Oskar Lafontaine: Politik für alle - Streitschrift für eine gerechte Gesellschaft

Vorgestellt von Hans Jürgen Fink · 13.03.2005
Nein, das ist nicht die bittere Abrechnung eines bösen alten Mannes mit Gerhard Schröder und seiner Regierung, die er einst im Zorn verlassen hat. Wenn es denn eine intellektuelle Attacke ist, die Oskar Lafontaine durchaus auch mit polemischer Schärfe reitet, dann gilt sie dem gesamten Establishment der Berliner Politik, inklusive Wirtschaftsverbände und Medien, und dem Zeitgeist, dem sie frönen und von dem sie kräftig profitieren.
Der Neoliberalismus, der –aus den USA kommend- mit dem Lambsdorff-Papier 1982 in die deutsche Politik Einzug hielt, und die Doktrin der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik, die vorgibt, durch die Entlastung der Unternehmen von Steuern und Abgaben für Wachstum und Arbeitsplätze zu sorgen. Dies, so Lafontaine, sei erkennbar nicht der Fall. Das Kernprojekt ist gescheitert, stellt er fest. Vielmehr sei an die Stelle des Sozialstaates ein Marktfundamentalismus getreten, der die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen erheblich verstärkte.

Die Armen werden ärmer, die Reichen reicher, schreibt Lafontaine und zitiert den Armutsbericht der Bundesregierung ebenso wie das Statistische Bundesamt, wonach die Einkommen der Arbeitnehmer im vergangenen Jahr stagnierten, die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen aber mit einem Plus von über 10 Prozent eine Rekordmarke seit der Wiedervereinigung erreichten. Darüber hinaus habe die Ökonomisierung des Denkens die gesellschaftliche Wertorientierung im Laufe der Jahre völlig verwandelt:

"Waren wir einst das Volk der Dichter und Denker, so sind wir jetzt das Land der Kostensenker. Runter mit den Löhnen, tiefe Einschnitte ins soziale Netz, längere Arbeitszeiten, weg mit dem Kündigungsschutz, Privatisierung der Sozialversicherung, Abschaffung der Tarifverträge, Kündigung der paritätischen Finanzierung der Rente, des Arbeitslosengeldes und des Gesundheitswesens, Streichung von Feiertagen – die Parolen der buchhalterischen Dünnbrettbohrer lassen sich endlos fortsetzen."

Mehr und mehr habe der Neoliberalismus auch die Sprache geprägt, konstatiert Lafontaine, und dies sei in der Politik wirksamer als Personen und Parteitage. Ein Beispiel:

"Der Kanzler ist standhaft bei er Durchsetzung der Agenda 2010 und von Hartz IV' – dieser häufig zu lesende Satz ist ein Beweis dafür, wie die neoliberale Sprache funktioniert. Ganz anders klänge es, wenn da stünde: 'Der Kanzler ist standhaft bei der Kürzung der Rente und des Arbeitslosengeldes, bei der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, bei der Einführung der Praxisgebühr, der Verteuerung der Arzneimittelpreise und der Senkung beziehungsweise Abschaffung der Steuern auf hohe Einkommen und Vermögen."

Sprache macht Politik, so Lafontaine. Besitzstandwahrer seien in der Welt des Neoliberalismus nicht die sich selbst bereichernden Manager von Großunternehmen oder das eine Prozent der Bevölkerung, das ein Viertel des Vermögens besitze. Als solche verunglimpft würden vielmehr die Gewerkschaften, Arbeitnehmer, Arbeitslose und Rentner. Aus der Verantwortung der Stärkeren für die Schwächeren sei heute die Eigenverantwortung geworden, wonach jeder für sich selber der Nächste ist.

Die Linke, so, Lafontaine, habe die Sprache der Rechten übernommen und Abschied genommen von den traditionellen Idealen der Solidarität. Ebenso wie die Christdemokraten sich verabschiedet hätten von den zentralen Werten des Christentums, der Nächstenliebe. Ludwig Erhards Begriff von der Sozialen Marktwirtschaft werde von Schröder und Merkel übereinstimmend als Sozialkürzung und Steuersenkung für Reiche buchstabiert. Eine Politik für diese Minderheit sei heute an die Stelle der Erhardschen Botschaft: Wohlstand für alle getreten.

Lafontaine entpuppt sich geradezu als Wertkonservativer, wenn er – daran anknüpfend - seine "Politik für alle" propagiert. In der Tat belässt er es nicht bei Analyse und Kritik der bestehenden Zustände, sondern formuliert einen eigenen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Maßnahmekatalog, Maximen einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik.

Sie soll mit einem neuen Infrastrukturprogramm frisches Geld in den Wirtschaftskreislauf pumpen, ähnlich wie in den Jahren nach der Wiedervereinigung, in Größenordnungen von 20 oder 30 Milliarden EURO. Finanziert durch höhere Steuern auf die großen Einkommen, Vermögen und Erbschaften, zumal die Steuersätze in Deutschland zu den niedrigsten in Europa gehören.

Er fordert bessere Abschreibungsmöglichkeiten für investierende Unternehmen, höhere, am Produktivitätsfortschritt orientierte Löhne, - all dies, um die Binnenkonjunktur anzukurbeln. Und er plädiert für eine Überprüfung der Arbeitslosenversicherung, damit der ältere Arbeitslose wieder mehr von den Beitragssummen zurück erhält, die er eingezahlt hat.

Lafontaine hat ein anregendes, polarisierendes Buch geschrieben. Er zeigt klare Alternativen in der aktuellen finanz-, sozial- und wirtschaftspolitischen Debatte, die nicht deshalb schon achtlos beiseite gelegt werden sollten, weil der Autor sich einst aus der Regierungsverantwortung verabschiedet hat oder weil er –mit einem weiteren möglichen Bestseller- auch Geld verdient.