Ophelia im Unterholz

Von Stefan Keim |
Das Schauspielhaus Bochum beendet die Saison mit dem Festival „K 15 – Bretter, die die Welt verleugnen“. „K 15“ spielt an auf die Adresse des Theaters, die Königsallee 15. Das Programm reicht von Inszenierungen bekannter Regisseure wie Peter Sellars bis zu experimentellen Gastspielen aus England und Belgien.
13 Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren kommen auf die Bühne und setzen sich auf Stühle. Gut eine Stunde später sind die Bochumer Kammerspiele im Chaos versunken. Die Teenager haben ekstatisch getanzt, mit überdimensionalen Handschuhen geboxt, sich aufeinander geworfen und die Körper bemalt. Erwachsenwerden ist gefährlich, geil und leidenschaftlich. Die belgische Gruppe „Ontroerend Goed“ erzählt auf Englisch von der Notwendigkeit, Grenzen zu überschreiten und sich nicht dafür zu schämen.

„I will pass limits. And I will be pissed drunk. And I will not be ashamed of myself.”“

Der Titel passt zur energiegeladenen Performance: „One and for all we´re gonna tell you who we are so shut up and listen”. Frei übersetzt: „Wir sagen Euch ein für alle Mal wer wir sind, also Maul halten und zuhören”. Bochums Intendant Elmar Goerden ist durch die Welt gefahren und hat sich ungewöhnliche Aufführungen angesehen:

„"Natürlich ist dieses Festival auch eine Quintessenz von Dingen, die uns hier interessieren.“

Auch wenn das Programm auf den ersten Blick wie Kraut und Rüben aussieht, gibt es beim näheren Hinsehen viele Bezüge zum Spielplan des Schauspielhauses. Außerdem können wild wuchernde Gärten die spannendsten sein. Elmar Goerden scheint mit seinem Team vor der Abschiedsspielzeit noch einmal den Kosmos des Theaters ausschreiten zu wollen. Im Theater unter Tage, der Kellerbühne, gibt es passend dazu ein Projekt über einen grundlegenden Text abendländischer Kultur, über die „Metamorphosen“ des Ovid.

„Weil mir ein Gott die Lippen bewegt, so gehorch ich dem Gotte, wie ich es muss. Mein delphisches Wissen enthüll ich. Den Himmel will ich entriegeln, Orakel erschließen erhabener Weisheit.“

Drei junge Frauen in Ganzkörperkostümen wirken zunächst androgyn. Doch bald entpuppen sie sich als hemmungslos weiblich und erzählen die antiken Geschichten über Liebe und Verrat, Heldenmut und Tod als durchgeknallte Songrevue. Eine der drei Sängerinnen ist die Schauspielerin Marina Frenk, die neu im Bochumer Ensemble ist. Ihre Band heißt „Leik Eick“, die Vielfalt der musikalischen Stile raubt einem den Atem. Obertongesang und Bollywoodsound stehen direkt neben punkig-rockigen Rhythmen, dreistimmigem Chorgesang und Anklängen ans Kunstlied. Zwei pausenlose Stunden lang bombardieren die drei Mädels mit ihren drei Musikern das Publikum mit ganz großen Gefühlen in ironischen Brechungen.

„Nie war besser ein Mann als Deukarion, nie trug irgend ein Weib mehr Scheu als Pyrrha vor ihren Göttern. Und sie beteten an die Mächte des Bergs. Lalalalala, lalalalala…“

In der Kellerbar neben dem Theater unter Tage stehen Tische. Dort sitzen Paare, die über Kopfhörer Regieanweisungen erhalten, sich in die Augen schauen, Sätze sagen, die Tischfläche mit Kreide bemalen und Blut in ein Wasserglas tropfen lassen. „Etiquette“ heißt die „Autoteatroperformance“ des britischen Duos Rotozaza. Die Geschichte ist rätselhaft. Der Mann scheint eine Art Philosoph zu sein, der daran verzweifelt, keine Worte für seine Gedanken zu finden und sich umbringt. Die Frau trifft er zufällig, sie gibt sich als Prostituierte aus.

Rätselhaft geht es auch in einer Performance zu, die Elmar Goerden selbst inszeniert hat. „Im Wald. Nachts“ heißt sie. Die Zuschauer fahren in Bussen spät abends in einen nahen Wald. Dort erwarten sie Figuren aus Mythen, Märchen und Theaterstücken. Gespenster ziehen mit Schlitten an den Besuchern vorbei, Ophelia stapft mit Taucherbrille durchs Unterholz, ein Schauspieler beschreibt unter hohen Bäumen die Sixtinische Kapelle. Und ganz tief im Wald, in einem kleinen Teich, schwimmt ein leeres Ruderboot. Wer nah heran geht, hört aus seinem Inneren die Stimme von Tana Schanzara, der vor einem halben Jahr verstorbenen Ikone des Bochumer Schauspiels. Auf der Bühne sind Elmar Goerden lange nicht mehr so verzaubernde Bilder gelungen wie im Wald, die Performance ist seine beste Bochumer Arbeit. Das Festival scheint ihn zu beflügeln, zumal es das Schauspielhaus weitgehend aus eigener Kraft gestemmt hat. Goerden:

„Das haben wir uns – ich würd´s mal pathetisch sagen – tatsächlich über vier Jahre abgespart. Wir haben akribisch gewirtschaftet, immer mit guten, aber knappen Ausstattungsetats gearbeitet, mit dem Ziel, dass (…) man dann auch mal was machen kann, das einem hilft, über den Tellerrand zu gucken.“

Enttäuschungen gibt es auf diesem Festival auch. Henner Kallmeyer hat im großen Haus als Bochumer Eigenproduktion die legendäre Kinosatire „Sein oder Nichtsein“ von Ernst Lubitsch adaptiert. Eine Gruppe polnischer Schauspieler kämpft während der deutschen Besatzung mit Perücken, Uniformen und falschen Bärten gegen die Nazis, verkörpert durch Gestapo-Gruppenführer Erhard.

Auszug aus einer Szene: „Schulz! Wie können Sie es wagen, das so vor dem Professor zu erzählen! Hinaus! – Jawoll, Gruppenführer!“

Der zwischen Entsetzen und Komik wechselnde Film wird auf der Bühne zur mäßig witzigen Klamotte, weil Regisseur Kallmeyer keine Bilder für die Angst der Schauspieler findet, für die Tatsache, dass sie um ihr Leben spielen. Doch in den kleinen Spielstätten und im Wald bietet das Festival eine Fülle von Entdeckungen. So geht das Bochumer Schauspiel mit vielen Anregungen in die Sommerpause. Mal sehen, welche Wirkung sie entfalten, wenn ab Oktober wieder ganz normal Theater gespielt wird.

Service:
Festival „K 15 – Bretter, die die Welt verleugnen“
19.6. – 1.7.2009
Schauspielhaus Bochum