Ostukraine

Sie will nicht schießen müssen

Von Florian Kellermann · 10.05.2014
Auch wenn die 33-jährige Nina alles andere als zufrieden ist mit ihrem Staat, muss sie ihm dienen - und wenn nötig auf separatistische Rebellen schießen. Die Saxophonistin spielt im Militärorchester, und obwohl sie mit der Waffe umgehen kann, macht ihr die angespannte Lage Angst.
Die schmächtige Nina tritt durch das große Kasernentor in einem der vielen Industrieviertel von Donezk. Ihr Dienst ist für heute zu Ende, aber entspannen kann sie sich nicht: Vor einer Stunde tauchten Milizionäre vor der Garnison auf - Anhänger der separatistischen Bewegung in der Ostukraine. Sie verlangten, dass die ukrainischen Soldaten zu ihnen überlaufen.
"Ich wohne hier in der Kaserne, ich habe sie aus dem Fenster gesehen. Sie sind in einem offenen Lastwagen gekommen. Wir haben rasch die Flagge der Donezker Volksrepublik herausgehängt, um so zu tun, als wären wir schon auf ihrer Seite."
Die mit Maschinengewehren Bewaffneten seien keine Ukrainer gewesen, sagt Nina, sondern Tschetschenen. Söldner also im Auftrag der Separatisten. Sie hat Angst, dass sie wiederkommen - und angreifen. Nina ist zwar Soldatin, aber nur, weil sie im Militärorchester Saxophon spielt, ebenso wie ihr Mann.
"Die meisten wollen weiter in der Ukraine leben"
Die 33-Jährige geht an der halbverfallenen Betonmauer der Garnison entlang zur Haltestelle. Ihre Familie ist aus der 25-Quadratmeter-Wohnung in der Kaserne ausgezogen, aus Angst, die Rebellen könnten sie stürmen. Das Ehepaar wohnt jetzt bei ihren Schwiegereltern, die beiden Kinder sind zu Verwandten aufs Land gezogen. Die Schule habe sie einstweilen vom Unterricht befreit, sagt Nina, seufzt und steigt in das Sammeltaxi.
Am Abend, bei einem Glas Tee, hat sich Nina ein wenig beruhigt.
"Ich bin dafür, dass Donezk in der Ukraine bleibt. Ich habe den Eindruck, dass die meisten hier so denken. Ja, viele haben den Ex-Präsidenten Janukowitsch gewählt, waren gegen den Umsturz in Kiew und sind gegen die neue Regierung in Kiew. Aber trotzdem wollen sie weiter in der Ukraine leben."
Und dennoch: Der Militäreinsatz gegen die Rebellen, den die Regierung angeordnete hat, ist bei vielen in der Ostukraine unpopulär. Nina, die nicht nur mit dem Saxophon, sondern auch mit dem Gewehr umgehen kann, erfährt das immer wieder am eigenen Leib.
"Gerade hat mich eine Freundin angerufen. Du bist bereit, auf friedlich demonstrierende Bürger wie mich zu schießen, wirft sie mir vor. Ich habe sie gefragt, ob sie mit dem Maschinengewehr herumrennt und Verwaltungsgebäude besetzt. Nur, wenn sie das tut, werde ich auf sie schießen, habe ich gesagt, denn das ist meine Pflicht."
"Korruption hemmt Wirtschaft"
Dabei ist auch Nina alles andere als zufrieden mit ihrem Staat. Soldaten steht vom Gesetz her eine eigene Wohnung zu, aber zum letzten Mal gab es vor sieben Jahren eine Zuteilung. Die Korruption sei schuld, meint sie, dass die Wirtschaft nicht auf die Beine kommt. Aber das sei in Russland leider auch nicht anders.
Gestern, am Tag des Sieges im Zweiten Weltkrieg, spielten Nina und das Militärorchester bei der offiziellen Feier. Sie hatten sich vor dem Denkmal für die Befreier des Donezk-Becken aufgestellt.
Nachdem sie die Hymne der Ukraine gespielt hatten, gingen einige der Versammelten auf den Dirigenten los.
Wer hat dir gesagt, dass du die ukrainische Hymne spielen sollst, schreit ihn ein großer Mann im Tarnanzug an und packt ihn am Kragen. Andere verlangen die Hymne Russlands.
Der Tag des Sieges – dieses Mal eine Katastrophe
Wenig später erobert einer der Separatisten das Mikrofon. Zum 69. Jahrestag des Siegs über Hitlerdeutschland müsse sich das Donezk-Becken wieder gegen Faschisten verteidigen, erklärt er. Gemeint ist die Regierung in Kiew und ihr Einsatz der Armee gegen bewaffnete Gruppierungen in der Ostukraine.
Früher mochten Nina und ihr Mann den Tag des Sieges. Diesmal erlebten sie ihn als Katastrophe.
"Ich zittere immer noch, obwohl das jetzt schon zwei Stunden her. Auf dem Weg zum Bus hat uns der Dirigent zugerufen, wir sollen die Uniformen ausziehen, damit uns diese Gewalttäter nicht erkennen. Immerhin haben jetzt einige aus dem Orchester, die früher so pro-russisch waren, ihre Meinung geändert. Sie haben verstanden, dass nur wir selbst die Ukraine zu etwas bringen können."
Nina und ihr Mann fuhren zu ihrer Schwester, sie wollten den großen Tag dann doch lieber im kleinen Kreis verbringen. Wann sie ihre Kinder wieder sehen, wissen sie noch nicht: Sie müssen einstweilen in der Nähe ihrer Garnison bleiben. Am Referendum morgen wollen die beiden trotzdem nicht teilnehmen. Das sei nur eine von den Separatisten veranstaltet Farce, sagen sie.
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