Pädagogin über Grundschulunterricht

"Das Lernen vollzieht sich bei den Kindern selbst"

Schulkinder in einer bayerischen Grundschule.
Die ideale Grundschule packt Kinder nicht in Schubladen, sondern versucht auf individuelle Entwicklungsniveaus einzugehen, meint unsere Gesprächspartnerin Maresi Lassek. © imago/MITO
Maresi Lassek im Gespräch mit Ute Welty · 09.01.2018
Weg von der Selbstlernidylle, mehr Frontalunterricht, forderte kürzlich der Lehrer Michael Felten im Deutschlandfunk Kultur. Maresi Lassek, Vorsitzende des Grundschulverbandes, hält dagegen: Die Grundschule müsse auf den unterschiedlichen Entwicklungsstand von Kindern reagieren und sie entsprechend fördern.
"Weg von der Selbstlernidylle", so lautete der Titel unseres Politischen Feuilletons am gestrigen Montag. Der ehemalige Gymnasiallehrer Michael Felten übte darin fundamentale Kritik an der Pädagogik in vielen Grundschulen. Besonders die neuen Lernformen stellte er auf den Prüfstand.
Viele unserer Hörer haben Kritik an den Aussagen von Michael Felten geäußert. Wir haben Maresi Lassek, Vorsitzende des Grundschulverbandes, zu den Aussagen Michael Feltens befragt.

Lesen Sie hier das Interview im Wortlaut:

Ute Welty: Das Lernen in der Grundschule steht massiv in der Kritik. Nach den jüngsten Studien über die Wissensschwächen deutscher Grundschüler hat das Politische Feuilleton von Michael Felten für Diskussionen gesorgt. Der Publizist und Pädagoge hat hier in Deutschlandfunk Kultur vor allem dazu aufgefordert, sich von der Selbstlernidylle zu verabschieden.
Grob gesagt, hält Felten den Frontalunterricht für erfolgreicher als das individuelle Lernen mit Arbeitspapieren. Die These von Michael Felten hat für Widerspruch gesorgt, und heute kommt Gegenrede von Maresi Lassek, Vorsitzende des Grundschulverbandes und eine Frau mit mehr als 30 Jahren Erfahrung in Bremen als Grundschullehrerin und als Schulleiterin. Guten Morgen, Frau Lassek!
Maresi Lassek: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Was ist denn Ihrer Erfahrung nach besser, die eher klassische Form von Unterricht oder die eher moderne?

Es hat sich viel geändert

Lassek: Ich denke, man kann nicht so konträr gegenüberstellen. Unterricht, Unterrichtsformen haben sich entwickelt im Laufe der Jahre, genau wie sich in anderen Bereichen Dinge entwickeln, ist auch die Pädagogik nicht auf dem Stand von vor 30 Jahren. Und man muss dazu in Beziehung setzen, wie Kinder heute aufwachsen, wie Kinder in die Schule kommen, wie die Bedingungen für Kinder sind, aber auch die Lebensbedingungen insgesamt in unserer Gesellschaft.
Und da hat sich viel verändert, und Schule und gerade die Grundschule als erste Instanz sozusagen im schulischen Bildungsverlauf hat da gerade in den letzten Jahren große Leistungen vollbringen müssen und den Lehrkräften viel abverlangt, dieser Veränderung auch Rechnung zu tragen.
Welty: Michael Felten war da anderer Meinung. Er legt den Schluss nahe, dass das selbstgesteuerte Lernen die Kinder eher durcheinander denn weiterbringt. Wie sehen Sie das?

Das Wichtigste ist der diagnostische Blick

Lassek: Da müsste man selbstgesteuertes Lernen deutlich differenzieren. Wir wissen, und das bekommen die Lehrerinnen und Lehrer in ihrer Ausbildung sehr gut vermittelt, dass Lernen von Kindern Strukturen braucht, dass die Lehrerinnen und Lehrer sehr gezielt und mit einem guten diagnostischen Blick schauen müssen, was bringen die Kinder mit. Sie müssen schauen, welche Materialien müssen sie bereitstellen, wie müssen sie Arbeiten organisieren, dass Kinder erfolgreich ins Lernen einsteigen.
Es geht darum, das Lernen vollzieht sich bei den Kindern selbst, das können wir nicht übernehmen. Aber wir müssen das Lernumfeld und die Lernmotivation so gestalten, dass Kinder darauf einsteigen und Freude am Lernen haben. Das wird ganz schnell in der Öffentlichkeit so banal wie früher "Kuschelpädagogik", wenn Sie an Herrn Herzog denken, und jetzt eben als selbstgesteuertes Lernen beziehungsweise als Selbstlernidylle abgetan. Das ist ein hochkomplexes Feld.
Welty: Wie muss denn ein Konzept aussehen, das eben zum Beispiel unterschiedliche Voraussetzungen der Kinder berücksichtigt?
Lassek: Die unterschiedlichen Voraussetzungen, das wissen wir, sind immens groß. Es kommen Kinder in die Schule mit circa drei Jahren Entwicklungsunterschied, und darauf muss Schule eingehen. Die Entwicklungsstudien zeigen auch, in Deutschland ist es nicht nur so, dass die eine bestimmte relativ große Gruppe von Kindern nicht bestimmte Standards erreicht.

"Die Orientierung an der Mittelnorm ist nicht so erfolgreich"

Sie zeigen auch, dass unsere starken Lernerinnen und Lerner, also die leistungsstarken Kinder weiterkommen könnten. Diese Orientierung an einer Mittelnorm ist nicht so erfolgreich. Und von daher ist es ausgesprochen notwendig, zu schauen, was bringt ein Kind mit, auf welchem Wissensstand, auf welchem Selbstorganisationsstand ist es. Das meinte ich vorhin mit diagnostischem Blick.
Und woran muss dann Schule ansetzen? Was muss ich dem Kind bieten? Ich kann nicht dem Kind, das schon lesen und schreiben kann, wenn es in die erste Klasse kommt, denselben Lehrgang im Aufbau von Buchstaben und anderem bieten wie einem Kind, das noch überhaupt keinen Zugang zu Buchstaben, Zahlen und sonstigem hat.

Grundschulen bilden die Basis zum Weiterlernen

Ich muss innerhalb einer Klasse unterschiedlich das Lernumfeld gestalten, und das ist die hohe Anforderung. Und das ist nicht so lapidar eine Selbstlernidylle, sondern da müssen Lehrerinnen und Lehrer sehr vielfältig ihre Arbeitsformen anschauen und vor allem auch den Kindern, dem einzelnen Kind die Zeit geben, die es braucht, um eine gute Basis zu entwickeln. Aufgabe der Grundschule ist die Basis zum Weiterlernen dann in den weiterführenden Schulstufen.
Welty: Maresi Lassek ist Vorsitzende des Grundschulverbandes, und sie hat sich eingeschaltet in die Diskussion über das Lernen an der Grundschule. Im Anschluss an das politische Feuilleton des Publizisten und Pädagogen Michael Felten hier in Deutschlandfunk Kultur. Frau Lassek, haben Sie herzlichen Dank für dieses Gespräch!
Lassek: Sehr gern, danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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