Pädagogik

Alternative zum Boot Camp

Von Susanne Billig · 29.11.2013
Der Amerikaner Paul Tough fordert mehr emotionale Stützung und Zuwendung für unterpriviligierte Kinder. Nicht kognitive Fähigkeiten seien entscheidend, sondern die "Soft Skills" wie Ausdauer, Neugier und soziale Kompetenz.
Das Einzugsgebiet der Fenger Highschool in Chicago ist ein hartes Pflaster. Die meisten Jugendlichen leben in Gewalt und bitterer Armut, schließen sich Straßengangs an oder werden als Mädchen schon schwanger und reichen ihre eigene Traumatisierung an die nächste Generation weiter.
In seinem Buch "Die Chancen unserer Kinder" stellt Paul Tough pädagogische Konzepte vor, die unterprivilegierten Kindern helfen sollen, ihrem Leben eine neue Wendung zu geben. Vokabeltraining und Mathe-Übungen im Vorschulalter erteilt der US-amerikanische Autor eine Absage. Nicht kognitive Fähigkeiten seien entscheidend für die Entwicklung eines Menschen, sondern "Soft Skills": Ausdauer, Selbstbeherrschung, Neugier, Mut, soziale Kompetenz.
Diese These untermauert Paul Tough unter anderem mit hirnphysiologischen Argumenten. Wenn ein Kind häufig Gewalt oder einen Mangel an emotionaler Zuwendung erlebt, schädigt dies nachweislich den Frontallappen der Großhirnrinde, zuständig für kognitive und emotionale Selbstregulierung. Sich konzentrieren, Anweisungen begreifen, Enttäuschungen verarbeiten, Impulse kontrollieren ‒ verstörte Kinder sind dazu kaum in der Lage.
Darum setzt die Fenger Highschool seit einigen Jahren auf die emotionale Stützung ihrer Schülerinnen und Schüler. Neuankömmlinge werden intensiv betreut, Sport- und Tanzkurse sollen Freude und Durchhaltevermögen stärken, gemeinsames Kochen eine Alternative zur Freizeit auf der Straße bieten. Strenger gehen die kostenfreien "KIPP"-Schulen ("Knowledge is Power") zu Werke, die in den armen Vierteln der USA boomen. Hier werden die Jugendlichen mit ständigen Parolen auf Werte und Disziplin eingeschworen und müssen schon für kleinste Regelverstöße mit Strafen rechnen. "Boot camp" oder Chance? Tatsächlich erreichen 80 Prozent der Absolventinnen und Absolventen eine Zugangsberechtigung zur Universität.
Sicheres Bindungsverhalten fördern
Ausführlich geht der Autor auch auf psychotherapeutische Ansätze ein, die jungen Müttern helfen, ihren Kindern trotz eigener Vernachlässigung ein sicheres Bindungsverhalten mit auf den Weg zu geben. Indem der Therapeut die Mutter stützt, gewinnt sie die Kraft, ihr Kind körperlich und emotional zu stärken. Tatsächlich zeigen Langzeitstudien, dass diese Therapien wirken und dass nicht Intelligenzquotient oder Notendurchschnitt, sondern vor allem die frühe elterliche Zuwendung entscheidet, ob ein Jugendlicher die Schule bis zum Abschluss durchhält.
Paul Tough interviewt Fachleute aus Pädagogik und Psychologie, präsentiert die pädagogische und psychologische Literatur, und porträtiert Schulen und Jugendliche mit ihren Erfahrungen. Deutlich grenzt sich der Autor am Ende seines Buches von konservativen Positionen ab, wonach es zur Bekämpfung der eklatanten Ungerechtigkeit und Armut in den USA ausreiche, wenn die Benachteiligten sich um ihre Persönlichkeiten kümmerten. Inwiefern er sich davon abgrenzt, erläutert er leider nicht. Das ist ein betrüblicher und leider auch kaum akzeptabler Mangel seines Buches.

Paul Tough: Die Chancen unserer Kinder. Warum Charakter wichtiger ist als Intelligenz
Aus dem Amerikanischen von Dieter Fuchs
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2013
315 Seiten, 21,95 Euro

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