Orchesterzauber und Knödelorgie

Von Jörn Florian Fuchs · 04.06.2011
Alle Momente musikalischen Überwältigungstheaters sind da, trotzdem klingt jeder noch so wilde Klangrausch transparent: Das eigentliche Wagner-Ereignis findet im Graben statt. Doch leider werden die Ohren in Lyon streckenweise auch beleidigt.
Eigentlich hätte Jossi Wieler den Tristan inszenieren und Gary Lehman den Titelheld singen sollen. Doch beide sagten ab, der erstere, weil er als künftiger Opernchef in Stuttgart wohl den Kopf nicht frei hat, der andere – vermutlich – krankheitsbedingt. Als Retter in der Not sollte die katalanische Theatertruppe La Fura del baus Wagners Handlung in drei Aufzügen mit ihren einschlägigen Multimediamitteln ausstatten, doch der federführende Àlex Ollé beschränkte sich auf eine recht simple Bebilderung.

Zu Beginn agieren die Protagonisten auf einem sich langsam um die eigene Achse drehenden Rechteck, dahinter flackern Sterne, wogt das Meer. Je nach Handlungsteil bzw. Seelenzustand herrschen Ebbe oder Flut. Auch ein großer Mond ist zu sehen. In ihm "wohnen" später kurzzeitig Tristan und Isolde, sie haben allerdings nur begrenzt Platz, da überall Wendeltreppen verlaufen. Beim Schlussakt hat der nun wieder kleiner gewordene Himmelskörper ein Loch, durch das man auf- und abtritt, der ein oder andere stößt sich dabei den Kopf. Der Mond dient auch als Projektionsfläche für allerlei und allerhand: Augen, Wurzeln, Äste, Schatten oder Feuer. Nur dekorativ und allenfalls mäßig inspiriert ist das, gegen Ende kommt noch eine Portion Kitsch hinzu – wenn etwa das ersterbende Paar im grellen Lichtkegel Abschied von der irdischen Welt nimmt.

Nun braucht gerade "Tristan und Isolde" ja nicht unbedingt eine revolutionäre Regie-Handschrift, man nimmt vieles in Kauf, sofern gut musiziert wird. Tatsächlich gibt Ann Petersen bei ihrem Rollendebüt als Isolde alles, das reicht zwar noch nicht ganz für eine Spitzenleistung, aber die Höhen sitzen, die Dynamik passt und beinahe das gesamte Farbspektrum ist auch da. Christof Fischesser brilliert als König Marke, Jochen Schmeckenbecher gibt Kurwenal mit elegant geführten Linien. Stella Grigorian bleibt als Brangäne etwas blass, genauso Nabil Suliman in der Rolle des Melot.

Das eigentliche Ereignis findet jedoch im Graben statt, wo Kirill Petrenko das um etliche Streicher reduzierte Lyoner Opernorchester zu Spitzenleistungen animiert. Was noch ein wenig unscheinbar im ersten Aufzug anhebt, steigert sich bald zum schieren Ereignis. Petrenko zaubert viel an diesem Abend, schafft wunderbare Übergänge und intensivste Steigerungen, doch er vollbringt ein ganz besonderes Kunststück: Alle Momente musikalischen Überwältigungstheaters sind da, trotzdem klingt jeder noch so wilde Klangrausch transparent und wird aufs Genaueste ausbalanciert. Dafür gab’s nicht nur vom Publikum, sondern auch von den Musikern ausgiebig Applaus.

Man könnte jetzt noch lange von Isolde, König Marke und dem Orchester schwärmen, doch leider muss noch jemand erwähnt werden, den wir am liebsten vergessen würden. Ein abgelauschtes Pausengespräch bringt es wohl am besten auf den Punkt. Sie: "Also, die Isolde hat ja am Anfang nicht immer nur schön gesungen." Darauf er: "Immerhin hat sie gesungen." Dem ist kaum etwas hinzuzufügen, nur soviel: Clifton Forbis wuchtet sich mit aufgekratztem, die Ohren beleidigendem Organ durch seine Partie, man muss eine unerträgliche Knödelorgie über sich ergehen lassen, die ihresgleichen sucht – und hoffentlich lange Zeit nicht finden wird.