Opfertod in religiöser Tradition

Von Serdar Günes · 21.04.2011
Märtyrertum und Tod werden von uns negativ empfunden. Täglich führt uns das Fernsehen sinnlosen Tod vor Augen. Jeden Tag sterben Menschen einen gewaltsamen Tod. Durch Hunger oder Naturkatastrophen, Gewalt oder Selbstmordattentate. Es gibt also wahrlich keinen Grund, warum wir uns mit Opfer und Tod auseinandersetzen, darin etwas Positives sehen sollten. Aber ist das wirklich so?
Das Opfer kann ein Akt der Befreiung sein. Denn auch das zeigt uns das Fernsehen, jene anonymen Helden, die in einem Moment der Selbstaufgabe für den Erhalt des Lebens ihres hingeben oder zumindest riskieren: die tapferen Männer, die im atomverseuchten Kraftwerk Fukushima notwendige Reparaturen vornehmen, oder die vielen Ärzte und Entwicklungshelfer, die in Krisengebieten in ständiger Gefahr anderen Menschen Hilfe zukommen lassen.

Eine große Zahl dieser Menschen ist motiviert durch die Religion. Denn dieses Motiv gehört zur Substanz vieler Kulturen. An Ostern gedenken Christen in der ganzen Welt des Opfers Jesu. Sie erkennen die Barmherzigkeit und Wahrhaftigkeit in einem Akt der Erlösung für sie selbst. Sie beginnen zu begreifen, was es bedeutet, bereit zu sein, sich für etwas zu entscheiden und über die eigenen Grenzen hinausgehen. Daraus schöpfen viele Menschen die spirituelle Kraft für alltägliches Leben.

Obschon ich kein Christ, sondern ein Muslim bin, ist mir dieses Ostermotiv nicht fremd. Denn während heute Märtyrertum im Islam häufig als religiöser Fanatismus wahrgenommen wird, vergisst man gerne, dass es eigentlich ein Aufopfern für eine gute Sache bedeutet, die nicht unbedingt mit dem Tod enden muss, ihn aber immer vor Augen hat. In der Geschichte war das Militärische nur ein Aspekt des Märtyrertums, während die Läuterung der Seele, der uneigennützige Einsatz für die Familie und Umwelt den wahrhaften Kern dieses Gedankens ausmachen.

Dieser Grundgedanke hat im Islam verschiedene Formen des Märtyrertums und des Opfertodes hervorgebracht. Für die Schiiten ist die Schuhada, das Märtyrertum, ein wichtiger Kult, in dem das Gedenken an Husain, den Enkelsohn des Propheten Mohammed, der im Kampf fiel, eine große Rolle spielt. Ihre Trauer und Wut drücken sie einmal jährlich beim Aschura-Fest in Passionsspielen aus, indem sie sich selbst geißeln oder schlagen. Ist es ein Zufall, dass die schiitische Passion den christlichen Osterprozessionen in aller Welt zu ähneln scheint? Beide Traditionen wirken drastisch und manchmal Furcht einflößend, sind aber auch ein Fingerzeig auf etwas Allzumenschliches.

Märtyrertum und Aufopferung ist eine Haltung. Daher orientieren sich Muslime auch am Beispiel der christlichen Befreiungstheologie und entdecken im Islam ein Potenzial für Befreiung und Emanzipation, für die Beseitigung von sozialem und politischem Elend. So wie die Christen den Karfreitag nicht ohne den Ostersonntag sehen.

Als Muslim weiß ich auch, dass dies leider nicht die einzige Art ist, wie Menschen damit umgehen. Töten und Tod sind überall auf der Erde schon seit Langem gleichsam privatisiert worden. Sie wurden Selbstzweck und dabei jeder Reflexion und Menschlichkeit beraubt. Wenn sie jemals Mittel zum Zweck waren, dann ist dieser verloren gegangen.

In einem Akt der Gewalt glauben religiöse Fanatiker den Märtyrertod zu sterben, der viele Unschuldige aus dem Leben reißt. Sie glauben, so Gottes Wort umsetzen. Für mich hat diese Haltung nichts mit der Barmherzigkeit zu tun, die der Koran fordert. Sie drückt vielmehr eine Perversion der heiligen Botschaft aus, wie sie die Mehrheit der Muslime ablehnt. Ich kann keine Gemeinsamkeit mit solchen Fanatikern erkennen, die sich auch Muslime nennen, weil der Name nur die einzige Gemeinsamkeit ist.

Schon eher entdecke ich das "Gottes Wort" in dem Gedenken an den Opfertod Jesu und an die vielen Menschen heute in der Welt, die es ihm nachmachen. Dies ist wahrhaft islamischer als die tägliche Vergewaltigung der Menschenrechte durch Nationalisten und Fundamentalisten.


Serdar Günes, Islamwissenschaftler, geboren 1978 in Stuttgart, studierte Germanistik, Politikwissenschaft, Philosophie an den Universitäten Izmir und Stuttgart sowie in Tübingen Islamwissenschaft und Literatur. Seit 2007 ist er in Frankfurt wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand an der Stiftungsprofessur Islamische Religion (Institut für Studien der Kultur und Religion des Islam). Seine Forschungsschwerpunkte sind Koranexegese in der Moderne, Reformdenken im Islam, Islamophobie, Islamunterricht, Interkultureller Dialog, Islamische Seelsorge, Grenzfragen von Religion und Naturwissenschaft. Er schreibt im Blog serdargunes.wordpress.com.
Serdar Günes
Serdar Günes© privat