Pädagoge über "Systemsprenger"

Wie schwierigen Kindern geholfen werden kann

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Szene aus dem Film "Systemsprenger": das schwierige Mädchen Benni, gespielt von Helena Zengel
In dem Film "Systemsprenger" spielt die Schauspielerin Helena Zengel ein Problemkind. © Yunus Roy Imer / Port au Prince Pictures
Menno Baumann im Gespräch mit Axel Rahmlow · 22.08.2019
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Der Film "Systemsprenger“ erzählt von einem Mädchen, dessen Aggressivität das Jugendhilfesystem überfordert. Der Pädagoge Menno Baumann hat das Filmteam fachlich beraten und sagt: Schwierige Kinder bräuchten klare Grenzen, aber auch Verständnis.
Die neunjährige Benni droht durch das Raster der Kinder- und Jugendhilfe zu fallen: Das Mädchen rebelliert, wird von einer Unterbringung zur nächsten geschoben und treibt seine Mitmenschen zur Verzweiflung. Diese Geschichte erzählt Nora Fingscheidt in ihrem Regiedebüt "Systemsprenger", das auf der Berlinale mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde und nun auch als deutscher Kandidat für den besten fremdsprachigen Film ins Oscar-Rennen geht.
Der Titel des Films greift einen Begriff aus der Pädagogik auf: Er steht für Fälle, in denen Kinder und Jugendliche eine negative Karriere in der Jugendhilfe durchlaufen haben. Menno Baumann, Professor für Intensivpädagogik an der Fliedner Fachhochschule in Düsseldorf, hat das Filmteam von "Systemsprenger" wissenschaftlich beraten. Er sagt, das es sich um eine relativ kleine Gruppe handle: "Etwa fünf bis acht Prozent der Kinder und Jugendlichen, die in Hilfesystemen wie der Jugendhilfe oder der Psychiatrie unterwegs sind, entwickeln sich im Laufe der Zeit zu sogenannten Systemsprengern."

"Systemsprenger" meint nicht das Kind allein

Baumann betont, "Systemsprenger" sei eigentlich nicht der Begriff für das Kind, sondern "für einen Prozess, der zwischen dem Kind und dem Hilfesystem passiert." Deshalb heiße der deutsche Oscar-Kandidat auch nicht "Systemsprengerin", obwohl es in dem Film um ein Mädchen geht.
Auf ein Kind angewandt hält der Pädagogikprofessor den Begriff für problematisch: "‚Systemsprenger‘ klingt ja erstmal so, als sei das Kind ein schlimmes Kind." Dabei sei es nur schlimm, ein System zu sprengen, wenn man das System für gut halte. Da setze er ein Fragezeichen: "Können wir uns eigentlich anmaßen, dass das System so gut ist, dass jeder, der es sprengt, böse oder krank oder schlecht ist?" Außerdem sei es nie ein Prozess, den ein Kind alleine vollziehe, sondern der in den Strukturen der Systeme verankert sei.

Deutsches Hilfesystem funktioniert

Im internationalen Vergleich habe Deutschland ein gutes und engagiertes Hilfesystem, sagt Baumann. "Unsere Sozialarbeiter, unsere Erzieher, unsere Lehrer machen ihren Job gut. Wir haben ein System, dass immer wieder neue Perspektiven anbietet, weswegen vielen Kinder doch auch nach vielen Fehlversuchen zurück in die Hilfen finden und zurück in die Gesellschaft finden." Dass es in Deutschland keine über Generationen fortbestehenden Jugendgangs wie in den USA gebe, habe damit zu tun, dass das deutsche Hilfesystem Perspektiven schaffe und nicht mit Gegengewalt reagiere.
Erfolgreiche Hilfe zeichne sich zum einen dadurch aus, dass es zwischen Helfern und dem Kind zu einem Verstehensprozess komme, sagt Pädagoge Baumann: "Im Sinne von: Ich sehe wie es dir geht und ich sehe, dass du mir etwas sagen willst." Weitere Faktoren seien klare Grenzen, dass eine Beziehung entstehe und dass Kinder durch Bildung eine Perspektive erhielten.

Der Film produziert Bilder, die betroffen machen

Natürlich gebe es auch schlechte Pädagogen und profitorientierte Träger, räumt Baumann ein. Vor allem aber gebe es auch überlastete Kollegen in Behörden: "Wenn ein Sozialarbeiter 80 bis 90 Fälle verwalten muss, dann können wir nicht mehr von Qualität reden."
Am Film "Systemsprenger" schätzt Baumann, dass er Bilder produziere, "die betroffen machen und die Fragen aufwerfen, die natürlich in einer anderen Sprache und einer anderen Emotionalität rüberkommen, als wenn ich das als Wissenschaftler probiere."
(jfr)
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