Organismen verlieren einen Großteil ihrer Kalkskelette

Von Johannes Kaiser · 27.06.2010
Kieler Meeresforscher erkunden die Auswirkungen des Klimawandels auf die Ozeane. Um das auch praktisch erproben zu können, hat ein Forschungsteam jetzt in der Arktis in dem kleinen Forscherdorf Ny Ålesund einen großen Meeresversauerungsversuch gestartet. Mehrere europäische Forschergruppen aus Norwegen, England, den Niederlanden und Frankreich sind an dem Experiment beteiligt.
Das massive Gummiboot, ein Zodiac, nähert sich rasch den orange leuchtenden Bojen im Kongsfjord, einer riesigen Bucht im Norden Spitzbergens, auf dem 79. Breitengrad gelegen, also mitten in der Arktis. Die Bojen markieren neun im Meereswasser dümpelnde Mesokosmen, sechseckige Gestelle aus orangefarbenen hohlen Kohlefaserpfählen, in deren Mitte ein voluminöser Plastikschlauch hängt.

Er reicht 14 Meter tief hinab ins Meer und ragt knapp 2 Meter aus dem Wasser, sodass selbst größere Wellen nicht über den Rand spülen. Der Schlauch hat eine Wassersäule aus dem Meer gestochen und damit dessen gesamtes Meeresleben eingeschlossen: Viren, Bakterien, Phytoplankton, Kleinstlebewesen bis zu drei Millimeter Größe. Eine Bodenklappe verhindert, dass die Organismen aus diesem 60.000 Liter fassenden Reagenzglas fliehen können.

In diesen Anlagen findet derzeit der weltweit größte Feldversuch zur Meeresversauerung statt. In das eingeschlossene Meereswasser hat man Kohlendioxid in unterschiedlichen Mengen hineingepumpt.

So will man die Meeresversauerung simulieren, wie sie bei weiter fortschreitendem Klimawandel in den nächsten hundert Jahren zu erwarten ist, wenn sich immer mehr Kohlendioxid im Wasser löst, damit dessen pH-Wert sinkt und der Säuregrad allmählich ansteigt. Initiator des Experiments ist der Kieler Meeresforscher Ulf Riebesell vom Leibniz Institut für Meeresforschung Geomar:

"Aus Modellrechnungen wissen wir, dass die Arktis 10 bis 30 Jahre früher als die Antarktis den Bereich erreichen wird, wo das Wasser korrosiv wird für Kalk. Korrosiv heißt, dass dann der von Organismen gebildete Kalk nicht mehr stabil ist. Alles löst sich auf, geht wieder sozusagen in die Ausgangsprodukte zurück.

Die Schalen gehen dann einfach in Lösung und die Organismen sind im schlimmsten Fall sozusagen komplett nackt oder verlieren einen Großteil ihrer Kalkskelette und nehmen dadurch direkt oder indirekt Schaden. Das macht sie empfindlicher gegenüber Prädatoren, gegenüber Fressfeinden, die natürlich leichteres Spiel haben mit einer dünnen Schale."

Der Diplombiologe Jan Büdenbender hat die Folgen der Meeresversauerung bei den Flügelschnecken untersucht, einer Schnecke, die ihre Füße wie Flügel benutzt und sich so im Wasser fortbewegt.

"Wir haben schon Experimente mit denen gemacht. Hier oben letzes Jahr haben wir mit Larven gearbeitet. Wir haben schon Bilder, wo man sieht, wie die Schale wirklich korrodiert ist. Man sieht zum Beispiel Löcher in der Schale, die nur durch diese Korrosion kommen können."

Insgesamt 35 Wissenschaftler unterschiedlicher Meeresdisziplinen aus fünf europäischen Ländern beteiligen sich an den Versuchen. Sie alle bilden das von der EU geförderte Projekt Ozeanversauerung, kurz Epoca genannt.

Zu dessen Zielen gehört es auch herausfinden, wie die Meeresorganismen mit ihren Grundnahrungsmitteln, als da sind Kohlenstoff, Stickstoff und Phosphor umgehen. Bisher glaubte man, sie würden die Stoffe in immer gleichem Verhältnis aufnehmen. Doch erste Versuche in einem ruhigen Fjord bei Bergen in Norwegen hatten bereits gezeigt,

"dass mit mehr Kohlenstoff im Meer durch die Ozeanversauerung auch mehr Kohlenstoff eingebaut wird in die organische Materie, sodass wir eine Entkopplung der Kreisläufe von Kohlenstoff, Stickstoff und Phosphor bekommen mit dem Ergebnis, dass zum einen das Futter, also die Organismen, die das zunächst einbauen, die Algen, kohlenstoffreicher sind.

Das ist ein bisschen so, als wenn wir von Futtersalat zu Futterhamburgern übergehen, das heißt auch die Organismen, die dann davon zehren, die das dann fressen, bekommen eigentlich ungünstigeres Futter, Futter, das weniger nahrhaft für sie ist.

Das ist für sie sozusagen eher ungesund. Darum eine wichtige Frage diese Änderung in den Verhältnissen dieser drei Elemente zueinander, welche Konsequenzen hat das für das Nahrungsgefüge. Das schauen wir uns hier an."

Das klingt nicht nach schwerer Arbeit. Doch der Eindruck täuscht kolossal. Vier Wochen lang, solange läuft das Versauerungsexperiment in den neun Mesokosmen, fahren jeden Tag mehrere Wissenschaftler raus auf den Fjord, um an ihnen Proben zu ziehen, die dann an Land im Labor untersucht werden. Das ist harte Arbeit, denn die Forscher müssen kiloschwere Proben- und Messgeräte in den Plastikschläuchen versenken und wieder herausziehen.

Dabei balancieren sie auf den wulstigen Rändern der Boote, von Kopf bis Fuß in unförmige Überlebensanzüge eingeschlossen. Die sind Vorschrift, denn sie verhindern, dass man im eiskalten Fjordwasser erfriert, geht man unfreiwillig baden. Dennoch sind alle mit Begeisterung dabei. Sie wissen um die Einmaligkeit dieses Experiments.

"Es ist extrem Kraft zehrend. Das weiß jeder, der hierher kommt. Das ist aber auch ein Teil der Herausforderung, das ist ein Teil des Spaßes. Das schweißt die Gruppe zusammen, also man hat selten solche Gemeinschaftserlebnisse in einer Gruppe von Wissenschaftlern wie bei solchen Feldstudien, wo man zusammenkommt und über viele Wochen gemeinsam schwitzt und stöhnt und leidet, aber sich auch mindestens ebenso freut."