Organe aus der Retorte

Von Michael Engel · 10.07.2011
Um den Engpass in der Transplantationsmedizin zu entschärfen, arbeiten viele Wissenschaftler an Ersatzverfahren zur klassischen Organtransplantation. So könnten eines Tages die Organe von Tieren dem Menschen dienen. Auch mit Zelltherapie und Gewebezucht sollen die kranken Organe auf Vordermann gebracht werden.
"Xenos" heißt "der Fremde". Und als wäre bei der Organverpflanzung nicht schon genug fremdes Gewebe im Spiel, gibt es noch die Steigerung: Bei der Xenotransplantation dienen Schweine als Organspender für menschliche Patienten. Umfragen zeigen, so Professor Heiner Niemann vom Friedrich Löffler Institut in Mariensee bei Hannover, dass sich viele Menschen durchaus vorstellen können, ein Schweineherz in der Brust zu tragen:

"Wenn Sie in der normalen Bevölkerung fragen, dann gibt es so 50 zu 50. Wenn Sie aber in den Kreis der Betroffenen gehen, das heißt, Leute, denen man gesagt hat, du bist eigentlich ein Kandidat für eine Transplantation, dann ist die Zustimmung bei über 90 Prozent, was auch wiederum verständlich ist. Und aus dieser Umfrage war eigentlich keine Diskriminierung zwischen erster und zweiter Wahl festzustellen. Sondern die Leute haben gesagt: Wenn ihr ein funktionsfähiges Xenotransplantat habt, dann nehme ich das auch."

Noch vor wenigen Jahren stand die Xenotransplantation auf verlorenem Posten: Unlösbar schienen die Probleme, die durch eine Übertragung auf menschliche Patienten ausgelöst werden. Virale Infekte, heftige Abstoßungsreaktionen, entzündliche Prozesse. Das alles bekommen wir mit genetisch manipulierten Tieren in den Griff, sagt Institutsleiter Prof. Heiner Niemann. Schweine, die bei dem Wissenschaftler im Stall stehen, sind bereits mehrfach manipuliert. Vor allem die Abstoßung durch das menschliche Immunsystem gilt es genetisch auszutricksen:

"Die erste und heftigste Abstoßungsform, das ist die hyperakute Abstoßungsreaktion - die, kann man sagen, ist eigentlich im Griff. Das ist der erste Schritt, das ist die gute Nachricht. Danach kommt aber noch eine zweite Abstoßungsreaktion. Und mit der beschäftigen wir uns gerade. Und da geht es vor allen Dingen darum, dass es mehr entzündliche Formen der Abstoßung gibt. Und infolgedessen geht also momentan die Strategie dahin, auch durch zusätzliche Gene, die wir in das Schwein hineinbringen, diese nachfolgende Abstoßungsreaktion unter Kontrolle zu bringen."

Es gibt zu wenig Organspender. Viele Patienten warten jahrelang und manchmal auch vergebens auf ein geeignetes Spenderorgan. Deshalb engagieren sich nun auch Tierzüchter in der Transplantationsmedizin. In zehn Jahren schon könnten erstmals die Organe von Schweinen auf Menschen übertragen werden. Vor allem das Herz wäre geeignet. Größe, Gewicht, Pumpkraft – anatomisch gesehen würde es perfekt zum Menschen passen.

Die Lage ist prekär. Viele Patienten sterben, während sie auf ein geeignetes Spenderorgan warten. Menschen mit einem Organspendeausweis – so Transplantationsmediziner Prof. Axel Haverich von der Medizinischen Hochschule Hannover – sind in Deutschland immer noch die Ausnahme:

"Prinzipiell steht die Bevölkerung der Organspende und der Transplantation vor allen Dingen natürlich sehr positiv gegenüber. Wir wissen aber aus langjähriger Erfahrung, dass in den wenigsten Familien das Thema tatsächlich diskutiert wird. So dass in dem Moment, wo es zum Auftreten eines Hirntodes bei einem Familienmitglied kommt, eine Situation der vollständigen Überforderung bei den Angehörigen da ist."

Prof. Christopher Baum ist Forschungsdekan in der Medizinischen Hochschule Hannover und Kopf von weit mehr als hundert Wissenschaftlern, die sich mit der Behandlung defekter Organe beschäftigen. Neben der Xenotransplantation ist dies ein weiterer Weg, langfristig aus dem Dilemma des Organmangels herauszukommen:

"Das könnte zum Teil über Medikamente laufen, die den Degenerationsprozess rechtzeitig stoppen. Und es wird dann in einem weiteren Schritt zum Beispiel zelluläre Therapien geben in dem Versuch, Zellen einzubringen, die dann im Organ die Regeneration mit aufbauen. Und da könnte man sich vorstellen, dass das innerhalb der nächsten fünf Jahre schon zur klinischen Reife gelangen kann."

Das Ziel dabei: Nicht mehr lebensfähige Organe mit Hilfe von Zellen so zu unterstützen, dass eine Transplantation gar nicht mehr notwendig wird. Erste Verfahren gibt es schon. Prof. Michael Ott – Leberexperte an der Medizinischen Hochschule Hannover – ist einer der ersten Wissenschaftler weltweit, die mit Hilfe einer Zelltherapie eine Organtransplantation hinauszögern können, vielleicht sogar unnötig machen:

"Ja, wir haben uns überlegt, dass wir relativ viele Zellen geben müssen, das sind etwa alles in allem 600 bis 700 Millionen Zellen in die Leber eines erkrankten Kindes. Dazu braucht man natürlich einen Zugang zur Leber bzw. zu Gefäßen, Blutgefäßen, die zur Leber führen."

Die Leberzelltherapie wurde ursprünglich als eine Art "Brückenbehandlung" entwickelt. Das heißt: Nach fünf Monaten sollten die dann größer gewordenen Kinder eine neue Leber erhalten. Doch nun ist die Leberzelltherapie so erfolgreich, dass die Eltern entscheiden dürfen, ob die nachfolgende Lebertransplantation für das Kind überhaupt noch gewünscht ist:

Prof. Michael Ott: "Das ist jetzt eine ganz neue Option. Die Eltern haben jetzt sozusagen die Wahl, ob sie abwarten und auf das Funktionieren des Zelltransplantates setzen oder dann die Organtransplantation vornehmen lassen. Ich denke, das ist schon ein großer Fortschritt."

Noch aber sind viele Fragen offen: Reicht die Leberzelltherapie, um das Neugeborene ein für allemal zu heilen? Oder muss nicht doch eines Tages transplantiert werden? Antworten dazu sind erst in einigen Jahren möglich.

Nicht nur isolierte Zellen eignen sich als Medizin für kranke Organe. Mit LIFT – dem "Laser Induced Forward Transfer" – kann man Organe teilweise auch schon nachbauen. Beim Herzen ist das bereits gelungen. Bei diesem Verfahren wird ein Laserstrahl auf einen Glasträger fokussiert, auf dem ein Gel mit lebenden Herzmuskelzellen aufgetragen wurde. Der Laser erzeugt eine mikroskopisch kleine Dampfblase. Sie katapultiert die Herzmuskelzelle aus dem Gel heraus auf einen gegenüber liegenden Glasträger, erklärt Dr. Lothar Koch vom Laserzentrum Hannover:

"Und wenn ich jetzt den Laser und die beiden Glasplatten relativ zueinander bewege, kann ich dann ein beliebiges Muster auf dieser zweiten Glasplatte anordnen. Und durch einen schichtweisen Aufbau, also eine Schicht nach der anderen, kann ich das dann auch dreidimensional anordnen."

Im Endeffekt entstehen funktionsfähige Teilherz-Gewebe in Briefmarkengröße – 20 mal 20 Millimeter im Quadrat. Im Tierversuch, bei Ratten mit Herzinfarkt, ist das künstlich geschaffene Gewebe problemlos eingewachsen.

Dr. Lothar Koch: "Also wir haben ein paar erste Tierversuche gemacht – an Ratten und Mäusen bisher. Bei Ratten haben wir einen Infarkt induziert, indem man einfach ein Blutgefäß, das den Herzmuskel versorgt, abklemmt. Und hat dann gedruckte Zellen, also Endothelzellen und Stammzellen raufgenäht, um dann zu gucken, ob diese gedruckten Endothelzellen, die also schon wie so ein Gefäßmuster angeordnet waren, ob sich die Regeneration des Herzens verbessert. Und das ist auch tatsächlich eingetreten. Also wir konnten sehen, dass diese gedruckten Strukturen tatsächlich einen Vorteil haben, gegenüber dem, dass man die Zellen einfach so aufträgt."

Bei der Ratte fing das Gewebe sogar an mitzuschlagen – im Takt des umgebenden Herzens. Prof. Axel Haverich, Transplantationschirurg an der Medizinischen Hochschule Hannover, sieht hinterm Horizont schon das Ende der klassischen Organtransplantation:

"Wenn wir das auf den Menschen übertragen können, dann können wir praktisch alle Patienten mit einem Herzinfarkt vor einer Transplantation bewahren. Und das sind nach großen Statistiken in Deutschland und international etwa die Hälfte der Kranken, die heute nur mit einer Herztransplantation bedient werden können."

Wie viele kranke Organe eines Tages durch Zelltherapie, Patches oder stabilisierende Medikamente gerettet werden können, ohne Organverpflanzung, das lässt sich heute nicht sagen. Die Entwicklung steht erst am Anfang. Dr. Tobias Cantz, der an der Medizinischen Hochschule Hannover mit Leberzellen arbeitet, ist 39 Jahre alt. Er rechnet fest damit, dass es in den nächsten Jahren vielfältige Möglichkeiten geben wird, kranke Organe so zu unterstützen, das Transplantationen nicht mehr notwendig werden:

"Also ich gehe davon aus, dass wir kleine Organverbände generieren können und für Patienten zur Verfügung stellen können. Und ich hoffe, dass ich es erlebe, dass wir diese Verbände auch transplantieren. Ich hoffe natürlich auch, dass die Forschung schnell vorangeht und dass es vielleicht in zehn, zwanzig Jahren realisierbar ist."

Für Betroffene, die dringend ein neues Herz oder eine funktionsfähige Leber benötigen, ist das sicher keine Perspektive. Um den akuten Mangel an Organen zu beheben, denken Politiker gegenwärtig an neue, gesetzliche Regelungen. Das "Ja" zur Organspende wird auf viele Jahre hinaus notwendig sein, weil Alternativen wie die Xenotransplantation oder die Gewebezucht lange noch nicht ausgereift sind. Gewebezucht, Zelltherapie und auch tierische Organe sind gleichwohl die Newcomer der Transplantationsmedizin.
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