Orte und Ortlosigkeiten
Die ARD-Hörspieltage finden im Zwei-Jahres-Rhythmus in den Landesrundfunkanstalten statt. In diesem Jahr wurden sie in Köln abgehalten, wo auch der Online-Award verliehen wurde. Die prämierten Hörspiele befassten sich mit bestimmten Orten oder mit fehlender Verortung und Verwurzelung.
"Memeler Straße, New-York-Straße, Rupertstraße. Danziger Freiheit, Independence Place, Kolpingplatz, Adolf-Hitler-Platz, Roosevelt Square, Seminarplatz. Sudetenstraße, Ohiostraße, Weldenstraße. Kärtner Straße, Missouri-Straße, Schärstraße. Tiroler Straße, Kentuckystraße, Steichele Straße. Ostmarkstraße, Dr.-Philipp-Auerbach-Straße, Bettinger Straße."
Straßennamen aus der Siedlung Föhrenwald im Süden von München – 1937 in die Isarauen gebaut und nach wieder gewonnenen Gebieten benannt. Im Krieg als Zwangsarbeiterghetto genutzt, seit 1945 als Lager für Displaced Persons, meistens Juden.
"Dass diejenigen, die niemals vorher in Deutschland gewesen waren - und das war die überwiegende Mehrheit - auch ihre Zukunft hier nicht suchten, lag auf der Hand. Für sie bedeutete das DP-Lager eine Durchgangsstation zu einem neuen Leben ohne Täter in Amerika, in Israel, in Südamerika und Schweden, wo auch immer, nur nicht hier. Die Juden wollten, was den Nazis nicht ganz gelungen war: ein Deutschland ohne Juden.
Die Leute aus Föhrenwald durften das Lager schon verlassen. Das war unangenehm, weil man hatte sie so angeschaut: Das sind die vom KZ. Immer ist man der Fremde geblieben."
Michaela Meliáns "Föhrenwald" ist kein Hörspiel im eigentlichen Sinne, sondern der Soundtrack zu einer mobilen Installation, bei der sich Sound- und Bildspur einer rotierenden Diaprojektion überlagerten und die Geschichte eines transitorischen Ortes erzählten. Überraschenderweise ist diese Produktion der Abteilung Hörspiel und Medienkunst des Bayerischen Rundfunks mit dem Online-Award der diesjährigen ARD-Hörspieltage ausgezeichnet worden.
Knapp 3000 Hörer konnten im Internet für die 10 nominierten Stücke der ARD und des Deutschlandradios Schulnoten von 1 bis 6 vergeben. Mit einem Schnitt von 1,69 landete "Föhrenwald" knapp vor der Deutschlandradio-Produktion "Planet Porno" von Patrick Wengenroth, die es auf eine Durchschnittsnote von 1,77 brachte.
Ausschnitt "Planet Porno":
"Ja, schönen guten Abend meine Damen und Herren.
– Herzlich willkommen zu Planet Porno – die Heimatgala.
Ein wundervoller Abend mit sensationellen Gästen liegt vor uns.
- Ich bin Thomas Gottschalk.
Und ich bin Frauke Ludowig.
- Und zusammen sind wir Katja Ebstein."
Die Bewohner des Planeten Porno sind Promis von Boris Becker bis Sabrina Settlur, von Heino bis Yvonne Catterfeld, von Oliver Kahn bis Michaela Schaffrath. Alles Figuren, die sich den vermeintlichen oder tatsächlichen Selbstentblößungszwängen der Mediengesellschaft unterwerfen.
Patrick Wengenroths Theaterabende bestehen ausschließlich aus Zitaten dieser Promis, die von Schauspielern zum Vortrag gebracht werden – in 90 Prozent der Fälle gegengeschlechtlich besetzt. Angesichts des Unsinns, den sie verzapfen, wäre es ein Leichtes sie schlecht aussehen zu lassen, aber diese Art von Gratisironie ist Wengenroths Sache nicht. Und manchmal verirrt sich eine Figur in den Dschungel der Medien, die dort so gar nicht sein möchte und unfreiwillig etwas preisgibt.
Ausschnitt "Planet Porno": " Mein Name ist Angela Dorothea Merkel. Ich wurde 1954 als ältestes Kind eines Theologiestudenten in Deutschland geboren. Seit dem Jahr 2000 bin ich Parteivorsitzende der Christlich Demokratischen Union. Ich habe Helmut Kohl viel zu verdanken und dennoch finde ich das Wort Dankbarkeit in diesem Zusammenhang nicht passend, denn ich habe etwas geleistet, mir wurde nichts geschenkt. Ich möchte ihnen heute ein Buch vorstellen: "Mein Weg – Angela Merkel im Gespräch mit Hugo Müller-Vogg."
"Föhrenwald" und "Planet Porno" waren nicht die einzigen Ortsangaben, die die Hörspiele der aktuellen Saison im Titel führten. Auch Torsten Schulz' RBB-Produktion "Boxhagener Platz" und Frederike Freis "www.grosse-brunnenstraße.de" vom Saarländischen Rundfunk suggerierten eine genaue Adressierbarkeit von Personen und Handlungen.
Ausschnitt "www.grosse-brunnenstrasse.de":
"Sie wohnen jetzt, schrieb mir die Neue Heimat in der Großen Brunnenstr. 96, 3. Stock links. Sie wohnen jetzt in der Großen Brunnenstr. 96, 3. Stock links. Einer die wohnt, schreibt man, dass sie wohnt. Und was macht sie sonst noch?"
Eine Frage, die sich auch die nur mehr virtuell adressierbaren Teilnehmer der globalisierten Welt stellten.
Ausschnitt "Zappen":
"Wir schaffen alles. Wir sind die next generation. Wir haben keinen Ort, so was brauchen wir nicht Wir studieren in Berlin und leben am Bodensee. Unsere Praktika machen wir in LA. oder N.Y.. Ganz schön hip! Irgendwann - irgendwann gibt es Quantensprünge in unserer Haut. Da siehst du in den Spiegel und merkst: Mein Gott. Ein paar Teilchen sind noch nicht angekommen. Ein Teil von dir ist nicht mitgereist. Jetlag der Seele."
Neben Maja Das Guptas "Zappen", einer Produktion von Radio Bremen, übt auch Falk Richter in "Unter Eis" – schon wieder eine Ortsangabe – Kritik an der Ortlosigkeit des Neoliberalismus.
Im wahrsten Sinne sesshaft war nur einer der Protagonisten in der flexibilisierten Welt des aktuellen Hörspiels, nämlich der Weißspieler in Helmut Kraussers Schach-Novelle "Nahrungsaufnahme in der Zeitnotphase". Platz drei im Wettbewerb.
Ausschnitt "Nahrungsaufnahme…":
"Verdammt. Abstand halten bitte! Ja!? – Turnierruhe! Wir kommen in die Zeitnotphase, und ich bitte die Zuschauer, einen Mindestabstand zu den Brettern einzuhalten. Turm d2-e2, Schwarz zieht Turm d3 schlägt Bauer c3. König e1-d2 Schwarz zieht Turm c3 schlägt Turm c1."
Und noch eine Organisation beharrte auf ihrem alten Regelwerk und ihrer Sesshaftigkeit: die Berliner Akademie der Künste. Im Vorfeld der ARD-Hörspieltage führte man am letzten Wochenende neue Hörspiele von Akademiemitgliedern vor und nannte das frech "Prolog zur Woche des Hörspiel 2006".
Straßennamen aus der Siedlung Föhrenwald im Süden von München – 1937 in die Isarauen gebaut und nach wieder gewonnenen Gebieten benannt. Im Krieg als Zwangsarbeiterghetto genutzt, seit 1945 als Lager für Displaced Persons, meistens Juden.
"Dass diejenigen, die niemals vorher in Deutschland gewesen waren - und das war die überwiegende Mehrheit - auch ihre Zukunft hier nicht suchten, lag auf der Hand. Für sie bedeutete das DP-Lager eine Durchgangsstation zu einem neuen Leben ohne Täter in Amerika, in Israel, in Südamerika und Schweden, wo auch immer, nur nicht hier. Die Juden wollten, was den Nazis nicht ganz gelungen war: ein Deutschland ohne Juden.
Die Leute aus Föhrenwald durften das Lager schon verlassen. Das war unangenehm, weil man hatte sie so angeschaut: Das sind die vom KZ. Immer ist man der Fremde geblieben."
Michaela Meliáns "Föhrenwald" ist kein Hörspiel im eigentlichen Sinne, sondern der Soundtrack zu einer mobilen Installation, bei der sich Sound- und Bildspur einer rotierenden Diaprojektion überlagerten und die Geschichte eines transitorischen Ortes erzählten. Überraschenderweise ist diese Produktion der Abteilung Hörspiel und Medienkunst des Bayerischen Rundfunks mit dem Online-Award der diesjährigen ARD-Hörspieltage ausgezeichnet worden.
Knapp 3000 Hörer konnten im Internet für die 10 nominierten Stücke der ARD und des Deutschlandradios Schulnoten von 1 bis 6 vergeben. Mit einem Schnitt von 1,69 landete "Föhrenwald" knapp vor der Deutschlandradio-Produktion "Planet Porno" von Patrick Wengenroth, die es auf eine Durchschnittsnote von 1,77 brachte.
Ausschnitt "Planet Porno":
"Ja, schönen guten Abend meine Damen und Herren.
– Herzlich willkommen zu Planet Porno – die Heimatgala.
Ein wundervoller Abend mit sensationellen Gästen liegt vor uns.
- Ich bin Thomas Gottschalk.
Und ich bin Frauke Ludowig.
- Und zusammen sind wir Katja Ebstein."
Die Bewohner des Planeten Porno sind Promis von Boris Becker bis Sabrina Settlur, von Heino bis Yvonne Catterfeld, von Oliver Kahn bis Michaela Schaffrath. Alles Figuren, die sich den vermeintlichen oder tatsächlichen Selbstentblößungszwängen der Mediengesellschaft unterwerfen.
Patrick Wengenroths Theaterabende bestehen ausschließlich aus Zitaten dieser Promis, die von Schauspielern zum Vortrag gebracht werden – in 90 Prozent der Fälle gegengeschlechtlich besetzt. Angesichts des Unsinns, den sie verzapfen, wäre es ein Leichtes sie schlecht aussehen zu lassen, aber diese Art von Gratisironie ist Wengenroths Sache nicht. Und manchmal verirrt sich eine Figur in den Dschungel der Medien, die dort so gar nicht sein möchte und unfreiwillig etwas preisgibt.
Ausschnitt "Planet Porno": " Mein Name ist Angela Dorothea Merkel. Ich wurde 1954 als ältestes Kind eines Theologiestudenten in Deutschland geboren. Seit dem Jahr 2000 bin ich Parteivorsitzende der Christlich Demokratischen Union. Ich habe Helmut Kohl viel zu verdanken und dennoch finde ich das Wort Dankbarkeit in diesem Zusammenhang nicht passend, denn ich habe etwas geleistet, mir wurde nichts geschenkt. Ich möchte ihnen heute ein Buch vorstellen: "Mein Weg – Angela Merkel im Gespräch mit Hugo Müller-Vogg."
"Föhrenwald" und "Planet Porno" waren nicht die einzigen Ortsangaben, die die Hörspiele der aktuellen Saison im Titel führten. Auch Torsten Schulz' RBB-Produktion "Boxhagener Platz" und Frederike Freis "www.grosse-brunnenstraße.de" vom Saarländischen Rundfunk suggerierten eine genaue Adressierbarkeit von Personen und Handlungen.
Ausschnitt "www.grosse-brunnenstrasse.de":
"Sie wohnen jetzt, schrieb mir die Neue Heimat in der Großen Brunnenstr. 96, 3. Stock links. Sie wohnen jetzt in der Großen Brunnenstr. 96, 3. Stock links. Einer die wohnt, schreibt man, dass sie wohnt. Und was macht sie sonst noch?"
Eine Frage, die sich auch die nur mehr virtuell adressierbaren Teilnehmer der globalisierten Welt stellten.
Ausschnitt "Zappen":
"Wir schaffen alles. Wir sind die next generation. Wir haben keinen Ort, so was brauchen wir nicht Wir studieren in Berlin und leben am Bodensee. Unsere Praktika machen wir in LA. oder N.Y.. Ganz schön hip! Irgendwann - irgendwann gibt es Quantensprünge in unserer Haut. Da siehst du in den Spiegel und merkst: Mein Gott. Ein paar Teilchen sind noch nicht angekommen. Ein Teil von dir ist nicht mitgereist. Jetlag der Seele."
Neben Maja Das Guptas "Zappen", einer Produktion von Radio Bremen, übt auch Falk Richter in "Unter Eis" – schon wieder eine Ortsangabe – Kritik an der Ortlosigkeit des Neoliberalismus.
Im wahrsten Sinne sesshaft war nur einer der Protagonisten in der flexibilisierten Welt des aktuellen Hörspiels, nämlich der Weißspieler in Helmut Kraussers Schach-Novelle "Nahrungsaufnahme in der Zeitnotphase". Platz drei im Wettbewerb.
Ausschnitt "Nahrungsaufnahme…":
"Verdammt. Abstand halten bitte! Ja!? – Turnierruhe! Wir kommen in die Zeitnotphase, und ich bitte die Zuschauer, einen Mindestabstand zu den Brettern einzuhalten. Turm d2-e2, Schwarz zieht Turm d3 schlägt Bauer c3. König e1-d2 Schwarz zieht Turm c3 schlägt Turm c1."
Und noch eine Organisation beharrte auf ihrem alten Regelwerk und ihrer Sesshaftigkeit: die Berliner Akademie der Künste. Im Vorfeld der ARD-Hörspieltage führte man am letzten Wochenende neue Hörspiele von Akademiemitgliedern vor und nannte das frech "Prolog zur Woche des Hörspiel 2006".