Ost-West-Biografien

Schockstarre und Aufbruchstimmung im Jahr 1990

Der inzwischen abgerissene Palast der Republik, einst Sitz der DDR-Volkskammer, in Berlin (Archivfoto von 1990)
Der inzwischen abgerissene Palast der Republik, einst Sitz der DDR-Volkskammer, in Berlin © picture alliance / ZB / Hubert Link
Von Thilo Schmidt · 29.09.2015
Deutschland im Jahr 1990. Bis zum 2. Oktober existiert die DDR noch, aber längst gelten die Gesetze des Westens. Ein DDR-Funktionär verliert die Orientierung, ein Bonner Politiker zieht tatendurstig nach Berlin. Abschied und Neubeginn aus Ost- und Westperspektive.
Großkopf: "Also meine Frau hat in Berlin studiert und hat die 68er-Jahre miterlebt und die wollte unbedingt nach Berlin! Und als dann am 9.11. die Mauer fiel, da war ich einer der ersten meiner Kollegen, die da zu ihrem Chef gelaufen sind – das heißt: Ich war der einzige. Um zu sagen: Ich will da rüber. Und zwar so schnell wie möglich. Damals wurde man noch von den Kollegen für verrückt gehalten. Das war so ungefähr, als wenn man nach Russland geht. Vor allem in der Bonner Gegend. Ist das sowieso Ausland. Das hat gar nicht lange gedauert, als mein damaliger Chef im Bundeskanzleramt aus Berlin anrief, aus dem CDU-Haus, dem roten Haus am Gendarmenmarkt, und sagte: Kommen Sie rüber, wir brauchen Sie …"
Aurich: "Ich hab an dem Abend noch – in der ZK-Tagung – hab ich ne Rede gehalten. Das war so gegen halb neun. So, und dann bin ich nach Hause gefahren, und dann wurde ich überrascht in der Nacht, dass es hieß: Die Mauer ist offen. Und da … da hab ich … bin ich am nächsten Morgen wieder auf Arbeit gegangen. Und habe gestaunt, dass die Leute sich alle an der Mauer versammelten. Die Mauer war ja auch das Symbol der Eigenständigkeit der DDR. Und wenn die weg ist, dann war eigentlich klar, dann wird es in irgendeiner Form zur Vereinigung kommen. Da waren ja dann auch noch Konföderationsgedanken und so weiter, spielten alle ne Rolle. Ob die nun realistisch waren, sei mal dahingestellt. Also zu dem Zeitpunkt haben wir noch geglaubt, dass es eine eigenständige DDR noch ne Weile geben kann."
Das Jahr 1990. Bis zum 2. Oktober existiert die DDR noch, aber längst gelten die Gesetze des Westens. In Ost-Berlin werden die Machthaber aus ihren Ämtern gedrängt, wichtige Schaltstellen von Beamten aus dem Westen besetzt.
In Bonn bereitet sich Aribert Großkopf, Abteilungsleiter im Bundeskanzleramt, auf seinen Umzug nach Berlin vor.
Großkopf: "Meine Frau hatte damals einen Job beim Verlag, hat den gekündigt und war bemüht, so schnell wie möglich nachzukommen. Also wir haben im Dezember schon eine Wohnung in Wannsee bekommen und dort gewohnt."
Aurich: "Insofern war die Zeit auch gar nicht vorhanden, sich darüber einen großen Kopf zu machen. Wir mussten im Herbst 1989 jeden Tag eine neue Entscheidung fällen und das hatte seine eigene Dynamik. Und da muss ich aber sagen, dass ich an dieser Dynamik persönlich nicht mehr so viel Anteil nahm, ich war dann eher bei meiner Abwahl 1989 etwas erleichtert, diese Funktion abgeben zu können."
Eberhard Aurich war erster Sekretär des Zentralrats der FDJ, der Freien Deutschen Jugend, und Mitglied des Zentralkomitees der SED. Aus Volkskammer und Staatsrat wird er im Januar 1990 ausscheiden.
Erich Honecker (Mitte), Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzender des Staatsrates der DDR, Egon Krenz (l) und Eberhard Aurich (r) mit Pionieren auf der Ehrentribüne bei VIII. Pioniertreffen im August 1988 in Karl-Marx-Stadt.
Erich Honecker (Mitte), Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzender des Staatsrates der DDR, Egon Krenz (l) und Eberhard Aurich (r) mit Pionieren auf der Ehrentribüne bei VIII. Pioniertreffen im August 1988 in Karl-Marx-Stadt.© picture alliance / ZB / Peter Kroh
Der Runde Tisch hatte bereits Anfang Dezember 89 seine Arbeit aufgenommen.
Die alten Machthaber wurden entmachtet.
Aurich: "Wir haben über die eigenen biografischen Aspekte gar nicht nachgedacht zu dem Zeitpunkt. Wenn man es ganz praktisch nimmt: ich bin am 24. November 1989 aus der Funktion ausgeschieden, und am nächsten Tag wusste ich nicht, was ich machen sollte. Es gab auch gar keine Struktur. Es gab kein Arbeitsamt oder so etwas, wo man sich hätte hinwenden können. Ich muss gestehen, ich hab erstmal einen Monat gebraucht, um überhaupt mich zu orientieren. Und hab mich vorsichtig umgeschaut, wo ich vielleicht was Praktisches tun könnte."
Eberhard Aurich, zu diesem Zeitpunkt 42 Jahre alt, hatte noch ein halbes Berufsleben vor sich. "Unwürdig" sei der Umgang mit den DDR-Biografien gewesen, sagte Aurich einmal.
Aurich: "Das hab ich weniger gemeint im Hinblick jetzt auf solche Funktionen oder Funktionäre wie ich. Die Wende war so drastisch, dass im Grunde genommen wir ja – ich sag’s mal ein bisschen lax – weggejagt wurden. Aber ich meinte das eher auch für diejenigen, die tatsächlich in zivilen Berufen als Lehrer, als Hochschullehrer, als Wissenschaftler irgendwo gearbeitet haben, oder im Medienbereich gearbeitet haben, und plötzlich sozusagen vor der Frage standen: Darf ich das noch machen? Ich kenne jemand, der hat ne Kindersendung im Fernsehen gemacht. Und stand plötzlich vor der Frage, ob künftig mein Tun noch gebraucht wird. Und bei der Familie war’s dann so: Die Frau durfte weiter machen, und der Mann wurde beim Fernsehen rausgeworfen. Und mit teilweise absurden Begründungen – und das, mein ich, das war dann schon unwürdig."
Bis zum 24. November 1989 verlief Aurichs Biografie ohne Brüche: In seiner Heimat Karl-Marx-Stadt mit elf Jahren Gruppenratsvorsitzender der Pionierorganisation "Ernst Thälmann", mit 18 Mitglied der FDJ-Leitung der Oberschule. Später Besuch der Pädagogischen Hochschule, Ausbildung zum Lehrer für Deutsch und Staatsbürgerkunde. Seit 1969 hauptberuflich tätig in der FDJ – bis sich 1989 in wenigen Wochen alles veränderte.
Aurich: "Es ist eben ne totale Umkehrung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Das heißt, es ist auch ein totaler Bruch im eigenen Leben. Wofür man bisher gestritten hatte, das wurde sinnlos. Es war also nicht mehr gefragt, damit konnte man keine Achtung mehr erringen. Man konnte nur noch Achtung erringen, indem man sich auf seine persönliche Weise den neuen Verhältnissen anpasste."
Aurichs "persönliche Weise" war die blanke ökonomische Notwendigkeit, sich und seine Familie zu ernähren. Andere systemtreue Kader wurden über Nacht zu Bürgerrechtlern. Auf ihre persönliche Weise. Der Begriff "Wendehals" gehörte schon bald zum Repertoire des Einheitsgeschehens.
Aurich: "Es gab ja welche, die wussten von einem Tag auf den anderen, was sie jetzt zu denken haben, zu denen glaube ich nicht zu gehören. Ich hab dann auch längere Zeit gebraucht um nachzudenken, warum es so gekommen ist und wie es gekommen ist, und das dauert ja auch bis heute noch an. Da hab ich also nicht allzu großes Verständnis für, für diese Art Wendigkeit. Ja? Also dass jeder einen neuen Job gesucht hat, eine neue Arbeit oder auch ein politisches Engagement, dafür hab ich volles Verständnis, das ist völlig in Ordnung. Aber heute nicht mehr dazu zu stehen, was man noch vor vier Wochen für richtig gehalten hat, das ist natürlich etwas fragwürdig."
Eberhard Aurich ist noch für ein Jahr in der SED-Nachfolgepartei PDS geblieben, bis er der Politik den Rücken kehrte.
Aurich: "Ich hab ja viele Jahre mich öffentlich gar nicht geäußert. Das hatte eigentlich einen ganz wesentlichen Grund: Dass man nicht von einem Tag auf den anderen nun die Erkenntnisse hat, warum man selber ja politisch gescheitert ist. Selbst wenn man die schon hätte, ist es ja wenig glaubwürdig, dass man innerhalb von 24 Stunden die Fahnen wechseln kann. Das heißt, da muss man sich schon ein bisschen Büßerzeit auferlegen."
"Es war eine unglaubliche Aufbruchstimmung!"
Nach den ersten freien Volkskammerwahlen im März 1990 trat Aribert Großkopf seine neue Funktion an.
Großkopf: "Lothar de Maiziere hatte gerade die Wahl gewonnen, und dann hab ich mich da als … als Sozi … im CDU-Haus gemeldet, und hab die Leute kennengelernt. Für die zukünftige Zusammenarbeit. Das war ein ziemliches Aufkommen und Kommen und Gehen. Von Staatssekretären und Ministern, die alle berufen wurden, mit denen geredet wurde. Es war eine sehr turbulente Zeit, und ich hatte dort ein Büro, aber nicht lange – weil dann Modrow offiziell die Schlüssel an Lothar de Maiziere übergeben wollte. Und dann sind wir also in das Haus des Ministerrats, also das jetzige Graue Rathaus, hinter dem Roten Rathaus, und haben die Schlüssel übernommen."
Großkopf sollte dem zukünftigen Ministerpräsident Lothar de Maiziere zur Seite stehen.
Großkopf: "So ganz klar war mir die Aufgabe nicht. Ich sollte eigentlich, das war der Auftrag, das Amt des Ministerpräsidenten so quasi zu ner Art Bundeskanzleramt machen. Das heißt also zu versuchen, da die Verhältnisse einzuführen in vielen Bereichen der Infrastruktur, die auch in Bonn waren. Das ist natürlich ne Aufgabe, die eigentlich viel zu groß ist …"
Wir stehen dort, wo bis vor wenigen Jahren noch der Palast der Republik war. Er wurde von 2006 bis 2008 abgerissen, um das Berliner Stadtschloss, das zuvor an gleicher Stelle stand, wieder aufzubauen. Ein Symbol des alten Preußen und der Kaiserzeit, im Herzen des neuen Berlin.
Das Schloss brannte im Februar 1945 nach einem Luftangriff aus. Auf Beschluss des III. Parteitags der SED wurde es Ende 1950 gesprengt.
1989 sorgte Aribert Großkopf dafür, dass der Palast der Republik eine gute Telefonleitung bekam – ins Bundeskanzleramt nach Bonn.
Großkopf: "… die sagten mir, dass eine Glasfaserleitung bis in den Palast der Republik schon gelegt wäre. Die existierte da, war aber nicht angeschlossen an das DDR-Netz. Wahrscheinlich in einer Zeit des Auftauens hat man das gemacht. Und es gab dann eben die Möglichkeit sozusagen in der neuen Regierung der DDR, Noch-DDR, den Dienstweg einzuhalten, mit den entsprechenden Schwierigkeiten, die man vermutete. Aber ich hatte einen sehr guten Kollegen im Kanzleramt, der hat das auf seine Weise, auf der Feldwebelebene, gelöst. Mit seinen Technikerkollegen aus dem Osten. Die bei der Post, die haben einfach gegen ein paar Kästen Bier das Amt des Ministerrates zugeschaltet. Mit ein paar guten Leitungen.
GroßkopUnd dann hab ich noch ne Anlage besorgt, und damals war es ja einfach. Man rief einfach bei Siemens oder bei Bosch an und kriegte ne Anlage geschenkt. Das war nicht so schwierig. Es war dort alles möglich! Es war eine unglaubliche Aufbruchstimmung! Jeder hat alles gemacht. Um zu unterstützen. Also man konnte einfach irgendwo anrufen und sagen: Ich brauch das oder das, und man bekam es. Natürlich wollten alle Telekommunikationsfirmen ihr Standbein haben, nicht? In den neuen Ministerien. Die hatten doch alles, was man brauchte!"
Während es für die einen alles zu geben schien, was sie wollten, war im Osten fast alles, was es früher gab, nicht mehr existent. Schon 1990, spätestens mit der Währungsunion, begann der Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft. Das war die eine Seite. Die Entwertung der ostdeutschen Biografien und leere Versprechungen von ökonomischen Wundern die andere.
Aurich: "Ja, das ist ja keine Frage, dass es für viele Menschen einen biografischen Bruch gegeben hat. Ich red jetzt gar nicht von mir, der ja eine politische Funktion hatte, die es dann nicht mehr gab, das ist ja vielleicht noch am einleuchtendsten. Meine damalige Frau war Ärztin, Betriebsärztin, und Betriebsgesundheitswesen gab es plötzlich nicht mehr. Und sie stand nur vor der Entscheidung: Entweder arbeitslos oder eine eigene Praxis zu eröffnen. Da sie sich die eigene Praxis nicht zutraute, wurde sie arbeitslos. Und hatte als Ärztin keinen Job mehr."
Großkopf: "Zu dieser Zuständigkeit dieser Abteilung im Ministerrat gehörte auch die Zuständigkeit für alle Gästehäuser des Ministerrats. Das waren sehr schöne Anwesen, überall verteilt über die Republik, in sehr schönen Gegenden. Und ich hab dann, um das kennenzulernen, im Juli 1990, mit meiner Frau Urlaub gemacht in einem Gästehaus in Lindow, am Gudelacksee. Und da hab ich dann noch kennengelernt das Führungspersonal der DDR. Das also dann schon damit rechnen musste, dass das der letzte Urlaub im Gästehaus war. Das war sehr schwierig in Kontakt zu kommen, das war fast überhaupt nicht möglich. Auch meine Frau hat versucht, auch mit den Frauen in Kontakt zu kommen. Es war nicht möglich. Es war absolut unmöglich, ein eisernes Schweigen, wer weiß, wofür man mich gehalten hat. Ich galt natürlich damals sozusagen als derjenige, der das auflöst. Ne? Keiner wusste ja, wie es weitergeht. Natürlich sind die Gästehäuser alle aufgelöst, verkauft worden."
Die entmachteten Eliten der DDR befanden sich in Schockstarre.
Einige DDR-Funktionäre verkrafteten die Wende nicht - und nahmen sich das Leben
Einige der politischen Freunde von Eberhard Aurich brachten sich nach der Wende um. "Die Toten der friedlichen Revolution" titelte der "Spiegel".
Aurich: "Ja, gab es. Ja, ja. Der bekannteste war ja Riege aus Jena, der Bauminister, ich kenn noch persönlich den ehemaligen zweiten Sekretär der Bezirksleitung der Partei im damaligen Karl-Marx-Stadt, so … also das gab’s. Die sind damit nicht klargekommen, mit dieser Art Wende. Lebenswerk beschädigt gesehen."
Bauminister Wolfgang Junker erschoss sich im April 1990, nachdem wegen Amtsmissbrauchs gegen ihn ermittelt wurde. Schon im Januar 1990 nahm sich die FDGB-Vorsitzende Johanna Töpfer das Leben. Man warf ihr vor, sie habe sich ihr Haus auf Staatskosten luxuriös ausgestattet. Erst nach ihrem Tod stellte sich heraus, dass sie die Extras in ihrem Haus selbst bezahlt hatte.
Gerhard Riege, SED-Mitglied, Professor für öffentliches Recht in Jena, zog für die PDS in die erste freie Volkskammer ein, später in den Bundestag. 1992 tauchte eine schmale IM-Akte auf, die ihn bezichtigte, vier Berichte für die Stasi verfasst zu haben. Riege konnte sich an eine Verpflichtungserklärung nicht erinnern. Selbst für Joachim Gauck, damals Stasi-Unterlagenbeauftragter, ein "eher bedeutungsloser" Fall. Im Februar 1992 erhängte sich Riege in seinem Garten.
Aurich: "Na in gewisser Weise passte es ja bei einigen gut zu ihrer Biografie auch. Also wer mit aller Leidenschaft für ein Gesellschaftssystem gestritten hat, egal, ob er nun stur war, oder verbohrt, dann ist natürlich der Selbstmord auch ne Konsequenz. Des eigenen Denkens."
Im Abschiedsbrief an seine Frau schrieb Gerhard Riege, er habe Angst vor dem Hass, der ihm im Bundestag entgegenschlage "aus Mündern und Augen und Haltung von Leuten".
Aurich: "Für mich wäre das ja nie eine Option gewesen, als ich die politische Position aufgeben musste, da hatte ich noch ein halbes Berufsleben vor mir. Da musste ich überlegen, was tue ich? Insofern war das für mich keine Option, und ich hab höchstens die Kollegen, die da einen anderen Weg gesucht haben, eher bedauert."
Ostberlin, Hauptstadt eines Staates ohne Macht. Im Niemandsjahr 1990.
Die Gesetze der DDR bestehen noch, aber längst gelten andere Regeln. Niemandsland. Was stattfindet, ist Weltpolitik. Der "Honecker-Bunker" in Prenden, nördlich von Berlin, in dem 350 Führungspersonen Schutz vor einem Atomschlag gefunden hätten, galt als technische Meisterleistung und aufwändigste Bunkeranlage des gesamten Ostblocks. Schon im Sommer 1990 wurde er für überflüssig erklärt.
Großkopf: "Und ich bin da raus gefahren worden, mit zwei Motorrädern, und so ner grünen Flunder von Citroen, und dort hat man mir sozusagen alles gezeigt, und hat mir den Bunker erklärt, und hatte ihn mir auch übergeben. Der General hat mich begrüßt, das war sehr nett, und hat mir erklärt, wie das Ding funktioniert. Ich hab dann angerufen bei meinen Kollegen im Kanzleramt, und die haben das (lacht) na ja, lächelnd zur Kenntnis genommen, und die haben das ans Verteidigungsministerium weitergegeben, und die haben mir gesagt: Wär okay. Sie bräuchten den nicht, aber sie würden sich schon drum kümmern."
Am 3. Oktober 1990 wurde die deutsche Wiedervereinigung vollzogen, die DDR trat dem Geltungsbereich des Grundgesetzes bei. Um 0 Uhr stand Aribert Großkopf auf der Kuppel des Alten Stadthauses, dem Sitz des Ministerrates, der bis zu diesem Zeitpunkt auch sein Dienstsitz war.
Großkopf: "Und auf der Kuppel jetzt ist ja die alte Figur wieder, früher war da ein Drahtkorb … mit einer Fahne. Und da konnte man hoch auf ner Eisentreppe. Und da hab ich abends gestanden, am 2. Oktober abends, nachts. Als hier dieses Riesen-Simultanfeuerwerk war. Und hab dann da oben die Fahne eingezogen, die DDR-Fahne. Und hab die andere Fahne hochgezogen. Die normale Fahne ohne das Emblem. Am nächsten Tag war die auf Halbmast gesetzt … (lacht) … hat doch irgendjemand versucht, noch seinen Unwillen zu äußern."
Aurich: "So, und nun kam hinzu, dass ich auch praktisch ums Überleben gekämpft habe, indem ich sozusagen eine neue Arbeit aufgenommen habe, und dadurch auch Erfahrungen gesammelt habe in einem anderen System. Ich muss sagen, das sind nicht nur Erfahrungen, die ich aus früherer Zeit vielleicht kritisch gesehen habe, sondern durchaus sehr lebensbereichernde Erfahrungen. Ich habe viele interessante Menschen kennengelernt, viele interessante Auffassungen, das war schon alles eine Stärke. Und dann wird der Abstand zu den Wendeereignissen natürlich immer größer, und dann fängt man doch an, darüber nachzudenken und zu überlegen, warum war denn das eigentlich so? Warum ist das so? Wir, die wir doch eigentlich der Überzeugung waren, dass wir auf der besseren Seite der Geschichte stehen, dass wir die Geschichte voran bringen, dass wir plötzlich sozusagen nicht mehr gefragt waren? Deshalb bewegt mich seit Jahren sehr stark, die Gründe dafür zu finden, warum es 1989/90 eben zu diesem Wendegeschehen kommen musste. Ich bin nicht bereit, zu akzeptieren, dass es nur an der Blödheit des Personals gelegen hat. Sondern dass es durchaus Gründe gegeben hat, die in der Historie, in der konkrete wirtschaftliche und politische Beziehungen in der Welt ne Rolle spielen, und dieser Art Gesellschaftsmodell, wie wir es verfolgt haben, letztlich keine Chance lassen konnte. Und darüber denke ich nach, und darüber will ich auch weiter noch publizistisch tätig sein."
Eberhard Aurich dokumentiert seinen Lebenslauf ohne Beschönigung auf seiner Homepage. In Bild und Text. Krenz gratuliert zur Wahl 1983. Fackelzug mit Erich Honecker 1984. Empfang von Nicaraguas Präsident Ortega 1988.
Dann: Ein Foto aus dem neuen Leben: Ausbildung zum Lernsystem-Lektor.
Für Aurich, 44 Jahre alt, begann die zweite Hälfte seines Erwerbslebens.
Aurich: "Eine Arbeit in der Schule schied wohl aus politischen Gründen aus …und ich hab dann Kontakt bekommen zu einem privaten Bildungsunternehmen, und habe dann dort erstens ne Fortbildung gemacht, fast zwei Jahre, Computertechnik und Programmierleistungen, und wurde dann gewonnen als Leiter eines Medienunternehmens und Verlages, den ich 20 Jahre geleitet habe und aufklärende Materialien und hilfreiche Materialien für Kinder erstellt habe, die sich herumschlagen mit dem Lesen und Schreiben."
"Ich bin einfach aus einer fixen Idee: Ich muss da rüber, da rüber gegangen"
Aribert Großkopf, geboren 1935 in Brandenburg an der Havel, 1946 mit der Familie in den Westen gegangen und nun wieder in seiner alten Heimat, wollte nicht zurück nach Bonn. Er suchte sich ein neues Betätigungsfeld – als Bundesbeamter. Das vereinte Deutschland wurde aber aus Bonn regiert – aus den 14 Bezirken der DDR wurden fünf Bundesländer. Großkopf fuhr nach Potsdam, auf eigene Faust.
Großkopf: "Also das ist nicht so, dass es damals solche Schreiben gab, wo man also mich beauftragt, bestimmte Dinge zu machen. Sondern es ergab sich, dass ich plötzlich in dieser Rumpf-Staatskanzlei saß, die noch gar keine war, sondern einfach nur ne Kaserne, wo der Rat des Bezirks Potsdam gesessen hat, in einem Raum, der noch vergittert war und einen kaputten Fußboden hatte. Kein Mensch hat mir gesagt, also du baust jetzt die Staatskanzlei auf, sondern ich hab das einfach dann beschlossen, und das hat man akzeptiert, weil ja auch nicht viele Leute da waren, es gab ja noch gar keine Regierung. Es gab nur den Landesbevollmächtigten, dem war das wohl ziemlich egal. So ganz klar war damals auch nicht, wer denn eigentlich für den ganzen Laden sich zuständig fühlte. Ich hab dann mit einem gesprochen, der dann am Anfang sagte: "[…] Wat wolln Sie denn hier?" Und ich sagte: Ja, ich wollte hier mithelfen. "Na von Euch hamwa jenuch!" Und das hat mich besonders motiviert."
Aribert Großkopf wurde unter dem späteren brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe Abteilungsleiter in der Staatskanzlei. Das für den Aufbau der Verwaltungen nach westlichem Vorbild notwendige Personal fehlte aber: Mit Sonderzahlungen sollten Beamte aus den alten Bundesländern angeworben werden. Die als "Busch-Zulage" verspottete und den Osten verspottende Bezeichnung machte die Runde.
Großkopf: "Und das führte dann dazu, dass sich sehr viel Personal meldete. Wobei auch viele eigentlich nur die Chance haben wollten, ihre Terrasse in Meckenheim zu betonieren und zu fliesen, und dann nach zwei Jahren wieder zurückwollten (lacht). Auch so was gabs."
Götschendorf, Uckermark, nördlich von Berlin. Der heute 80-jährige, aber viel jünger wirkende Aribert Großkopf bewohnt hier ein kleines Ferienhaus. Mit einem mittlerweile verstorbenen Freund hat er ein Kloster begründet – das erste russisch-orthodoxe Kloster in Westeuropa. Aus dem einmal ein russisch-deutsches Kulturzentrum entstehen soll. Nicht aus religiöser Motivation, sondern um etwas zu tun für die strukturschwachen Uckermark.
Großkopf: "Ich bin einfach aus einer fixen Idee: Ich muss da rüber, da rüber gegangen. Und bin sofort mit Arbeit zugedeckt worden und hab herrliche Zeiten erlebt. So auch beim Aufbau der Staatskanzlei in Potsdam, und habe dabei mein Land, in dem ich geboren bin, durch die zahlreichen Reisen, auf denen ich auch Stolpe begleitet habe, kennen gelernt, und lieben gelernt, und ich will einfach etwas für dieses Land tun. Das klingt zwar ein bisschen komisch für einen Bürokraten, […] aber das ist es. […] Und jetzt habe ich eben ganz konkrete Ziele hier vor. Ich bin mehr auf der operativen Seite. Das heißt, ich möchte Sachen machen. Und nicht reden drüber. Und auch keinen ideologischen Schirm darüber ausbreiten."
Berlin-Köpenick, Salvador-Allende-Viertel, eine Großsiedlung aus den 70er-Jahren, am Rande der Müggelberge am Stadtrand. Eberhard Aurich engagiert sich für die hier untergebrachten Flüchtlinge. Und knüpft an eine Willkommenskultur an, so schreibt er auf seiner Homepage, die den Kiez seit 1973 auszeichnet: Als Emigranten aus Chile aufgenommen wurden, die vor dem Terror der Pinochet-Diktatur geflohen waren.
Aurich: "Ja, das ist insofern bereichernd, weil […] es wird erst mal die eigene Toleranz […] sehr geprüft. Man kann der Bevölkerung nichts vorspielen. Man kann nicht einerseits sagen, man soll tolerant gegenüber Flüchtlingen sein und sie aufnehmen, wenn man das nicht selbst sozusagen […] vorlebt. Insofern ist es sowieso … war es auch eine Brücke zu meiner Vergangenheit, weil natürlich Solidarität und Unterstützung von fremden Völkern und so weiter gehörte natürlich in der FDJ zu einer unser Grundprinzipien."
Berlin, im Spätsommer 2015. Der Wiederaufbau des Stadtschlosses auf der Spreeinsel, dort, wo einmal der Palast der Republik stand, ist im Rohbau fertig. Das Schloss ruht auf den Fundamenten des Palastes, der seinerzeit auf dem Gelände des alten Stadtschlosses gebaut wurde. Man ist im Zeitplan.