Oskar Lafontaine zur Altkanzler-Biografie

"Schröder gehörte gern zu den oberen Zehntausend"

Ein Bild wie aus dem SPD-Familienalbum: Der damalige niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder (l.) im Gespräch mit dem SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine (r.) auf dem Bundesparteitag im Dezember 1997 in Hannover
Da waren sie noch Freunde: Der damalige niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder (l.) im Gespräch mit dem SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine (r.) auf dem Bundesparteitag im Dezember 1997 in Hannover © picture-alliance / dpa
Moderation: Dieter Kassel · 21.09.2015
Heute erscheint eine umfassende Biografie über Altkanzler Gerhard Schröder. Der frühere SPD-Vorsitzende und heutige Linken-Politiker Oskar Lafontaine sieht die Publikation kritisch. Schröders Nähe zur Industrie werde darin nicht genügend beleuchtet.
Gerhard Schröder ist für Oskar Lafontaine eine Marionette der deutschen Wirtschaft. In einem Gespräch auf Deutschlandradio Kultur über eine neue Biografie, die das Leben des Altkanzlers beschreibt, sagte Lafontaine, die Agenda 2010 sei nicht auf Schröders "eigenem Mist gewachsen" und auch nicht aus der SPD gekommen, sondern das Programm der Arbeitgeberverbände BDI und BDA gewesen. Diese Politik habe dann zum größten Sozialabbau nach dem Zweiten Weltkrieg geführt.
Schröder sei einerseits sehr machtorientiert gewesen, andererseits habe er sich nicht für Programme interessiert, so der Linken-Politiker. Parteiintern sei er durch wiederholte Angriffe auf die SPD aufgestiegen – so habe er auch seine starke Position in den Medien begründet. Es sei eine Schwäche Schröders gewesen, "dass er als Aufsteiger gerne zu denen gehört hat, die (...) die oberen Zehntausend waren, also das Land, wenn man so will, mehr oder weniger auch regiert haben. Und das ist sicherlich auch (...) der große Fehler seiner Kanzlerschaft", sagte Lafontaine.

Das Gespräch im Wortlaut:
Dieter Kassel: "Gerhard Schröder. Die Biografie" heißt das Buch des Erlanger Historikers Gregor Schöllgen, das heute erscheint. Eben so klar, unmissverständlich, umfassend, aber auch manchmal langweilig ist der Inhalt: Das Leben und Schaffen des siebten Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland von 1944 bis heute. Wir wollten darüber mit jemandem reden, der einige dieser Jahrzehnte Schröder durchaus begleitet hat, und der es aus der ferne bis heute tut: Oskar Lafontaine, ehemaliger Bürgermeister von Saarbrücken, Ministerpräsident des Saarlands, SPD-Kanzlerkandidat, SPD-Vorsitzender und heute Fraktionsvorsitzender der Partei "Die Linke" im Saarländischen Landtag.
Herr Lafontaine, nach der Lektüre dieses Buches: Ist das der Gerhard Schröder, den Sie kennen oder zumindest kannten, der einem da gezeigt wird?
Oskar Lafontaine: Das kann man schon sagen, dass im Wesentlichen – und es geht ja auch darum, dass der Lebenslauf und die wichtigen Ereignisse gut beschrieben sind –, dass im Wesentlichen auch die Person Schröders in dem Buch geschildert wird.
Kassel: Was zeichnet ihn denn jetzt in Ihrer Erfahrung, aber auch nach dem Lesen des Buches wirklich aus als Politiker, als Kanzler?
Lafontaine: Na gut, das hat der Autor ja richtig beschrieben: Er hatte eine sehr schnelle Auffassungsgabe. Er hat die Fähigkeit gehabt, die Dinge auf den Punkt zu bringen – das hat er insbesondere in den Medien besonders gut gekonnt oder besser noch im Fernsehen. Das hat ihm natürlich eine hohe Popularität gebracht in seiner Zeit als Politiker, und die hat ihn dann ins Kanzleramt geführt.
Letztendlich sind unsere Differenzen in den politischen Inhalten zu suchen, also insbesondere im Sozialabbau oder dem größten Sozialabbau nach dem Kriege, wie die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" seine Agenda 2010 genannt hat. Und dieser größte Sozialabbau nach dem Kriege ist ja nicht auf seinem eigenen Mist gewachsen, sondern das war das Programm von BDI und BDA. Und das ist, wenn man so will, auch die Schwäche Schröders, dass er als Aufsteiger gerne zu denen gehört hat, die eben, möchte ich mal sagen, die oberen Zehntausend waren, also das Land, wenn man so will, mehr oder weniger auch regiert haben. Und das ist sicherlich auch, wenn man so will, der große Fehler seiner Kanzlerschaft.
Kassel: Erklärt das Buch, wie es dazu kam? Das Buch beginnt natürlich – es ist chronologisch, es ist eine Biografie – mit der Kindheit, mit den sehr, sehr einfachen Verhältnissen, in denen Gerhard Schröder in Ostwestfalen aufgewachsen ist. Ist das die Erklärung für seine – Sie haben es ja gerade beschrieben – aus Ihrer Sicht ja eindeutig gegebene Industrienähe?
"SPD-Programmatik war ja niemals Sozialabbau"
Lafontaine: Nein, das Buch erklärt das zu wenig, das erklären auch die anderen Zeithistoriker, die sich mit diesem Thema beschäftigt haben, überhaupt nicht. Es wäre aber nahe liegend, auf die Frage zu kommen: Wer hat eigentlich diese Agenda 2010 wirklich programmatisch entwickelt, wo kommt sie her?
Denn es hätte ja jedem Zeithistoriker auffallen müssen, das kommt nicht aus der SPD. Die SPD-Programmatik war ja niemals Sozialabbau oder größter Sozialabbau, mit der Vorgabe, dass dann eben viele Arbeitsplätze entstehen, und welche Arbeitsplätze entstanden sind, das sehen wir ja jetzt – also der größte Niedriglohn-Sektor nach dem Kriege, viele Werkverträge, Leiharbeit, viele prekäre Arbeitsverhältnisse, und auf der anderen Seite natürlich der große Vorteil für die Mitglieder von BDI und BDA, weil die Unternehmensgewinne ja explodiert sind, die Unternehmenssteuern gesenkt worden sind. Das ist das Versäumnis auch dieses Buches. Es wird nie gefragt, wo kommt das Ganze denn her. Ich erinnere mich dann immer an den berühmten Satz: Die herrschende Geschichtsschreibung ist immer die Geschichtsschreibung der Herrschenden. Und das ist, wenn man so will, auch Gewinn, den ich aus dem Buch gezogen habe, weil dieses Buch mehr oder weniger die Auffassung wiedergibt, die eben die herrschenden Kreise, darf ich einmal sagen, zu dieser ganzen Politik eingenommen haben.
Kassel: Das Buch zitiert auch einen Aufsatz, den Gerhard Schröder im Jahr 2000 geschrieben hat. Da sagt er: "Der Staat soll sich darauf konzentrieren, die Bedingungen für Gerechtigkeit zu schaffen und die Infrastruktur gesellschaftlicher Solidarität zu garantieren." War das Schröder selber, oder wenn ich Ihnen jetzt folge mit dem, was Sie bisher gesagt haben, hat er da sozusagen die Meinung des Bundesverbands der Arbeitgeber und der Deutschen Industrie wiedergegeben?
"Schröder hat selten selbst etwas geschrieben"
Lafontaine: Na gut, das kann ich in dem Sinne gar nicht sagen, weil Schröder ja – und das referiert der Autor ja auch – selten selbst etwas geschrieben hat. Also es kann einer seiner Referenten gewesen sein, aber letztendlich steht er ja dafür gerade, und das war eben, wenn man so will, der Neusprech der Wirtschaft.
Kassel: Aber bis zum März 1999 haben Sie ja an seiner Seite gearbeitet, zum Schluss dann, bis zu diesem Datum, als Bundesfinanzminister. Hatten Sie wirklich den Eindruck, Schröder glaubt selber nicht an seine großen Pläne?
Lafontaine: Ich wusste immer, dass er sehr machtorientiert war, also er wollte natürlich Bundeskanzler werden – es gibt ja die berühmte Szene, wie er an dem Zaun des Kanzleramtes rüttelt –, und ich wusste auf der anderen Seite immer, dass er sich fürs Programm, um es mal zurückhaltend zu formulieren, nicht interessierte. Diesen Konflikt kannte ich.
Mein Fehler war es natürlich, dass ich darauf gesetzt habe, es würde in der Zusammenarbeit mit ihm gelingen, das SPD-Programm dann auch in der Regierung durchzusetzen. Das ist ja am Anfang auch gelungen, aber als es die größten Widerstände gab, ist er dann eben zurückgewichen, insbesondere vor der Wirtschaft, und insofern bin ich auch einer Fehleinschätzung unterlegen.
Kassel: Was das Buch in meinen Augen schon schildert, ist, dass er ja, auch wenn er auf der einen Seite immer der Medienkanzler genannt wurde – auch nicht zu Unrecht, glaube ich –, dass er ja parteiintern oder auch regierungsintern nicht unbedingt der große Kommunikator gewesen ist.
SPD-Parteichef Oskar Lafontaine (l.) und der SPD-Kanzlerkandidat Gerhard Schröder posieren bei einer gemeinsamen Wahlkampfveranstaltung in Dortmund im September 1998 kurz vor der Bundestagswahl.
SPD-Parteichef Oskar Lafontaine (l.) und der SPD-Kanzlerkandidat Gerhard Schröder posieren bei einer gemeinsamen Wahlkampfveranstaltung kurz vor der Bundestagswahl 1998.© picture-alliance / dpa / dpaweb
Lafontaine: Nein, das war er nicht. Parteiintern hat er ja, wenn man so will, seinen Aufstieg dadurch gemacht, dass er die SPD immer wieder von außen angegriffen hat. Das war ja auch mein Problem, als es darum ging, sollen wir zustimmen, dass Schröder der Kanzlerkandidat wird. Denn letztendlich war es ja eine Belohnung auch für ein Verhalten, das aus der Sicht der Partei nicht unbedingt akzeptabel ist.
Aber es ist immer so, wenn man die eigene Partei angreift, hat man eine große Medienresonanz. Und insofern hat er damit, wenn man so will, seine starke Stellung in den Medien begründet.
Ich war eben dann der Auffassung, wir müssten alles tun, um nach einer Reihe von Wahlniederlagen die Bundestagswahl sicher zu gewinnen, und hab mich dann dafür entschieden, ihm den Vortritt zu lassen. Natürlich – um mal eine Stelle des Buches zu zitieren – habe ich etwas geschmunzelt, da stand: Schröder ist ein dankbarer Mensch. Also bei mir hat er sich noch nie bedankt dafür, dass er durch meine Zustimmung Kanzlerkandidat werden konnte und damit auch Bundeskanzler.
Kassel: Aber vielleicht haben Sie ihm auch keine Gelegenheit gegeben, oder?
Lafontaine: Doch, die Gelegenheit ist ja jeden Tag, er müsste ja nur ein Kärtchen schreiben.
Kassel: Gut, das stimmt, aber Sie haben ihm auch keine Karte geschrieben, nehme ich mal an, in den letzten elf Jahren.
Lafontaine: Ich habe, als ich sah, dass eben die Politik in eine ganz andere Richtung ging, und als ich es so einschätzte, dass ich das nicht mehr ändern könnte, insbesondere was den Sozialabbau und den Kriegseintritt anging, habe ich eben die Konsequenz gezogen und bin zurückgetreten, und seit dieser Zeit ist die Kommunikation eben nicht mehr da gewesen.
Kassel: Aber was doch – wo Sie das Wort Krieg erwähnt haben, Herr Lafontaine –, was doch in dem Buch ja auch noch mal beschrieben wird, was doch bleibt von ihm, und ich glaube auch, bei vielen, die keine Gerhard-Schröder-Anhänger sind, ist diese Weigerung, am Irakkrieg mit teilzuhaben. Das hat er ja auch immer wieder betont, da hat er sich auch, nachdem dessen Biografie erschienen ist, noch mal durchaus mit Bush angelegt. Ist das was, wo auch Sie zugeben müssen, das ist ein Verdienst dieses Gerhard Schröder?
"Er hatte den Mut, dem US-Präsidenten zu widersprechen"
Lafontaine: Ja, in jedem Fall. Also das ist, wenn man so will, aus meiner Sicht seine wichtigste Leistung im Kanzleramt gewesen, auch sein Versuch, mit Russland, das heißt mit Putin, ein ordentliches Verhältnis zu haben – da wünschte man sich, die jetzige Kanzlerin würde an diesen Stellen seinem Beispiel folgen und hätte zum Beispiel auch mal den Mut, dem US-Präsidenten zu widersprechen.
Das kann man bei Merkel ja nicht bemerken, aber Schröder ist nun mal jemand, der, wenn man so will, auch als Typ bockig ist, und dem konnte also kein US-Präsident kommen und sagen, so und so machen wir das. Wenn er eine andere Auffassung hatte, dann hat er zumindest später sie umgesetzt.
Mein Konflikt mit ihm war ja im Jugoslawien-Krieg, wo ich eben merkte, dass er jetzt alles über Bord werfen will, was die SPD auf ihren Parteitagen programmatisch immer wieder festgelegt hatte. Und hier ist dann eben auch interessant festzustellen, dass die Zeithistoriker immer falsch wiedergeben die entscheidende Sitzung, die wir damals mit dem Bundeskanzler Kohl hatten. Da wird gesagt, Schröder habe ihm bei dieser Sitzung – wir waren noch gar nicht in der Regierung – habe ihm den Kriegseintritt zugesagt. Das ist ein nachweislicher Fehler, der sich durch alle Dokumente dieser Zeithistoriker zieht.
Ich habe mehr oder weniger die damalige SPD-Delegation noch geleitet und habe gesagt "Okay, wir sind ja nicht in der Regierung, wir stimmen zu, dass das Drohpotenzial gegenüber Milosevic aufrechterhalten wird" – das hieß Alarmbereitschaft der Streitkräfte, aber ausdrücklich stimmen wir nicht dem Krieg zu. Und ich habe Wert darauf gelegt, dass der damalige außenpolitische Sprecher Verheugen das im Bundestag – und das kann jeder nachlesen – sehr klar herausgearbeitet und sehr klar auch festgestellt hat.
Aber an dieser Stelle muss man dann etwas resignativ feststellen: Geschichtsschreibung ist auch die Lüge, auf die man sich verständigt hat.
Kassel: Nun ist aber der Autor dieser Biografie, der Historiker Gregor Schöllgen, schon ein Wissenschaftler, das, merke ich mal an, hat für das Buch nicht an jeder Stelle unbedingt ausschließlich auch Vorteile. Er schreibt schon sehr trocken, aber er nennt natürlich auch jede Menge Quellen, und schon im Vorwort dankt er vielen Personen für ihre Gesprächsbereitschaft, und unter den Personen, für deren Gesprächsbereitschaft er sich bedankt, sind auch Sie, Oskar Lafontaine. Wenn er nun schreibt, ich danke für die Gesprächsbereitschaft, heißt das streng genommen nicht wörtlich, ich danke für das Gespräch – hat er denn mit Ihnen ausführlich geredet für dieses Buch?
Schöllgens Biografie - "Immer wieder schleichen sich Fehler ein"
Lafontaine: Er hat mit mir geredet, ein kurzes Gespräch war das, aber natürlich unendlich viele Passagen dieses Buches sind eben mit mir nicht besprochen, und so schleichen sich dann immer wieder auch Fehler ein. Also wenn ich beispielsweise lese, Kleinigkeiten nur, es ist Schröder und Lafontaine gelungen, in Verhandlungen die Senkung des Spitzensteuersatzes zu verhindern, dann ist das doppelt falsch.
Einmal haben die Grünen darauf bestanden, dass der Spitzensteuersatz bei den Koalitionsverhandlungen gesenkt worden ist, und zum Zweiten musste der damalige SPD-Vorsitzende, also ich, musste also alle Register ziehen, um zu sagen, weiter geht's nicht runter. Schröder wäre das recht gewesen, das hat er später ja auch gemacht, er hat ja den Spitzensteuersatz gesenkt, das war ja seine Philosophie. Also insofern liegt das Buch hier völlig falsch.
Oder eine andere Kleinigkeit: Ich war Kanzlerkandidat 1990 und habe natürlich Wert darauf gelegt, auch andere Ministerpräsidenten bei Auslandsreisen mitzunehmen – so hatte ich Schröder mit zu Mitterand genommen. Das liest sich dann im Buch so: Schröder fuhr zu Mitterand und nahm gnädigerweise Lafontaine mit. So könnte ich Ihnen vieles erzählen. Das heißt also: Die Zeithistoriker machen immer wieder den Fehler, ja, man kann schon sagen, die herrschende Meinung wiederzugeben und letztendlich mit denen zu sprechen, die sie in dieser herrschenden Meinung bestätigen.
Kassel: Ich finde, dass Schöllgen nicht allzu viel direkt wertet – indirekt ist eine Wertung ja immer dabei, bei dem, was man sagt, und dem, was man nicht sagt –, aber er schreibt in diesem Buch über den März 1999, als Sie alle Ihre Ämter zurückgaben, wörtlich: "Oskar Lafontaine zog mit seinem Rücktritt vom Amt des Bundesfinanzministers den überfälligen Schlussstrich unter ein ihn offensichtlich überforderndes Kapitel seines politischen Lebens." Das ist eine Wertung. Ärgert Sie das?
Finanzmärkte - "Schröder ist mir regelrecht in den Rücken gefallen"
Lafontaine: Natürlich ärgert mich das. Es wäre ja albern, das nicht zuzugeben, aber es würde mich dann noch mehr ärgern, wenn dieses Urteil zutreffen würde. Aber Sie wissen, dass es zwei große Konflikte gab: Einmal, ob wir keynesianisch operieren sollten, das heißt also gegensteuern, wenn die Konjunktur runtergeht, das haben wir am Anfang getan, das hat man sogar dann auch messen können.
Das andere, was ja noch viel wichtiger war, war die Regulierung der internationalen Finanzmärkte, wo Schröder mir regelrecht in den Rücken gefallen ist mit seiner ganzen Entourage. Und dass eben dann ein konservativer Mann wie Schöllgen diese Vorgänge so wertet, das muss ich zur Kenntnis nehmen, aber ich fühle mich dadurch deshalb nicht getroffen, weil ja mittlerweile allgemein bekannt ist, dass meine Forderung, die internationalen Finanzmärkte zu regulieren, nicht die Spinnerei eines Mannes war, der ökonomisch nicht orientiert war, sondern es war eine der wichtigsten Aufgaben, die ich mir vorgenommen hatte. Aber leider gab es keine Unterstützung, auch nicht die von Schröder, der, wenn man so will, zusammen mit Blair solche Ansätze immer wieder unterlaufen hat.
Kassel: Na ja, dass Schröder das nicht unterstützt hat, kann man verstehen, dazu braucht man auch das Buch nicht, das war nicht so seine Welt. Aber Schröder hat ja in einer SPD, in der er immer wieder auch ungeliebt war – das zeigt das Buch ja ganz deutlich – seine Reformpläne durchgesetzt, in seiner Partei, mit den Grünen, auch mit der Opposition. Warum ist er so stark gewesen und Vertreter Ihrer, gerade auch wirtschaftspolitischen, Richtung waren so schwach?
"Es gab massenhaft Parteiaustritte und verheerende Wahlergebnisse"
Lafontaine: Das hängt mit gruppendynamischen Prozessen zusammen. Wenn jemand Kanzler ist und wenn es ihm dann noch gelingt – das ist Herrn Schröder ja gelungen –, entscheidende Leute auf seine Seite zu ziehen, die vorher eben ganz anders geredet haben, wie ja viele in seiner Amtszeit eben ihre vorherigen Auffassungen aufgegeben haben – ich nenne jetzt mal Vogel oder Eppler, die in der SPD ein gewissen Ansehen hatten –, wenn es gelingt, solche Leute für sich einzuspannen, dann ist es natürlich möglich, den Widerstand in der SPD zu überwinden. Es gab ja doch starken Widerstand gegen die Agenda 2010, es gab massenhaft Austritte, und es gab insbesondere eben Wahlergebnisse, die verheerend waren. Da gab es schon einen massiven Widerstand, aber es war keiner da, der aufgestanden wäre und gesagt hätte, ich übernehme jetzt die Rolle desjenigen, der für einen Wechsel dieser Politik sorgt. Das musste dann später eben von außen geschehen – das gibt das Buch ja auch wieder –, die Gründung der Partei Die Linke hat ja dann letztendlich auch die Kanzlerschaft Schröders beendet.
Kassel: War das – und das legt das Buch ja nahe – für Sie persönlich, also zuerst die WASG und dann der Zusammenschluss mit der damaligen PDS zur Linken, war das für Sie auch ein persönlicher Rachefeldzug?
Lafontaine: Das ist die eine Seite der Zuschreibung, die ich immer wieder in den verschiedensten zeithistorischen Dokumenten sehe. Es gab natürlich eine Rivalität, und es war völlig klar, dass ich Schröder nicht mehr weiter als Bundeskanzler sehen wollte, weil ich der Auffassung war, es kann nicht angehen, dass wir gemeinsam ein Programm vereinbaren und dass dieses Programm dann ins völlige Gegenteil verkehrt wird. Ich wiederhole es noch mal mit den Worten der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", die ja unverdächtig ist: Die Agenda 2010 war der größte Sozialabbau nach dem Kriege.
Das musste beendet werden, und jetzt ist die Zeit ja längst vergangen, aber – und das ist dann das, was eben die Zeithistoriker sich mal überlegen sollten – ich kämpfe immer noch gegen die Agenda 2010, immer noch gegen Rentenkürzungen und Lohnkürzungen, und dies allein auf die Formel Rachefeldzug zu reduzieren, ist aus meiner Sicht reichlich albern.
"Wer sich Sozialdemokrat nennt, der muss auch Sozialdemokrat sein"
Es geht darum, das, was ich als Neoliberalismus bezeichne, diese politische Richtung zu überwinden, die ja dazu führt, dass die Reichen immer reicher werden, um es einfach zu formulieren, und das Volk immer weniger hat. Wenn etwa Stiglitz beispielsweise im "Handelsblatt" kürzlich geschrieben hat, in Amerika sind die Löhne von 90 Prozent der Amerikaner seit 30 Jahren nicht mehr gestiegen, dann ist das eine Analyse, die auch in weiten Teilen für Europa und Deutschland zutrifft, und Schröder hat da kräftig mitgewirkt – und das hat mit Rachefeldzug überhaupt nichts mehr zu tun.
Wer sich Sozialdemokrat nennt, der muss auch Sozialdemokrat sein, und da gibt es eine ganz einfache Formel: Im Zweifel entscheidet man für die kleinen Leute. Und gegen diese Formel hat Schröder permanent in seiner Sozialpolitik verstoßen.
Kassel: Aber können Sie sich vorstellen, dass er das möglicherweise anders sieht? Auch das schildert das Buch ja recht eindrücklich, dass er am Anfang durchaus ein Kämpfer für die Gerechtigkeit war. In Hannover auch lange, lange vor seiner Zeit als Ministerpräsident sogar eher als Linker innerhalb der SPD galt. Kann es nicht sein, dass er mit einem völlig anderen Weg, als Sie ihn je wählen würden, am Ende das gleiche Ziel verfolgt hat?
Lafontaine: Nein, man kann nicht die Besserstellung von Rentnern und Arbeitnehmern dadurch erreichen, dass man Sozialabbau betreibt und Lohndumping, das kann so nicht sein. Und offensichtlich ist er da auch nicht einsichtig, was menschlich verständlich ist. Wer gibt schon zu, dass er große Fehler gemacht hat, das geht ja jedem so. Aber wenn er beispielsweise in Davos erklärt, wir haben den größten Niedriglohnsektor in Europa geschaffen, dann ist das doch ein Satz, der einem Sozialdemokraten nicht über die Lippen gehen sollte – meine ich.
Kassel: Aber es gibt auch Menschen, die behaupten, dass die Bundesrepublik Deutschland die Wirtschafts- und Finanzkrise, die 2008 begann, besser überstanden hat als so ziemlich jeder andere europäische Staat. Das sei vielleicht das Verdienst der Agenda 2010 und damit das Verdienst eines Gerhard Schröder.
Bundeskanzler Gerhard Schröder (r.) und Finanzminister Oskar Lafontaine wenden sich ihren Unterlagen zu; Aufnahme vom Dezember 1998
Bundeskanzler Gerhard Schröder (r.) und Finanzminister Oskar Lafontaine wenden sich ihren Unterlagen zu; Aufnahme vom Dezember 1998© picture-alliance / ZB
"Der Euro ist durch die Lohndrückerei unter Druck geraten"
Lafontaine: Das ist sogar die halbe Wahrheit, denn durch die Hartz-IV-Formel, dass alle Leute einen Arbeitsplatz annehmen müssen, egal wie schlecht der bezahlt ist und egal wie sie ausgebildet sind, ist natürlich eine Rutschbahn der Löhne nach unten eingeleitet worden. Da gibt es mehrere Stellungnahmen von Verantwortlichen der Wirtschaftsverbände, die gesagt haben, wir müssen das endlich jetzt machen, wir brauchen diese, wenn man so will, Lohnflexibilität – nennt sich das ja vornehm –, ich übersetze es jetzt mal: Wir brauchen diese Lohndrückerei. Und das hat natürlich der deutschen Wirtschaft enorme Vorteile in Europa gebracht, insofern ist das die halbe Wahrheit der deutschen Wirtschaft.
Aber es hat eben viele Menschen in Armut gestürzt, und das wird in der offiziellen Berichterstattung, auch von vielen Journalistinnen und Journalisten, immer wieder übersehen. Der große Niedriglohnsektor, der große Sektor prekäre Arbeitsverhältnisse, die Rentenformel, die dazu führen wird, dass Millionen in Altersarmut zukünftig leben müssen, das kann man doch nicht preisen.
Und nun kommt die Kehrseite: Der Euro, der vielgepriesene Euro ist durch diese Lohndrückerei so unter Druck geraten, dass er auseinanderfliegen wird – ich sehe keinen Ansatz derzeit, diese Entwicklung noch aufrechtzuerhalten. Insofern war in der Agenda 2010 auch ein Programm zur Zerstörung der Einheitswährung, und das erleben wir ja jetzt in Südeuropa insbesondere. Südeuropa wird deindustrialisiert, weil auch Deutschland über das Lohndumping eben viele Marktanteile dieser Länder innerhalb Europas übernommen hat, die deutsche Wirtschaft, und außerhalb Europas, und eine solche Entwicklung kann man ja letztendlich nicht mit der Formel zusammenfassen: Deutschland geht es gut, es hat die Krise gut überwunden.
Das ist ja auch der Fehler, den Merkel immer macht. Bei Merkels Deutschland sind eben diejenigen am unteren Ende der Treppe immer ausgeblendet. Wenn sie sagen würde, der deutschen Wirtschaft geht es gut, dann ist das richtig.
Kassel: Ich hab von diesem Buch von Gregor Schöllgen Antworten oder wenigstens eine Antwort auf eine Frage erwartet, die mich so ein bisschen bewegt, muss ich sagen, mit Schröder. Ich hab die Antwort in dem Buch nicht gefunden. Vielleicht kann ich sie von Ihnen kriegen. Das, was Gerhard Schröder in den letzten zehn Jahres alles getan hat, nach seiner Zeit als Kanzler, diese enge Beziehung zu Wladimir Putin, überhaupt sein Einsetzen für Russland, ein paar andere Dinge – ich persönlich, ich glaube, da stimmen selbst Sie mir zu, halte ihn nicht für dumm, diesen Gerhard Schröder. Er wird auch gewusst haben, dass all das seinem Ansehen – mal jenseits der Agenda 2010 – seinem Ansehen als ehemaliger Kanzler noch deutlich schaden würde. Warum macht er es trotzdem?
"Demontage des Sozialstaats und ein völkerrechtswidriger Krieg"
Lafontaine: Ja, letztendlich gibt es da verschiedene Erklärungsmöglichkeiten. Also eine sanfte Erklärung wäre, er hat sich im Grunde genommen ja nie darum geschert, wenn er etwas wollte, was andere darüber dachten – letztendlich hat er sich darum nicht geschert. Und er hat auch immer sehr offen zugegeben, dass er als jemand, der aus ganz, ganz kleinen Verhältnissen kommt, dass er also auch entsprechenden Wohlstand erreichen will. Wie man damit umgeht, das ist eben dann eine andere Sache.
Sie haben Recht, er hätte natürlich sein Ansehen als Bundeskanzler besser wahren können, wenn er sich auf solche wirtschaftlichen Aktivitäten nicht eingelassen hätte, aber das ist seine Sache.
Für mich ist das Entscheidende immer wieder, nicht wie wir persönlich miteinander auskamen oder was wir persönlich miteinander noch aufzurechnen haben, für mich ist das Entscheidende: Was ist das Ergebnis seiner Politik? Und auf der einen Seite, das haben wir auch festgestellt, ist eben etwa die Verweigerung des Irakkrieges oder auch der Versuch, die Ostpolitik fortzusetzen durch eine gute Verbindung zu Russland. Das sind, wenn man so will, Aktivposten seiner Politik, wenn man sie im Nachhinein betrachtet.
Aber die Demontage des Sozialstaates und eben ein völkerrechtswidriger Krieg, das waren solche Brüche mit der SPD-Programmatik, die natürlich letztendlich dazu geführt haben, dass die SPD heute auf den 25 Prozent rumhängt. Man darf ja nie vergessen, die SPD war eine Partei, die 40 Prozent als Zielmarke hatte und die aufgrund dieser Zustimmung in der Bevölkerung mit 40 Prozent immer auch zu Recht den Anspruch erheben konnte, den Kanzler zu stellen. Es ist ja heute ein Jammer, dass ein Ministerpräsident der SPD darüber räsonniert, es hat doch gar keinen Sinn, einen Kanzlerkandidaten aufzustellen.
Kassel: Herr Lafontaine, nun stellen wir uns mal vor, an einem schönen, sonnigen Nachmittag sitzen Sie in Saarbrücken im Café, haben mal keinen Termin im Landtag, und Gerhard Schröder kommt vorbei, durch die Fußgängerzone – was dann? Würden Sie sich begrüßen?
Lafontaine: Ja, von mir aus. Ich hatte ja einmal versucht, eine Begegnung zustande zu bringen. Da gab es ein Wirtschaftstreffen, in Göttingen, glaube ich, war das, wo Wirtschaftswissenschaftler sich getroffen haben – es gab eine Gegenveranstaltung, die hatten mich eingeladen –, aber er ist mir ausgewichen. Also insofern könnte es sein, dass ich keine Gelegenheit hätte, ihn zu begrüßen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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