Als Orientierungsläufer lernt man sehr schnell, dass man in Einklang mit der Natur lebt – man bewegt sich ja auch darin und will sie ja auch erhalten. Man würde auch als Orientierungsläufer keinen Lauf mitten in die Jagdzeit oder so legen. Man ist ja auch immer, gerade bei größeren Wettbewerben, in Absprache mit den Waldbesitzern, mit den Jägern und kann dann auf lokale Besonderheiten sehr gut eingehen. Also dieses Outdoor, in der Natur und vor allem im Wald sein, hat für mich eine ganz große Bedeutung, weil das so Balsam für die Seele ist. Waldbaden ist ja auch gerade total im Trend.
Die Sportart Orientierungslauf
Ohne geht's beim Orientierungslauf nicht: Karte und Kompass sind immer mit dabei. © Tilo Mahn
Mit Hirn und Geschick
23:45 Minuten
Orientierungslauf ist ein Breitensport, der kaum wahrgenommen wird. Gefragt sind eine gute Kondition und eine ausgeprägte Kombinationsgabe. Die Orientierung erfolgt dabei nicht mit Navigationsgerät oder Smartphone, sondern nur mit Karte und Kompass.
Manchmal ist der Weg bis ins Ziel spannender als das Ergebnis – zumindest beim Orientierungslauf. Heute im Stadtpark von Unterschleißheim bei München geht auch Ariel Narvaez beim sogenannten O-Cup an den Start. Er stammt aus Chile und ist schon sein Leben lang Ausdauerläufer. Seit seine Frau ihn und die Tochter zum Orientierungslauf mitnimmt, hat er eine neue Leidenschaft für sich entdeckt:
„Ich bin ein Läufer eigentlich. Aber mit Orientierung ist das ein anderes Thema. Für mich ist es schwer, die Karte und alles im Kopf zu behalten und gleichzeitig zu laufen. Ich vergesse alles und muss noch einmal auf die Karte schauen. Ich brauche noch Erfahrung eigentlich.“
Umgeben von Sträuchern und Bäumen stehen zusammen mit Ariel etwa 20 Läuferinnen und Läufer auf Steinstufen inmitten eines kleinen Amphitheaters des Stadtparks. Trotz des einsetzenden Regens strahlen die Gesichter unter über die Stirn gezogenen Mützen oder Kapuzen. Regentropfen vermischen sich mit Schweißperlen. Im Minutentakt starten Athleten, andere sind schon wieder im Ziel. Sie beugen sich nach dem Zieleinlauf kurz nach vorn, um mehr Luft zu bekommen.
Spezielle Karten für den Orientierungslauf
Mittendrin steht Bettina Deixler-Thier. Sie selbst hat Strecken wie die für den heutigen Lauf schon unzählige Male konzipiert, auf speziellen Karten verzeichnet und dann mit Helfern die Kontrollposten aufgebaut. Heute ist sie selbst Teilnehmerin. Sie startet für den OC München:
„Das Spannende ist, dadurch, dass wir nur Kontrollpunkte vorgegeben haben und keine feste Strecke, kann sich jeder selbst auswählen, wie er von A nach B kommt. Das ist von den körperlichen Fähigkeiten des Läufers abhängig. Das ist von seinen Orientierungsfähigkeiten abhängig. Das ist von seiner Tagesverfassung abhängig. Laufe ich irgendwo quer, nehme ich Umwege? Nehme ich lieber den bequemen, sicheren Weg über Leitlinien, die ich dann nutzen kann? Oder gehe ich quer durchs Gelände und nehme den Kompass zu Hilfe und laufe einfach in die Richtung, in die ich laufen soll?“
Die Gespräche der Teilnehmenden stehen vor und nach den Wettkämpfen im Vordergrund, weil alle Athletinnen und Athleten auf unterschiedlichen Wegen ins Ziel kommen. Sich ohne große technische Hilfsmittel seinen Weg durch das Gelände zu bahnen – das ist der Ansporn beim Orientierungslauf, quasi wie Entdecker in früheren Zeiten.
Blandine Ehrl ist schon seit Jahrzehnten dabei, war Deutsche Meisterin und leitet mittlerweile die Fachabteilung Orientierungslauf in Bayern:
„Die spannende Frage beim Orientierungslauf ist immer: Wie komme ich von A nach B? Also, ich schaue auf die Karte, und dann muss ich mir überlegen: Welche Route wähle ich jetzt zu meinem nächsten Zwischenziel, zu meinem nächsten Posten? Und das ist immer spannend in Gebieten, in denen ich noch nie war.“
Ein Langstreckenlauf mit Mikropausen
Nur mit Kompass und Karte ausgerüstet starten die Athleten einzeln auf Strecken quer durch ein Gelände, das sie vorher noch nie gesehen haben. Die Sportwissenschaft beschreibt den Orientierungslauf als Langstreckenlauf mit Mikropausen, also kurzen Unterbrechungen, die durch das Markieren der Posten entstehen. Insofern ähnelt der Orientierungslauf einem Intervalllauf. Der Grund für die Pausen ist offensichtlich: Es geht darum, den richtigen Weg zu finden.
Beim Militär ist der Orientierungslauf schon lange Zeit ein fester Bestandteil der Ausbildung. Seit die Sportart aus Skandinavien kommend in den 1970er-Jahren auch in Deutschland Breitensport ist, haben sich die Strukturen immer weiterentwickelt. Etwa 5000 Sportlerinnen und Sportler sind in Deutschland in Orientierungslauf-Vereinen aktiv, ein Teil davon ist im Deutschen Turner-Bund, ein anderer Teil im Deutschen Orientierungssport-Verband organisiert. Als Randsportart ohne große mediale Präsenz müssen immer wieder einzelne Personen wie Bettina Deixler-Thier dafür sorgen, dass der Orientierungslauf Unterstützung erfährt:
„Wir haben nicht die finanziellen Mittel, um größere Sachen zu machen. Es wird Geld über die Verbände geschlüsselt verteilt. Und auch mit Sponsoren ist es schwierig. Speziell hier in München ist die Konkurrenz mit anderen Sportarten, die wesentlich präsenter sind, sehr hoch. Wir haben dadurch eben auch das Problem: Es ist sehr viel ehrenamtlich und sehr viel privates Engagement dabei. Wir haben über die letzten Jahre gesehen: Wenn ein, zwei Familien in den Vereinen ausfallen, dann kann es durchaus sein, dass diese Sportart in diesem Verein, etwas überzeichnet gesagt, ausstirbt.“
In Unterschleißheim bei München stehen Kinder und Erwachsene zusammen. Ein Vater aus Schweden bespricht mit seinem Sohn die Strecke. Es wird viel gescherzt. Es herrscht ausgelassene und familiäre Stimmung. Schon der vierte Münchner O-Cup findet hier in diesem Jahr statt, meist im Umland der Stadt.
Orientierungslauf in verschiedenen Varianten
Im Winter waren einige Athleten auch auf Skiern navigieren. Denn Orientierungslauf gibt es in verschiedenen Varianten: zu Fuß, auf dem Mountainbike, mit Langlaufskiern oder mitten in der Nacht im Dunkeln nur mit Stirnlampe. Meist führen die Strecken auch durch Waldabschnitte und durch unwegsames Gelände.
Die Fähigkeit, seine Position im Gelände nur mit Karte und Kompass möglichst schnell zu bestimmen, ist bei Menschen dabei sehr unterschiedlich ausgeprägt – und sehr komplex, wie Thomas Wolbers weiß. Er beschäftigt sich am Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen der Universität Magdeburg seit Jahren mit der Fähigkeit des Menschen, sich zu orientieren:
„Wenn ich jetzt hier aus meinem Haus gehe, dann kriege ich ja zum einen ganz starken visuellen Input. Mein Sehsystem sagt mir permanent, wie die unmittelbare Umgebung aussieht. Und das sind Informationen, die ich nutzen kann, um meine Position im Raum, in meiner Umgebung zu überwachen. Gleichzeitig kriege ich aber auch ganz viel Information von meinem Körper. Wenn ich Muskelbewegungen mache: Mein Gleichgewichtssystem sagt mir, wie schnell ich gehe. Wenn ich meinen Kopf drehe zum Beispiel, sagt das auch etwas darüber aus, wie schnell ich mich bewege. Wie weit habe ich mich bewegt. Dann kriege ich noch Reize möglicherweise über das Hörsystem.“
Viele Hirnprozesse auf einmal, die optimal abgestimmt sein müssen – nicht nur beim Orientierungslauf. In einer technikaffinen Welt stehen die Athletinnen und Athleten aus wissenschaftlicher Sicht quasi als Antipol zur modernen digitalisierten Gesellschaft: Als Herausforderung zur Orientierung ohne GPS, Navigationsgerät oder Smartphone. Die Läuferinnen und Läufer trainieren elementar wichtige Fähigkeiten, wie sie Menschen seit Jahrhunderten nutzen in allen Kulturräumen.
Orientierungsläufer-Szene in Deutschland
In Deutschland hat sich inzwischen eine wachsende Orientierungsläufer-Szene etabliert. Neben regionalen Wettkämpfen und Meisterschaften in einzelnen Bundesländern starten deutsche Athletinnen und Athleten auch immer häufiger bei internationalen Wettkämpfen. Die wichtigsten sind dabei die Orientierungslauf-Weltmeisterschaften, die seit 1966 alle zwei Jahre und seit 2003 jährlich mit verschiedenen Streckenlängen und Disziplinen stattfinden.
Aber auch bei großen Events sind Massen an Zuschauern eher selten. Schon allein deswegen, weil das Publikum vor Ort quasi als Teil des Versteckspiels funktionieren muss. Kein Rascheln darf etwas verraten. Daher setzen die Organisatoren wie Bettina Deixler-Thier auch auf moderne Technik, um präsent zu sein und den Sport zu pushen:
„Was supergut funktioniert, ist GPS-Livetracking. Das heißt, wir können heutzutage dem Läufer einen GPS-Livetracker mitgeben, der live sendet. Und man kann dann auf Videowalls oder auf Online-Plattformen im Internet die Läufer on time verfolgen.“
Virtual Orienteering am Computer
Inzwischen gibt es auch Virtual Orienteering: Einzelne Gruppen können am Computer daheim digital ihre Wege finden. In Gruppen, quasi als Online-Spiel. Aber die echten Läufe finden draußen statt, egal bei welchem Wetter. Orientierungsläufer sind Wind und Regen genauso gewöhnt wie Kratzer, Schürfwunden oder im schlimmsten Fall auch ernste Verletzungen. Im unwegsamen Gelände, unter Zeitdruck sind gestauchte Knöchel oder Bänderrisse keine Seltenheit.
Auch Blandine Ehrl hatte in ihrer Karriere schon mit mehreren Verletzungen an den Sprunggelenken zu kämpfen. Draußen im Gelände unterwegs sein – das kann aber auch für die Natur selbst eine Bedrohung darstellen, wenn Wege verlassen und unwegsames oder geschütztes Gelände betreten wird.
Eine Sportart für die ganze Familie
Den meisten Teilnehmern geht es darum, sich läuferisch fit zu halten – mit dem besonderen Reiz, dabei den besten Weg dabei zu finden. Oft starten auch ehemalige Elite-Langstreckenläufer bei den Wettkämpfen. Aber auch Athletinnen und Athleten, die es etwas ruhiger angehen lassen wollen. Genauso laufen Kinder oder Senioren-Sportler oder -Sportlerinnen über die Strecke. Beim OC München ist die älteste Teilnehmerin 76 Jahre alt – ein Vorbild auch für Blandine Ehrl:
„Wir haben die Vielfalt der Gesellschaft auch bei uns im Orientierungslauf vertreten. Und das liegt daran, dass es zwar eine Leistungssportart, aber auch eine Breitensportart ist. Wenn die ganze Familie anreist mit Opa, Oma, Eltern und Kindern, dann können alle mitmachen.“
Den Anspruch, den viele Athleten an sich selbst haben, ist, sich stetig zu verbessern. Dabei ist Ausdauertraining wichtig, aber eben auch die Fähigkeit, sich auf den Punkt hin fokussieren zu können. Beim Orientierungslauf geht es auch darum, trotz Zeitdruck Ruhe zu bewahren.
Thomas Wolbers spricht aus wissenschaftlicher Sicht dabei von Einflussfaktoren:
„Ich denke, was eher ein Faktor ist, ist der Faktor Stress, also zeitlicher Stress. Dass die Akteure ja versuchen, den Parcours so schnell wie möglich zu bewältigen. Da gibt es zum Beispiel aus der Stressforschung Daten, die zeigen, dass man in Stresssituationen bei Navigation häufig falsche Entscheidungen trifft, häufig sich auf einfache Strategien zurückfallen lässt und dass häufig, wenn verschiedene, zum Teil auch widersprüchliche räumliche Informationen da sind, man Fehler macht.“
Training, um Ruhe zu bewahren
Um in Stresssituationen ruhig bleiben zu können, ist auch Mentaltraining wichtig. Bettina Deixler-Thier und Blandine Ehrl gehen häufig gemeinsam trainieren: Eine gibt Strecke und Karte vor, die andere orientiert dann beim Laufen durch das Gelände. Aber auch das Training daheim am Küchentisch vor der Karte, mit Stift in der Hand, ohne Zeitdruck, kann laut Thomas Wolbers helfen, schnell richtig zu navigieren.
„Eine Karte ist ja eine Art abstrahierte Darstellung von meiner Umgebung. Das heißt, ich muss wirklich die räumliche Beziehung zum Beispiel zwischen zwei Punkten auf der Karte dann übertragen auf das, was ich hier in meiner Umwelt sehe. Das hat auf jeden Fall auch viel mit räumlichem Vorstellungsvermögen zu tun. Und das erkennt man ja auch daran, dass es manchen Leuten einfacher fällt als anderen.“
Für Thomas Wolbers sind die Unterschiede, wie gut sich Menschen ohne Hilfsmittel orientieren können, riesig. Beim Orientierungslauf spielen die Athleten teilweise bewusst mit den Grenzen der menschlichen Möglichkeiten. Es gibt Läufe mit „reduzierten Karten“, also Karten, die keine Wege enthalten und nur aus Höhenlinien bestehen. Oder es sind nur kleine Gebiete, sogenannte Fenster, rund um die Kontrollposten auf den Karten sichtbar.
Die Organisatoren sammeln schon die ersten Kontrollposten wieder ein. Der Klappstuhl vor dem Laptop verschwindet im übrigen handlichen Gepäck. Auch viele der Athletinnen und Athleten packen ihre Sachen zusammen, sammeln ihre Rucksäcke und Stirnbänder ein. Fernsehkameras oder andere Mikrofone sieht man auf der kleinen Lichtung im Zielbereich keine.
Kaum Medienpräsenz
Blandine Ehrl kennt größeren Medienrummel nur von überregionalen Wettkämpfen, Live-Übertragungen sind selten. Als Funktionärin im Fachbereich weiß sie von den Schwierigkeiten:
„Wenn man möchte, dann kann man Orientierungslauf schon auch gut medial im TV aufbereiten. Wenn man in die Länder schaut, wo Orientierungslauf auch herkommt, nämlich nach Skandinavien: Da ist es völlig normal, dass, wenn OL-Weltmeisterschaften sind, das auch im Fernsehen übertragen wird. Es ist schon möglich. Und natürlich ist es schon auch eine Herausforderung, wenn man das tut. Dann stehen oft die Kameramänner im Wald und spähen die Läufer aus. Und die Gefahr besteht, dass ein Kameramann, wenn er dann raschelt, einem Läufer dann einen Hinweis gibt, dass er in die Richtung muss oder so. Also, es ist mit viel mehr organisatorischem Aufwand verbunden, als wenn man nur ein Fußballspiel im Stadion aufzeichnet.“
Neues entdecken durch den Orientierungslauf
Über die langen Jahre im Orientierungslauf haben Blandine Ehrl und Bettina Deixler-Thier viele Ehrenamtliche kommen und gehen sehen. Der Sport befinde sich für sie immer in einer wellenförmigen Entwicklung. Wenn sie in ihren Heimatvereinen andere Athleten treffen und mit ihnen trainieren, dann auch immer mit dem Gefühl, einen Sport weiterzutragen.
Die Vereine für den Orientierungslauf finanzieren sich über Teilnahmegebühren und Mitgliedsbeiträge. Manche Läuferinnen und Läufer haben Sponsoren. Das ist aber eher selten. Reichweite und Präsenz des Sports sind für Werbepartner häufig zu gering. Für Bettina Deixler-Thier liegt der Reiz des Sports aber auch nicht im großen Geld, sondern vielmehr in der Möglichkeit, Neues zu entdecken – und zwar auf allen Ebenen:
„Orientierungslauf ist halt auch in sehr vielen Ländern vertreten. Und das macht es auch interessant, das dann auch woanders zu machen und auch andere Gebiete und auch andere Leute zu treffen. Und die Orientierungsläufer ticken ähnlich, also alle irgendwie sehr ähnlich.“
Bettina Deixler-Thier hat im Sportunterricht in der Schule an der österreichischen Grenze ihre ersten Kontrollposten gesucht und gefunden. Inzwischen läuft sie seit über 30 Jahren mit Karte und Kompass durch verschiedene Landschaften und Länder. Und wenn es nach ihr geht, wird sie auch in Zukunft das Piepsen des gefundenen Verstecks in immer neuen Gebieten hören – und sich jedes Mal in aller Ruhe freuen.