Orientierungsversuche in der Coronakrise

Wir erleben gerade eine Zeit der Möglichkeiten

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Grafische Darstellung, wie Menschen durch Ferngläser in den Himmel schauen. Hinter ihnen dunkle Wolken, vor ihnen helle Wolken.
Wir würden gerade erleben, was wir schon lange wussten, wie die Gefahr, die durch unseren Umgang mit der Natur entstanden ist, so unser Autor. © imago images/Ikon Images/Eva Bee
Von Mathias Greffrath · 13.05.2020
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Die Coronapandemie zwingt uns, unser bisheriges Dasein zu hinterfragen. Die einen erhoffen sich jetzt mehr Solidarität, andere fordern noch mehr Neoliberalismus. Es hat sich ein Fenster der Möglichkeiten geöffnet – das sich bald wieder schließt.
Lockern, bei Zunahme der Neuinfektionen bremsen, wieder lockern, erneut bremsen – bis ein Impfstoff entwickelt ist. Wann das sein wird, kann niemand sagen, zurzeit hat die Formel "zwei Jahre" Konjunktur. Zwei Jahre Stotterbremsung – nicht mehr Eindämmung um fast jeden Preis, sondern "Leben mit der Pandemie".
Zwei Jahre Leben mit Abstand, Mundschutz, Plexiglaswänden, und der Aussicht auf eine Wirtschaftskrise, wie wir noch keine hatten? Es wächst die Sehnsucht, zurückzukehren zur Normalität. Stress und Unmut drängen auf die Straßen – und politische Desperados jedweder Couleur, esoterische Heilsbringer jedweder Sekte mischen die Stimmung auf. Dabei sind wir erst am Anfang.
Am Anfang wovon eigentlich? Hat das Coronavirus etwas Neues in die Welt gebracht? Einstweilen hat es vor allem Tendenzen deutlicher sichtbar gemacht, die auch vorher schon wirkten: die Zerstörung des gewerblichen Mittelstandes durch die Nahrungsmittelmultis und amazon; die moderne Lohnsklaverei in den Schlachthöfen, mit der die Nackensteaks auch für Niedriglöhner erschwinglich wurden; die unterausgestatteten Schulen, in denen die Kluft zwischen den Wohlhabenden und den Prekären an die nächste Generation weitergegeben wird.

Zeit der Solidarität, meint der Soziologe

Dass sich die Mikroben des Wahnsinns im Internet schneller verbreiten als früher, wussten wir schon früher, und auch dass in Asien Millionen von Frauen arbeitslos werden, wenn der Textilrausch in Europa Pause hat. Selbst die physische Distanzierung hat nicht erst die Pandemie gebracht, sondern seit Jahrzehnten läuft die technologische Entwicklung darauf hinaus, den körperlichen Kontakt der Menschen zu reduzieren, ob nun durch Telearbeit, durch Internetshopping, soziale Netzwerke oder die Mechanisierung von Dienstleistungen aller Art. All das wussten wir schon lange, oder konnten es doch wissen.
Doch einiges davon könnten wir jetzt überwinden, so hofft es jedenfalls der Soziologe Heinz Bude. Er sieht die Coronakrise als eine "weltgeschichtliche Zäsur", in der die Gesellschaften des Westens die Solidarität neu entdecken können.

Neoliberale Entscheidungen, fordert der Politiker

"Jetzt müssen wir die Fesseln sprengen" – das fordert auf der anderen Seite des Spektrums der frühere hessische Ministerpräsident Roland Koch: Kleine Impulse wie die angedachte Verschrottungsprämie würden nicht mehr reichen. Die Rückkehr auf den Wachstumspfad erfordere Entlassungen, eine Absenkung der Staatsausgaben für Renten, Bildung, Verkehrswende und andere "wiederkehrende Ausgaben", eine Deregulierung der Industrieforschung, der Banken- und Lebensmittelaufsicht und des Datenschutzes, der Genehmigungsverfahren für Automobile und Tierversuche, Steuererleichterungen für die Wirtschaft, eine Lockerung der Arbeitszeitregeln, einen Übergang zur volldigitalen Beschulung nicht nur in Seuchenzeiten.

Ein dramatischer Aufruf – mit wenig Beachtung

Budes Hoffnung oder Kochs Forderung? Aufbruch in eine solidarische Weltgesellschaft oder rasante Rückkehr in die kapitalistische Normalität? "Bitte, lasst uns nicht zur Normalität zurückkehren", so lautet der fast flehentliche Titel eines Aufrufs, der in der vergangenen Woche in Frankreich veröffentlicht wurde. Die Coronapandemie sei Teil einer "Meta-Krise", in der Erderwärmung, Umweltzerstörung, Artensterben und wachsende Ungleichheit zu einer globale "existentiellen Bedrohung" ungeheuren Ausmaßes zusammenschießen.
Eine "Rückkehr zur Normalität" verbiete sich, Regierende und Bürger müssten eine radikale Transformation der Wirtschaft in Angriff nehmen. Unterschrieben haben das ein paar hundert renommierte Künstler und Wissenschaftler, darunter ein halbes Dutzend Nobelpreisträger und Stars wie Cate Blanchett, Robert de Niro, Lars Eidinger, Juliette Binoche. In Deutschland wurde das kaum beachtet.

Wir erleben gerade, was wir schon lange wussten

Bude, Koch, die globale Allianz der Künstler und Wissenschaftler – das sind nur einige von vielen Einträgen in die Blackbox der politischen Willensbildung: Gesellschaftliche Erschütterungen lockern das Nachdenken, erweitern die Wahrnehmung, verrücken die Maßstäbe, polarisieren. Wir erleben gerade an Leib und Seele, was wir abstrakt schon lange wussten: Die Gefahr, die durch unseren Umgang mit der Natur entstanden ist, die Abhängigkeit des Alltagslebens von globalen Produktionsketten, die Unsicherheit über die eigene Zukunft in der Wirtschaftskrise.
Aber Vorsicht mit dem Wort "Wir". Gesellschaft ist kein Monolith. Wer im Homeoffice arbeiten konnte, machte vielleicht die Erfahrung, dass Arbeit selbstbestimmter, das Leben besser balanciert sein kann, auch dass Menschen systemrelevant sind, mit denen man selten redet. Wer als Monteur, als Pflegerin, als Kassierer, Lageristin oder Bote Überstunden machte, dachte abends wohl eher über das Verhältnis von Wertschätzung und Entgelt nach, wer als Freiberufler seine Reserven verbrauchte, über die kleine Sicherheit, die ein Grundeinkommen geben könnte – und alle miteinander machten die Erfahrung, wie ein Leben mit weniger Konsum sich anfühlt.

Tiefe Einschnitte fördern alternatives Denken

Aber kann aus dieser Pluralität die Kraft zu einer politischen Wende wachsen? Oder werden die postcoronalen Menschen dort weitermachen, wo sie vor acht Wochen die Gangart wechselten?
In den Sozialwissenschaften gibt es den Begriff der Pfadabhängigkeit. Er besagt: Je komplexer eine Gesellschaft ist, desto mehr neigt sie dazu, Probleme mit den eingefahrenen Methoden und in den verfestigten Strukturen zu lösen; Alternativen geraten so gar nicht mehr in den Blick, es sei denn, es kommt zu sehr tiefen Erschütterungen. In solchen Zeiten öffnen sich Fenster der Möglichkeiten, aber nicht für alle und nicht für lange Zeit.
Und dabei gilt: Prognosen über die Richtung der Entwicklung – sie gehorchen einer anderen Logik als die über das Wetter. Denn für Aussagen über die Zukunft, so hat es Bertolt Brecht notiert, gilt, dass sie Voraussagen nur gestatten mit der Einschränkung, dass "bei dieser Voraussage der Aussagende als Handelnder auftreten muss. Er muss auftreten als einer, der für das Zustandekommen des Vorausgesagten nötig ist."
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