten das Recht abgesprochen wurde, über religiöse Dinge zu entscheiden. Und das Ganze im Namen der Religionsfreiheit.
Mahmood: Was heißt das für den Mittleren Osten? Wir müssen genau unterscheiden, über welche Länder wir hier sprechen. Saudi-Arabien? Keine Religionsfreiheit. Außer der kleinen Sekte, der die Machthaber angehören, werden alle Glaubensrichtungen unterdrückt. Nicht nur Christen und Juden werden verfolgt. Auch die schiitischen Muslime leiden unter dem Regime und werden als Bürger zweiter Klasse behandelt.

Libanon? Eine ganz andere Lage. Die demokratisch gewählte Regierung erkennt 18 unterschiedliche Sekten an – sie sind integriert und jede dieser Gruppen nimmt einen ihrer Größe entsprechenden Platz in der Gesellschaft ein.

Es gibt verschiedene Modelle: von der saudischen Monarchie, Bahrein und Iran, die jede freie Ausübung der Religion unterdrücken, bis zu Tunesien, Ägypten. Libanon und Jordanien, wo eine völlig andere Ausgangslage herrscht.

Groth: Sie haben ein Buch über den Islamismus in Ägypten geschrieben – und beobachten die Entwicklung dort genau. Der neue Präsident Mursi bezeichnet sich als Staatsoberhaupt aller Ägypter. Das sehen zum Beispiel die koptischen Christen und moderate Muslime anders.

Mahmood: Das Problem heißt nicht Mursi. Die Gesetze, die die Religionsfreiheit für Nicht-Muslime in Ägypten einschränken, sind Jahrzehnte alt. Zum Teil reichen sie bis in die Nasser-Zeit zurück. Seit den siebziger Jahren hat sich die Situation für Andersgläubige aber ständig verschärft. Das liegt an den unveränderten Gesetzen, es liegt aber auch an einem generellen Klima der Unterdrückung im Land. Das gilt für politische wie für religiöse Freiheiten.

Groth: Hat der so genannte Arabische Frühling die Unterdrückung nur verändert? Vom Militärregime zu einer Diktatur der Muslimbrüder?

Mahmood: So kann man das nicht sagen.

Groth: Warum? Natürlich geben die Muslimbrüder kein gutes Bild ab. Sie sind demokratisch gewählt, trotzdem ähnelt ihr Verhalten eher dem Verhalten der vorhergehenden Regierung Mubarak. Aber – und das ist der Fehler – wir erklären ihr Verhalten mit dem Verweis auf ihren religiösen Hintergrund. Dabei nutzen sie die gleichen Gesetze, die unter Mubarak galten.

Wenn wir über Religion in Ägypten sprechen, dann gibt es zwei weitere Faktoren. Da ist einmal die Protestbewegung, die Leute, die Mubarak stürzten. Diese Bewegung ist noch immer aktiv. Sie wird sich nicht unterdrücken lassen. Die Menschen werden auf dem Tahrir-Platz weiter für ihre Rechte demonstrieren, auch gegen die Muslimbrüder.

Daneben haben profitieren auch die islamischen Extremisten von den Umwälzungen. Die Gesellschaft wurde offener. Gruppen, die bislang im Geheimen operierten, kommen jetzt an die Öffentlichkeit. Diese Gruppen ärgern die Muslimbrüder genau so wie die Demonstranten, die eine offene, liberale Gesellschaft wollen.

Jetzt kommt es darauf an, ob die Demokratiebewegung die Extremisten zurückdrängen kann oder ob das Gegenteil geschieht. Es wird von der ökonomischen Entwicklung abhängen. Wenn sich die Lage der Menschen nicht ändert, wenn es nicht wenigstens etwas Hoffnung auf Wohlstand und Frieden gibt, dann wird der Frust groß werden. Wenn Armut und Arbeitslosigkeit und Korruption ansteigen, dann werden die Extremisten gewinnen.

Groth: Sehen Sie unter der Regierung Mursi Fortschritte?

Mahmood: Die politische Instabilität hat der Wirtschaft schwer geschadet. Es gibt eine Kapitalflucht, und die Tourismusindustrie, der größte Wirtschaftsfaktor, ist dramatisch geschrumpft. Die Hotels in Kairo zum Beispiel verzeichnen einen Rückgang der Belegungszahlen um 85 Prozent.

Wenn diese Einnahmen wegbrechen, dann leidet die gesamte Bevölkerung. Von der Weltbank hat Mursi auch nichts zu erwarten. Alles sieht nach Stillstand aus. Die Regierung schafft es nicht, die Wirtschaft wieder auf Touren zu bringen.

Groth: Fürchten Sie, dass sich dort bald Gewalt ausbreitet?

Mahmood: So wie in Syrien oder in Libyen oder im Irak wird es nicht werden. Die Gewalt, die wir in diesen Ländern sehen, hat mit der Verbreitung von Waffen zu tun. Auswärtige Mächte unterstützen Gruppen, von denen sie sich nach dem Ende der Konflikte eine Vertretung ihrer Interessen versprechen – vor allem mit Waffen.

In Ägypten ist das anders. Dies ist keine Gesellschaft, in der nahezu jeder bewaffnet ist. Was nicht heißt, dass es keine Aufstände geben kann, wenn sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert. Und diese Aufstände spielen den Extremisten in die Hände: das wäre eine politische Katastrophe.

Die Armee schaut sich das Ganze derzeit von der Seitenlinie an. Dabei hat das Militär nicht nur Sicherheitsinteressen. Es hält auch große Anteile an der Wirtschaft. Ich halte es für möglich, dass sich das Militär einmischt, wenn ihm die Dinge zu weit gehen.

Groth: Ein zentraler inner-muslimischer Konflikt ist der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten. Sehen in Ländern wie dem schiitischen Iran einerseits, oder dem sunnitischen Saudi-Arabien andererseits Tendenzen eines Ausgleichs zwischen diesen Richtungen?

Saudi-Arabien heizt diesen Konflikt immer wieder an. Das Land spielt eine sehr negative Rolle. Es ist Saudi-Arabien gelungen, eine Allianz mit den Golf-Staaten und den USA und Europa herzustellen. Denen geht es natürlich um Öl. Die Golfanrainer versprechen stabile Ölpreise, und die Importnationen schauen weg, wenn es um Menschenrechte und Religionsfreiheit geht. Eine problematische und hinterhältige Allianz.

Was passiert in Saudi-Arabien? Es gibt dort eine schiitische Minderheit. Etwa zehn Prozent der insgesamt 25 Millionen Einwohner des Landes. Diese Minderheit hat keine Rechte – die Mehrheit der Saudis hält sie für Häretiker.

Diese Idee, dass Schiiten gar keine Muslime sind, sondern irgendeine wilde Sekte, die sich gegen die Sunniten verschworen hat, ist zum Exportprodukt geworden. Ausgehend von Saudi-Arabien verbreitet sich dieses Vorurteil bis nach Afghanistan und Pakistan. Das begann 1979 mit der Iranischen Revolution. Vorher waren die Beziehungen zwischen Sunniten und Schiiten vergleichbar mit dem Verhältnis von Protestanten zu Katholiken. Nicht ohne Probleme, aber weitgehend friedlich. Aber jetzt gibt es diese verbissene Schlachtordnung, in der nur eine Seite dem wahren Islam angehören kann.

Groth: Nehmen Sie Ägypten. Weniger als ein Prozent der Bevölkerung sind Schiiten. Dennoch greift das gesamte politische und religiöse Establishment die Propaganda aus Saudi-Arabien auf.

An den Universitäten gehört dieser Unsinn zum Curriculum! Ich habe das erlebt. Ich bin schockiert, dass der schiitische Teil des Islam, der über Jahrhunderte komplett integriert war, nun als reine Häresie bezeichnet wird. Was wiederum den Sicherheitsapparaten die Verfolgung Andersdenkender erlaubt im ganzen Mittleren Osten.

Groth: Versucht Iran dagegen zu halten? Fördert Teheran die Schiiten in anderen Ländern?

Mahmood: Der Iran weiß, was los ist. Es ist kompliziert. Am Beispiel des Irak wird das deutlich. Schlechter als dort sind die Beziehungen zwischen Schiiten und Sunniten Nirgendwo. 32 Prozent der Bevölkerung sind Sunniten, 65 Prozent sind Schiiten. Die Christen haben fast alle das Land verlassen.

Iran unterstützt die Schiiten natürlich. Und die Vereinigten Staaten haben nichts unternommen, die Macht der Schiiten zu begrenzen. Inzwischen beobachten wir im Irak religiöse Verfolgung und ethnische Säuberungen.

Dennoch ist das vor allem eine inner-irakische Sache. Der Einfluss Teherans ist nicht besonders groß. Der Iran steht unter Beobachtung. Er hält sich auch in Syrien zurück, wenn es um Waffenlieferungen geht.

Und was den Glauben betrifft, teilen durchaus nicht alle Schiiten die Ansichten der iranischen Mullahs. Unter den Schiiten gibt es weitaus größere Unterschiede als unter den Sunniten.

Groth: Spielen die Vereinigten Staaten ein falsches Spiel? Teheran wird kritisiert, aber der strategische Partner in Riad wird hofiert?

Mahmood: Absolut. Was hören wir? Dass Christen und Juden im Mittleren Osten verfolgt werden. Darum müssen wir uns kümmern. Was wir nicht hören: Dass die Schiiten von den Regimes verfolgt werden, die die wichtigsten Verbündeten der Vereinigten Staaten und ihrer europäischen Partner sind.

Das liegt auch daran, dass die westliche Öffentlichkeit den Islam meist als homogenes Gebilde betrachtet. Und natürlich empfindet diese Öffentlichkeit für Christen und Juden weit mehr Empathie als für Schiiten. Schiiten werden dagegen mit Ahmadinedschad, der Hisbollah und Chomeini gleichgesetzt.

Der doppelte Standard der Vereinigten Staaten wird deutlich am Beispiel Bahrein. Die Schiiten bilden dort die Mehrheit – die Sunniten eine kleine Minderheit. Teil dieser Minderheit ist die königliche Familie. Damit sind die Sunniten an der Macht. Die Schiiten werden verfolgt und diskriminiert.

An die brutal niedergeschlagenen Demonstrationen während des Arabischen Frühlings kann ich mich gut erinnern. Damals sind übrigens die Saudis den Herrschern in Bahrein zu Hilfe gekommen. Die Vereinigten Staaten schweigen zu alldem. Dieser doppelte Standard hat auch damit zu tun, dass die fünfte US-Flotte in Bahrein ankert. Washington hat kein Interesse an demokratischen Verhältnissen in der Golfregion. Also schweigt man, während man Iran wegen der Verfolgung Andersgläubiger kritisiert. Was okay ist – Iran muss kritisiert werden. Aber die Kritik sollte beide Seiten treffen.

Groth: Kann oder soll der Westen in die Debatten über Religionsfreiheit im Mittleren Osten eingreifen?

Mahmood: Das geschieht ja bereits. Die Vereinigten Staaten und Europa stecken mitten drin in diesen Konflikten. Wie also verhalten sie sich? Lassen Sie mich einige Beispiele geben. Seit dem 17. Jahrhundert wird die Religionsfreiheit in Europa sehr einseitig propagiert. Wenn es den jeweiligen Interessen zu Gute kam, haben die europäischen Mächte Allianzen mit den unterschiedlichsten Minderheiten geschlossen. Dass galt auch für die Kolonialzeit. Den europäischen Missionaren, und später auch den amerikanischen Presbytern, ging es weniger um den Erhalt der eigenen Religion. Es war vielmehr der Versuch, auf fremden Kontinenten so viele Menschen wie möglich zur Konversion zu bewegen, mit oder ohne Gewalt.
Die Religionsfreiheit war immer Teil des politischen Vokabulars der westlichen Staaten.

1989 hat der US-Kongress einen International Religious Freedom Act verabschiedet. Darin verpflichtet sich das amerikanische Außenministerium, gegen jeden Staat vorzugehen, der die Glaubensfreiheit unterdrückt. Dieses "Vorgehen" hat sich dann vor allem auf die Verfolgung von Christen im Nahen und Mittleren Osten konzentriert. Von den unterdrückten Schiiten oder den Bahai war nicht die Rede.

Seitdem haben die Forderungen des Westens nach Religionsfreiheit in der Region einen schlechten Ruf. Die Menschen bezweifeln, ob es ernst gemeint ist, wenn sich die Vereinigten Staaten oder Europa um die Verfolgung Andersdenkender kümmern.
Der klarste Fall dieser einseitigen Betrachtung sind die Golfstaaten. Niemand kritisiert Saudi-Arabien oder Bahrain wegen der Verfolgung von Teilen der islamischen Bevölkerung.
Nochmal: Die Frage ist nicht, ob sich der Westen einmischen soll. Das ist bereits geschehen. Die Frage ist: Geschieht das scheinheilig und verlogen? Oder lässt sich der Westen an seinen Prinzipien messen und schaltet sich dann ein, wenn es um diese Prinzipien geht, und nicht um seine geopolitischen Interessen?

Groth: Sie arbeiten zur Zeit an einer vergleichenden Studie zur Religionsfreiheit. Sehen Sie Defizite auch in westlichen Gesellschaften?

Mahmood: Ja, klar. Wir müssen doch nur an den Zweiten Weltkrieg und die Judenverfolgung erinnern. Wir sprechen hier über ein globales Problem. Nicht über ein Problem des Mittleren Ostens.

Wenn wir diese Frage nur als kulturelle Frage begreifen, dann verlieren wir die politische Dimension: Warum werden religiöse oder andere Minderheiten immer wieder als Sündenbock für die Ursache von Problemen genutzt, die die Mehrheitsgesellschaft nicht lösen kann oder will?

Hier in Deutschland denkt man sofort an den Holocaust. Die Juden wurden verfolgt, die Roma, Behinderte, Homosexuelle, fast alle Minderheiten. Wir haben erlebt, wie ein autoritäres Regime relativ kleine Gruppen verfolgt, weil sie diese verantwortlich für gesellschaftliche oder wirtschaftliche Probleme macht, deren Ursachen ganz woanders liegen.

Hannah Arendt hat das sehr deutlich gesagt: Was unter den Nationalsozialisten geschah, entstand aus Wurzeln, die der europäische Nationalstaat in seiner Gründungszeit geschlagen hat. Wenn der Nationalstaat und seine Bevölkerung als Einheit erscheinen – und wenn der Staat dann für die Mehrheit der Bevölkerung spricht, dann kann es für die Minderheiten gefährlich werden.

In Westeuropa sind heute nicht mehr die Juden der Sündenbock. Diese Rolle haben die muslimischen Immigranten übernommen. Fast überall beobachte ich Furcht vor dem Islam. Das hat auch etwas mit der Wirtschaftskrise zu tun. Aber ich bin immer wieder überrascht wie sehr die Reden, die gegen die Muslime gehalten werden, den Reden gleichen, mit denen man vor achtzig, neunzig Jahren den Antisemitismus begründete.

Diese Ähnlichkeiten werden leider nicht artikuliert. Das hat mit Palästina zu tun, mit dem Konflikt zwischen den Arabern und den Juden. Als Wissenschaftlerin bedauere ich das. Wir sollten verstehen, wie viel die Juden und die Muslime in Europa gemeinsam haben.

Groth: Sie sind in Pakistan aufgewachsen – besorgt Sie der wachsende Einfluss der Islamisten in Ihrer Heimat?

Mahmood: Ich bin sehr besorgt. Das Land wurde je geradezu besetzt. Nicht von den Islamistischen Parteien, sondern von den Extremisten, den Taliban. Auch in Pakistan sollten wir unterscheiden - zwischen den islamistischen Parteien, die sich dem demokratischen Prozess unterwerfen, und diesen Militanten, die nichts mit dem politischen Islamismus zu tun haben.

Das ist keine rein ideologische Revolution. Die Taliban wollen eine Gewaltherrschaft. Dieses Drama ist die Folge der geopolitischen Tragödie, die wir seit Jahrzehnten in der Region beobachten.

Das begann mit der sowjetischen Besetzung Afghanistans, es setzte sich fort mit Präsident Reagans Entscheidung, Afghanistan zum Vietnam der Sowjets zu machen. Die Vereinigten Staaten verbündeten sich damals mit dem pakistanischen Militär und den Saudis. Pakistan und Afghanistan wurden geradezu mit Waffen überflutet - Waffen, die in die Hände korrupter und fundamentalistischer Extremisten gelangten.

Die Sowjets haben Afghanistan verlassen, aber die Waffen blieben. Dann zogen sich auch die Vereinigten Staaten zurück – das war die Chance der Taliban. Was geschah, ist bekannt – es ist auf jeden Fall auch das Produkt einer amerikanischen Fehlerkette, deren Ende heute nicht abzusehen ist.

Die Gruppen, die mit Hilfe der USA in den siebziger und achtziger Jahren in Pakistan entstanden, sind heute so stark, dass sie das Land beherrschen können. Egal, wer diese Parlamentswahl gewinnt: er wird von den Taliban abhängig bleiben. Die Taliban lassen sich nicht integrieren. Die politischen Parteien in Pakistan bleiben Geiseln der Extremisten.

Groth: Nicht gerade eine optimistische Einschätzung.

Mahmood: Wir müssen unseren Demokratiebegriff erweitern. Es geht nicht nur um Wahlen. Es geht auch darum, dass die Institutionen offen bleiben, die die Wirtschaft und den politischen Prozess kontrollieren. Solange das Militär in Pakistan rund achtzig Prozent der Wirtschaft kontrolliert, werden demokratische Wahlen gar nichts ausrichten. Oder nehmen Sie den Sicherheitsapparat, der auch dem Militär untersteht. Dieser Apparat tötet Oppositionelle, er ist für das Attentat auf Benazir Bhutto verantwortlich. Solange das so bleibt, bleibt jede Regierung wirkungslos.