Ostfriesland

Im Kampf gegen die Wassermassen

07:46 Minuten
Hoch läuft die Flut am Nordseestrand von Neuharlingersiel bei einem Sturmtief im Januar.
Hoch läuft die Flut am Nordseestrand von Neuharlingersiel bei einem Sturmtief im Januar. © picture alliance / dpa / Ingo Wagner
Von Imke Oltmanns · 27.07.2020
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Die Bewohner der ostfriesischen Küste leben mit "Land unter" vor Augen: Jeder Starkregen wird zur Zitterpartie. Leistungskräfige Pumpen und Deicherhöhungen könnten gegen den Klimawandel helfen. Sie kosten aber Millionen.
Die Folgen des Klimawandels kann man auch hören: "Wir sind hier im Siel- und Schöpfwerk in Neuharlingersiel. Das ist eines von mehreren, das die Sielacht Esens betreibt."
Neuharlingersiel ist ein kleiner Küstenbadeort an der Nordsee, mitten in Ostfriesland. Das Sielwerk thront im Zentrum des Ortes, nur wenige Meter vom malerischen Kutterhafen entfernt, wo Touristen schlendern und Krabbenfischer ihren Geschäften nachgehen. Das Gebäude ist unscheinbar, ein kantiger Zweckbau. Seine Bedeutung für das Leben an der Küste ist allerdings enorm.
Verantwortlich ist hier der ehrenamtliche Sielrichter Jan Janssen, im Hauptberuf Landwirt. "Da sind wir im Pumpenraum, und wir sehen gerade die zwei leistungsstarken Elektromotoren, womit das Wasser, falls das natürliche Sielen nicht funktionieren kann, mechanisch rausgepumpt werden kann in die Nordsee."

Sielen ist lebensnotwendig

Diese Form der Entwässerung heißt hier Sielen. Sie ist lebensnotwendig, denn Ostfriesland liegt wie die meisten Küstengebiete an der Nordsee sehr tief. Wenn es im Binnenland regnet und das Wasser nicht schnell genug versickern kann, droht "Land unter". Vor allem bei Starkregen müssen ungeheure Wassermassen mechanisch aus dem Binnenland heraus in die Nordsee gepumpt werden. Ein großer Aufwand.
Das Foto zeigt den kleinen Hafen des ostfriesischen Badeortes Neuharlingersiel.
Vom Klimawandel bedrohtes Idyll: der Badeort Neuharlingersiel.© Imke Oltmanns / Deutschlandradio
Aber ohne Entwässerung geht es nicht, sagt Sielrichter Janssen: "Das Land wäre ein riesiger Sumpf, große Teile würden unter Wasser stehen. Und nicht nur im Bereich der Sielacht Esens, da kann man sich Ostfriesland großräumiger vorstellen. Bis nach Aurich hin würden riesige Gebiete, mindestens die Hälfte Ostfrieslands würde sehr lange Zeit unter Wasser stehen oder zumindest so nass sein, dass eine Besiedlung völlig unmöglich wäre."
Die meisten Wissenschaftler sind sich einig: Wegen des Klimawandels werden Extremwetterereignisse wie Starkregen in Zukunft häufiger vorkommen. Das Problem: Sie überfordern das natürliche Sielen. Durch Ostfriesland haben die Menschen schon vor Jahrhunderten Entwässerungsgräben gebaut. Allein die Sielacht Esens muss heute rund 250 Kilometer dieser Kanäle in Schuss halten. Sie leiten das Regenwasser Richtung Küste, wo es durch die Sielwerke in die Nordsee abfließt.

Zwei Pumpen müssen helfen

Das klappt allerdings nur bei Ebbe, wenn der Wasserstand niedrig ist. Kommt die Flut, schließen sich die Sieltore. Die beiden großen Pumpen im Neuharlingersieler Schöpfwerk kommen ins Spiel, wenn das Wasser nicht von selbst abfließen kann: bei längeren Sturmfluten etwa. Oder eben bei Starkregen.
Der Herr der Pumpen im Kampf gegen die Wassermassen ist Jens Higgen, Schöpfwerksmeister in Neuharlingersiel. Wenn es stark regnet, muss er los, um die mächtigen Motoren anzuschmeißen, egal um welche Tages- oder Nachtzeit. Die beiden blauen Pumpen sind jede so groß wie ein Lieferwagen, sie stammen aus den 60er Jahren, tun aber noch ihren Dienst.
Doch Jens Higgen blickt mit Sorge auf die Erderwärmung. Nicht nur wegen des befürchteten Anstiegs der Meeresspiegel: "Auf der nächsten Seite sind das wirklich diese Starkregenereignisse, die wir natürlich schnellstmöglich weghaben müssen, damit unsere Kanäle nicht überlaufen. Wenn der Kanal überläuft, heißt das ja, dass irgendwo Leute zu Hause sitzen und absaufen. Und das ist ja genau das, was wir verhindern sollen und müssen."
Im Raum mit den großen Pumpen gegen die Wassermassen: Jan Janssen und Jens Higgen.
Wächter über den Pumpen: Jan Janssen und Jens Higgen.© Imke Olltmanns / Deutschlandradio
Um zu zeigen, was die 50 Jahre alten Pumpen leisten müssen, nimmt uns Sielrichter Jan Janssen mit aus dem Gebäude und ein paar Meter weiter in den Hafen.
Schlammiges Wasser aus dem Binnenland drängt durch die weit geöffneten Sieltore in das Hafenbecken. Spuren an den Spundwänden zeigen, wie groß der Unterschied zwischen Ebbe und Flut ist, mehrere Meter nämlich. Auch dieser sogenannte Tidenhub macht dem Sielrichter Sorgen: "Wenn sich aber der Tidenhub auch verändert, so dass das Niedrigwasser nicht mehr so tief fällt, dann müssten wir dauerhaft pumpen. Und das wäre ein wirkliches Problem."

Die Küstenregion braucht viel Geld für den Schutz

Ein Problem, das in Zahlen zu fassen ist: 14 Kubikmeter Wasser pro Sekunde schaffen die beiden Pumpen. Läuft das Wasser natürlich ab, sind es aber 30.000 Kubikmeter pro Sekunde. Es müssten moderne, leistungsstärkere Pumpen her, für mehrere Millionen Euro. Nur in diesem einen Sielwerk. Und insgesamt sind es allein im Gebiet der Sielacht Esens fast ein Dutzend Pumpen, die das Absaufen des Binnenlandes verhindern.
Die Sielwerke sind nur ein Teil des Küstenschutzes. Die wichtigsten Bauwerke entlang der Küstenlinie sind die Deiche. In Harlesiel, zehn Kilometer weiter an der Küste, drehen sich zwei rote Bagger: Der Deich wird gerade um einen auf etwa acht Meter über Normalnull erhöht. Es beginnt zu regnen: Die Bauarbeiter flüchten in ihre Pausen-Container.
Jan Steffens harrt neben der Baustelle unter dem Regenschirm aus: Er ist der zuständige Deichrichter an diesem Küstenabschnitt. Damit ist er verantwortlich dafür, dass knapp 30 Kilometer Seedeiche sturmflutsicher sind und bleiben. Knapp zehn Kilometer davon sind aber nach neuen Berechnungen zu niedrig.
Die Erhöhung koste pro Kilometer etwa drei bis vier Millionen Euro, sagt Steffens. Wegen des Klimawandels berechne man die Deicherhöhung mittlerweile anders: Bislang nahm man etwa 25 Zentimeter Wasseranstieg in den nächsten 100 Jahren an. Mittlerweile plane die Landesregierung vorsichtshalber einen Anstieg des Nordsee um 50 Zentimetern ein. Ein Anstieg des Meereswasserspiegels bis zu einem Meter sei kein Problem, sagt Deichrichter Steffens: Das bekomme man mit höheren Deichen in den Griff.

"Kein Deich, kein Land, kein Leben!"

Doch was, wenn der Anstieg noch deutlich größer ausfällt? "Dann wird’s ganz schwierig, das ist im Grunde genommen nicht machbar", sagt Steffens. "Da weiß ich auch nicht, wie man das kompensieren könnte. Aber das sind Extremszenarien, die sich sicherlich auch erst in 200, 300 Jahren einstellen. Aber dann, wenn das so kommen sollte, was ich persönlich nicht glaube, weil ich denke, da wird die Menschheit schon Wege finden, den Klimawandel zu vermeiden - aber wenn das nicht so ist, wenn wir tatsächlich so einen hohen Meeresspiegelanstieg bekommen, dann denke ich, wird man sich Gedanken machen müssen, sich hier zurückzuziehen."
"Kein Deich, kein Land, kein Leben!" Mit dieser Mahnung wurde schon im 18. Jahrhundert Albert Brahms bekannt: Landwirt, Deichrichter und deutscher Deichbaupionier. Die Ostfriesen kämpften schon immer darum, ihr Land bewohnbar zu halten, sagt auch Sielrichter Jan Janssen in Neuharlingersiel. Dafür nimmt das Land Niedersachsen viel Geld in die Hand: Jedes Jahr werden mehr als 60 Millionen Euro in den Küstenschutz investiert, der Löwenanteil geht an die Hauptdeichverbände. Damit die Menschen an der Küste in Ruhe schlafen können.
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