Ost-Trotz

Von Lutz Rathenow |
Das fast einhellige Gerede von den notwendigen Veränderungen im Land erzeugt eine merkwürdige und eher wortlose Gegenreaktion. Sie will auf dem Erreichten besonders hartnäckig und gleichzeitig unauffällig beharren. Der Ost-Trotz in den neuen Bundesländern schafft sich eine spezielle Wirkungskomponente - man richtet sich in der eigenen Unzufriedenheit aufs Bequemste ein. An gesellschaftliche Verbesserungen wird kaum noch geglaubt, an Möglichkeit den privaten Arbeitsbereich unter allen Umständen zu verteidigen und auszubauen umso mehr.
Kurz nach der Wende wurde einmal über alte Seilschaften geredet. Das ist vorbei. Aus ihnen knüpften sich allmählich ost-west-durchmischte Beziehungsgeflechte, die mit neuem Geschick ihre Interessen wahrnehmen. Das heißt öfter: Die eigene Zwei-Drittel-Kompetenz unter allem Umständen gegen kompetentere Leute zu verteidigen. Das erinnert nur manchmal an ein Roll-Back hin zu den Verhaltensweisen, die einen aus DDR-Zeiten bekannt vorkommen. Es ist die Umformung der westlichen Gesellschaft zum eigenen Vorteil. Gerade im gesellschaftlichen Abwind schrumpfende Gruppen und Institutionen sind besonders erinnerungsresistent und diskussionsunwillig. Ein erfolgssüchtiger Pragmatismus meint, auf diese Art sei man im Westen angekommen. Das betrifft nicht nur abgewickelte DDR-Eliten, sondern auch so eine wichtige Einrichtung wie die Evangelische Kirche. Zahlreichen Mitarbeitern musste sie in den letzten Jahren kündigen - nicht immer auf die feine und christliche Art. Neben dem Tschechischen sind die evangelischen Gebiete in den neuen Bundesländern sicher die Gottlosesten im EU-Europa - man kann es vornehmer ausdrücken: die weitgehend säkularisierten. Die mürrische Rückzugsstimmung entblößte sich auch in einigen leicht frustrierten Kommentaren zur Wahl des ersten deutschen Papstes.

Das Evangelische Gymnasium in Potsdam-Hermannswerder ist mir in bester Erinnerung - zu DDR-Zeiten eine Bildungsoase für unbequeme Schüler und Lehrer. Da schützte die kirchliche Verwaltung vor den Anmaßungen eines DDR-Staates. Einige meiner lebendigsten Lesungen aus in der DDR verbotenen Büchern hatte ich dort. Nach der Wende entwickelte es sich unter einem Bruder von Richard Schröder zur ersten Adresse aller Brandenburger Schulen. Es gibt eine zuständige Stiftung, die im August 2004 einen gelernten Heizungsmonteur und früheren Berufsschullehrer als Schulreferenten einstellte. Seitdem häufen sich die Probleme, Fehlentscheidungen und die Schule droht einem Posten sichernden Klüngel zum Opfer zu fallen. Eine bei Eltern und Schülerschaft beliebte und von der Qualifikation her kompetente Schulleiterin wird durch Tricks beim Auswahlverfahren um den Chefposten übergangen. Es gibt halt nicht mehr viele gut bezahlte Posten, auf die eine kleine Stiftung Einfluss nehmen kann, in der selbst nicht alles finanziell zum Besten stehen soll. Wer weiß, wer sich da schon als Schulleiter sieht. Artikel in der Lokalpresse erschienen - keine Reaktion. Stattdessen scheinen Sätze folgender Art zu fallen: "Nun sind wir aus dem Osten wieder dran, die Zeit der Wessis ist abgelaufen". Ein fairer Wettbewerb mit demokratischer Transparenz findet bei der Besetzung dieses Amtes jedenfalls nicht statt.

In Potsdam und Umgebung sind solche Verhaltensweisen nicht ganz so selten - man muss sich ja gegen den Westen und Ostberlin gleichermaßen behaupten. Meinen die, bei denen die Globalisierung offenbar die Provinzialisierung in den Köpfen fördert. Ost-Trotz tarnt sich hinter Selbstbewusstsein, verteidigt seine kleinen Parallel-Welten und scheut eher die kritisch reflektierende Öffentlichkeit. Für die ganze Gesellschaft ist dies problematisch, bei der Evangelischen Kirche beschleunigt es nur ihren Schrumpfungsprozess. Aber für eine wichtige Schule mit landesweiter Ausstrahlung könnte es sich verheerend auswirken.

Lutz Rathenow: 1952 in Jena geboren, Studium Germanistik/Geschichte, kurz vor dem Examen wegen nicht konformer Ansichten und Handlungen relegiert, Transportarbeiter, 1977 Übersiedlung nach Ostberlin, knapp 15.000 Seiten Stasi-Akten zeugen von Aktivitäten und Repressalien, wegen des ersten nur im Westen verlegten Buches 1980 kurzzeitig verhaftet, Lyriker, Essayist, Kinderbuchautor, Satiriker, Kolumnist, Gelegenheitsdramatiker. Ein Kritiker schrieb zu den letzten Büchern, man wisse bei Rathenow nicht, ob seine Figuren unter Spätfolgen der DDR oder den Frühschäden der Big-Brother-Mediengesellschaft litten. Zuletzt: "Fortsetzung folgt. Prosa zum Tage" (Landpresse Verlag, 2004), 2005 als Hörbuch. Zusammen mit Harald Hauswald (Fotografie) gab er 2005 den Foto-Text-Band "Ost-Berlin - Leben vor dem Mauerfall" heraus (Jaron Verlag, englisch/deutsch).