Der Mentalitätsmagdeburger aus Münster
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Wilhelm Töller ist in Münster geboren, lebt aber seit mehr als 25 Jahren in Magdeburg. Mit der Stadt verbinde ihn eine Seelenverwandtschaft, sagt er. Wie auch mit dem örtlichen Fußballklub.
"Am Anfang war ich der Wessi, ist ja klar. Nach fünf Jahren hab ich gesagt: Stopp, jetzt bin ich Wossi! Und nach 10 Jahren habe ich gesagt, ich bin Ossi. Da lachen wir heute noch drüber."
Glatze, Poloshirt, breites Grinsen – so sitzt Wilhelm Töller in seinem Büro im Norden von Magdeburg. Eigentlich ist er schon Rentner, aber ab und zu macht er noch Abrechnungen in seinem Laden, dem Help-Sozialkaufhaus. Hier gibt es alte Couchgarnituren oder gebrauchte Eichenholzschränke für wenig Geld.
Der 67-Jährige kommt ursprünglich aus Münster, lebt aber seit Mitte der 1990er-Jahre in Magdeburg. Seine neue Heimat hat er sich auf den Unterarm tätowieren lassen. Darauf zu sehen: Das Vereinswappen vom 1. FC Magdeburg, darüber der Magdeburger Dom und klein oben darüber der Name seiner neuen Frau Heike.
Magdeburg, das ist nicht nur seine neue Heimat. Für Töller ist es fast eine Art Seelenverwandtschaft mit der Stadt und den Menschen.
Gefühlt das Leben in Magdeburg verbracht
"Ich kann mich an viele Dinge aus meinem früheren Leben - man kann jetzt nicht sagen, nicht erinnern, ich bin ja nicht dement, zumindest noch nicht - aber, ich habe manchmal das Gefühl, ich habe mein Leben lang hier verbracht."
Dabei hat der Mentalitätsmagdeburger Wilhelm Töller mehr als ein halbes Leben im Westen gelebt. In Nordrhein-Westfalen ist er großgeworden. 1974 dann die erste Verbindung zum Osten: Der 1. FC Magdeburg gewinnt in Rotterdam gegen Mailand den Europapokal der Pokalsieger.
"Diese dazugehörige Berichterstattung über die DDR, die DDR-Spieler, das kam mir dann ganz nah. Man sah die dann auch ganz nah. Und wie wir dann gewonnen hatten, die "Nonames" aus Magdeburg, die im Westen nicht so wirklich wahrgenommen wurden, und von da an war da so ein bisschen Liebe entstanden, eine Bindung. Von da an habe ich das regelmäßig verfolgt."
Ob Waschmaschinen oder Käse, Hauptsache verkaufen
Doch vorerst bleibt es eine Fernbeziehung mit Magdeburg. Wilhelm Töller will im Westdeutschland der 1980er-Jahre Geld verdienen. Er arbeitet im Vertrieb, verkauft Dächer, Fassaden oder Waschmaschinen. Später dann im Gastro-Gewerbe Käse, Thunfisch und Salat. Und dann kommt die deutsche Wiedervereinigung. Töller, den Verkäufer, zieht es in den Osten. Er sieht wie andere Vertriebler aus Westdeutschland das Geschäft ihres Lebens machen, indem sie Ostdeutsche übers Ohr hauen.
"Es war nach vier Wochen schon klar, die haben Autos, die bei uns auf den auf den Autohöfen standen, für 500, 200-300 D-Mark, die haben die hier für 3000-5000 D-Mark verkauft. Und so eine Art Geschäft rächt sich irgendwann."
Etwa zur selben Zeit, in der Töller den Osten bereist, geht seine Beziehung in die Brüche. Nach 25 Jahren Ehe verlässt er seine Frau mit den drei Kindern und zieht nach Magdeburg. Seine beiden Söhne und seine Tochter sind zu dem Zeitpunkt fast erwachsen und haben wenig Verständnis für den Vater, der sich im Osten ein neues Leben aufbaut.
Auch in der Familie gab es Streit
"Der Osten war negativ, was willst du im Osten? So abfällig. Und dann habe ich denen gesagt, ändert eure Einstellung oder bleibt da, wo ihr seid. War immer so ein Zwist auch innerfamiliär. Heute sieht das etwas anders aus."
Inzwischen besuchen ihn auch seine Kinder und Enkelkinder in Magdeburg. Was auf der Beziehungsebene klappt, sieht gesamtgesellschaftlich anders aus.
Da trennt Ost und West nach wie vor einiges: Die Lohn- und Rentenunterschiede machen den Gebrauchtwaren-Unternehmer Wilhelm Töller wütend. "Das müsste eigentlich seit mindestens 15 Jahren schon Geschichte sein, dass man das vielleicht den Kindern im Geschichtsunterricht erzählt."
Schon immer gesamtdeutsch
Töller sagt, er habe schon immer gesamtdeutsch gedacht. Doch speziell in seiner Welt, dem Fußball, da zeigt sich, es gibt einen Teil der Fanszene, der sich bewusst abgrenzt nach dem Motto: wir gegen den Westen. Ob das Fan-Aufkleber sind, wo draufsteht: "Im Osten weht ein anderer Wind, wo Gewalt und Hass das Leben bestimmt". Oder Gesänge, in denen die gegnerischen Fans als "Wessischweine" beschimpft werden.
Für Töller ist das ein Ausdruck von Hilflosigkeit: "Dass in den Stadien teilweise noch gesungen wird "Wessischweine" oder so ein Mist, das ist doch künstlich produziert. Weil die Jungs und Mädels, die das singen, die das lautstark mitgrölen, das ist eine Mitläufergeschichte, die von irgendwem mal irgendwann mal installiert wurde. Wir haben bei uns Mannschaftsteile, da sind zu 90 oder 80 Prozent Wessis!".
Bis vor seiner Hüft-Operation vor drei Jahren hat er jedes Spiel besucht, ist zu jedem Auswärtsspiel gefahren. Der FCM, der 1. FC Magdeburg ist seine Ersatzfamilie. Der gebürtige Münsteraner hat in der Kurve nie Wessi-Sprüche zu hören bekommen. Wie er überhaupt von Anfang an nur gute Erfahrungen in Magdeburg gemacht habe: "Man hat mir immer gesagt, die Magdeburger, die Sachsen-Anhaltiner, die sind stur und zurückhaltend und abweisend. Völliger Blödsinn."
Erstmal arbeitslos
Was Töller von anderen zugezogenen Westdeutschen in den 1990er Jahren unterscheidet: Für ihn ist es zunächst kein beruflicher Aufstieg. Während andere Westdeutsche in Sachsen-Anhalt in Leitungspositionen in Verwaltung, Justiz oder Politik wechseln, meldet sich Wilhelm Töller in Magdeburg erstmal arbeitslos.
Die Biografie mit Brüchen, das verbindet ihn mit den Menschen aus seiner neuen Heimat. Nicht Ossi oder Wessi, am liebsten ist Wilhelm Töller Magdeburger. Und das soll auch so bleiben.
"Hier lebe ich, hier liebe ich, hier sterbe ich. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Ich hoffe nicht ganz so schnell, wie das Alter es jetzt hergibt. Ich bin einfach glücklich hier. Ich habe nie bessere Freunde gefunden und wirklich ehrlichere Freunde, als hier, wo ich jetzt lebe, hier in Magdeburg. "